TE OGH 2021/9/14 11Os76/21t

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Veröffentlicht am 14.09.2021
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 14. September 2021 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner-Foregger und Mag. Fürnkranz und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Vizthum als Schriftführerin in der Strafsache gegen M* wegen des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB idF BGBl I 116/2013 und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerden und die Berufungen der Staatsanwaltschaft sowie des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt als Schöffengericht vom 23. März 2021, GZ 37 Hv 3/21d-37, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Eisenmenger, sowie der Verteidigerin Dr. Ceovic und des Angeklagten zu Recht erkannt:

Spruch

In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft wird das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, im Schuldspruchpunkt I/b, in der diesen miteinbeziehenden Subsumtionseinheit nach § 107b Abs 1 StGB und demzufolge im Strafausspruch aufgehoben und die Sache im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht Wiener Neustadt verwiesen.

Die Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten wird verworfen.

Mit ihren Berufungen werden die Staatsanwaltschaft und der Angeklagte auf die Aufhebung des Strafausspruchs verwiesen.

Dem Angeklagten fallen die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

[1]       Mit dem angefochtenen Urteil wurde M* (abweichend von der Anklage ON 25, nach der das gesamte Verhalten des Angeklagten dem Verbrechen der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs 1, Abs 3, Abs 3a Z 3, Abs 4 zweiter Fall StGB zu subsumieren gewesen wäre) des Vergehens der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs 1 StGB (I), der Vergehen der Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung nach § 205a Abs 1 StGB (II/a) und des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB idF BGBl I 2013/116 (II/b) schuldig erkannt.

[2]       Danach hat er

I) zwischen 1. Mai 2019 und 10. Juli 2020 in L* und anderen Orten gegen D* eine längere Zeit hindurch fortgesetzt Gewalt ausgeübt, indem er

a) der Genannten oftmals wiederholt Tritte und Schläge versetzte und sie an den Haaren zog, wodurch sie Hämatome, Prellungen, eine Rippenverletzung und eine Verstauchung des linken Unterarms erlitt,

b) am 18. April 2020 eine großteils gefüllte Wasser-Plastikflasche gegen sie schleuderte sowie sich am 10. Juli 2020 auf sie setzte und ihr mehrere Schläge versetzte, wodurch sie jeweils einen Bruch des linken Kleinfingers, mithin eine an sich schwere Verletzung mit einer 24 Tage dauernden Gesundheitsschädigung, erlitt,

c) ihr mit dem Bügeleisen und ihrem Mobiltelefon gegen die Stirn schlug,

d)  mit dem Stecker des Bügeleisens gegen ihren Oberschenkel schlug,

e) sie zumindest einmal vor ihrer Nachbarin an den Haaren zurück in die Wohnung zog,

f) ihr Mobiltelefon regelmäßig nach Nachrichten an Dritte oder von Dritten durchsuchte, ihr Kontaktaufnahmen mit Dritten untersagte, sie wiederholt zur Folgeleistung seiner Anweisungen unter der Androhung, ihr ansonsten „Angst in die Knochen zu jagen“ und sie zu schlagen, veranlasste;

II) zu nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkten zwischen Ende 2019 und April 2020 in L* und anderen Orten D*

a) in zumindest drei Angriffen zum vaginalen Geschlechtsverkehr, sohin dem Beischlaf, aufgefordert und diesen sodann gegen ihren Willen und nach vorangegangener Einschüchterung vorgenommen;

b) einmal nach vorangegangener Aufforderung und Weigerung von ihr mit Gewalt, indem er ihren Kopf erfasste und gegen seinen Penis drückte, zur Vornahme einer dem Beischlaf gleichzusetzenden geschlechtlichen Handlung, nämlich der Durchführung des Oralverkehrs genötigt.

Rechtliche Beurteilung

[3]       Dagegen wendet sich die aus § 281 Abs 1 Z 5, 5a, 8 und 10 StPO ergriffene Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten. Die Staatsanwaltschaft bekämpft den Schuldspruchpunkt I/b mit einer auf § 281 Abs 1 Z 10 StPO gestützten Nichtigkeitsbeschwerde, wobei sie diesbezüglich eine Verurteilung wegen Verbrechen der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs 4 StGB anstrebt.

[4]       Zur Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft:

[5]            Nach den Feststellungen zum Schuldspruch I/b schleuderte der Angeklagte am 18. April 2020 eine fast volle eineinhalb Liter Plastikwasserflasche gegen D*, wodurch diese einen Bruch des linken Kleinfingers mit einer länger als 24 Tage dauernden Gesundheitsschädigung, erlitt (US 6 iVm US 2). Am 10. Juli 2020 versetzte der Angeklagte der Frau Schläge, wodurch diese neuerlich einen Bruch des linken Kleinfingers mit einer länger als 24 Tage dauernden Gesundheitsschädigung erlitt (US 6 f). Dabei handelte der Angeklagte jeweils mit Verletzungsvorsatz, weil er jeweils eine schwere Verletzungsfolge zumindest ernstlich für möglich hielt und sich damit abfand (US 8).

[6]       Im Zuge der Hauptverhandlung erörterte der Vorsitzende, dass „die Sache mit der Plastikflasche“ nach der Verantwortung des Angeklagten auch als Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB oder als Vergehen der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 StGB beurteilt werden könnte (ON 36 S 63).

[7]       Die Staatsanwaltschaft weist in ihrer Subsumtionsrüge (Z 10) zutreffend auf die Subsidiaritätsklausel des § 107b Abs 5 StGB und darauf hin, dass die in Rede stehenden Taten nach dem Urteilssachverhalt jeweils § 84 Abs 4 StGB erfüllen, der mit strengerer Strafe bedroht ist als das Vergehen der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs 1 StGB.

[8]       Demgemäß wären die vom Schuldspruchpunkt I/b umfassten Taten richtigerweise zwei Verbrechen der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs 4 StGB zu subsumieren gewesen (Schwaighofer in WK² StGB § 107b Rz 54; Leukauf/Steininger/Tipold, StGB4 § 107b Rz 21; Winkler, SbgK § 107b Rz 170; 13 Os 71/12h).

[9]            Die isolierte Aufhebung des Schuldspruchpunktes I/b und die Zerschlagung der diesen miteinbeziehenden Subsumtionseinheit nach § 107b Abs 1 StGB erfolgte auf Basis des festgestellten Sachverhalts. Nach diesem bestimmt sich nämlich, ob eine (nach § 107b Abs 1 StGB tatbestandliche) Handlungseinheit (vgl Ratz in WK2 StGB Vor §§ 28–31 Rz 89) oder wie hier eine Mehrzahl von (rechtlich selbständigen) Einzeltaten vorliegt, die – weil sie „fortgesetzt“ (§ 107b Abs 1 StGB) oder „im Rahmen einer fortgesetzten Gewaltausübung nach Abs 3 wiederholt“ (§ 107b Abs 3a Z 3 StGB) begangen wurden – zu einer Subsumtionseinheit nach § 107b StGB zusammenzufassen sind (zu § 107b StGB als eine Subsumtionseinheit anordnende Bestimmung siehe Ratz in WK2 StGB Vor §§ 28–31 Rz 82; 13 Os 14/18k, 13 Os 138/18w, 11 Os 125/19w, 11 Os 12/21f; vgl auch schon 12 Os 72/14a = RIS-Justiz RS0129716, die § 107b StGB allerdings zugleich als „Dauerdelikt mit tatbestandlicher Handlungseinheit“ bezeichnet).

[10]     Eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in der Sache selbst (§ 288 Abs 2 Z 3 StPO) konnte wegen Unterbleibens eines (hier wegen § 107b Abs 5 StGB bedeutsamen) auf § 84 Abs 4 StGB bezogenen Hinweises gemäß § 262 StPO in der Hauptverhandlung (Schwaighofer in WK² StGB § 107b Rz 61) nicht ergehen, weil die Einräumung der Gelegenheit einer umfassenden prozessualen Reaktion im Verfahren über eine Nichtigkeitsbeschwerde hier nicht möglich ist (RIS-Justiz RS0113755 [T12]; Lewisch, WK-StPO § 262 Rz 102; vgl auch Ratz, WK-StPO § 281 Rz 542 ff, 546).

[11]     Im zweiten Rechtsgang wird die zerschlagene Subsumtionseinheit nach § 107b Abs 1 StGB neu zu bilden sein (erneut Schwaighofer in WK² StGB § 107b Rz 61; Ratz, WK-StPO § 289 Rz 10; RIS-Justiz RS0116734).

[12]     Zur Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten:

[13]     Vorauszuschicken ist, dass Tatsachenfeststellungen nur insoweit mit Mängelrüge (Z 5) und Tatsachenrüge (Z 5a) anfechtbar sind, als sie die Frage der rechtlichen Kategorie einer oder mehrerer strafbarer Handlungen beantworten und solcherart im Sinn der Z 5 entscheidend sind (RIS-Justiz RS0117499).

[14]           Zur Behauptung (Z 5), das Tatopfer sei nicht über eine Beurteilung der angeklagten Taten teilweise in Richtung § 205a Abs 1 StGB (II/a) bzw § 201 Abs 1 StGB idF BGBl I 2013/116 (II/b) belehrt worden, genügt der Hinweis, dass eine Information von zu Angaben über Tatsächliches berufenen Zeugen über einen (geänderten) rechtlichen Gesichtspunkt (§ 262 StPO) in der Prozessordnung nicht vorgesehen ist.

[15]           Soweit die Rüge (Z 5 vierter Fall) eine Auseinandersetzung mit körperlichen Unterschieden des Angeklagten „schmächtig“ und des Opfers „kräftig“ vermisst, spricht sie keine entscheidende Tatsache an.

[16]     Mit Blick auf das Gebot zu bestimmter, aber gedrängter Darstellung der Entscheidungsgründe (§ 270 Abs 2 Z 5 StPO) war das Schöffengericht nicht verhalten, sämtliche Details der von der Rüge ins Treffen geführten Angaben der D* zu erörtern (RIS-Justiz RS0106295, RS0106642, RS0099599). Im Übrigen haben sich die Tatrichter bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit der belastenden Angaben des Opfers (RIS-Justiz RS0119422, RS0106588) ausführlich mit teilweise abweichenden Schilderungen der Genannten auseinandergesetzt (US 9 ff).

[17]     Die Tatsachenrüge (Z 5a) vermag mit erneuten Einwänden von Widersprüchen in den Angaben der Frau und angeblich unterschiedlicher körperlicher Konstitution von Opfer und Täter keine erheblichen Bedenken gegen die Richtigkeit des Ausspruchs über entscheidende Tatsachen zu erwecken (RIS-Justiz RS0118780, RS0119583).

[18]           Insgesamt bekämpfen Mängel- und Tatsachenrüge bloß die Beweiswürdigung nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren gesetzlich nicht vorgesehenen Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld (RIS-Justiz RS0119370, RS0099455).

[19]           Zu den Schuldspruchpunkten II/a und /b moniert die Rüge (Z 8), es habe „zu keinem Zeitpunkt eine Belehrung nach § 262 StPO über den geänderten rechtlichen Gesichtspunkt nach § 201 Abs 1 StGB sowie nach § 205a Abs 1 StGB stattgefunden“ und zu keinem Zeitpunkt habe „die StA ihre Anklage ausdrücklich auf § 201 Abs 1 StGB oder § 205a StGB gestützt“.

[20]           Demgegenüber erörterte der Vorsitzende in der Hauptverhandlung, bei einer Verurteilung (bloß) nach § 107b Abs 1 StGB unter Weglassung der Qualifikationen wären „konkurrierend dazu die Vergehen der Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung nach § 205a Abs 1 StGB und das Verbrechen der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB als Lebenssachverhalt erfasst und wären so zu subsumieren“ (ON 36 S 61 f). Dazu wurde dem Angeklagten Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben (ON 36 S 62 f).

[21]     Aufgrund dieses expliziten und konkreten Hinweises durch das erkennende Gericht (vgl Lewisch, WK-StPO § 262 Rz 73 ff, 94, 96 mwN; Schwaighofer in WK² StGB § 107b Rz 61) ist die Behauptung einer Verletzung des § 262 StPO völlig unverständlich.

[22]           Inwiefern es Nichtigkeit aus Z 8 begründen sollte, dass die Staatsanwaltschaft „lediglich“ ein Schöffengericht, nicht jedoch ein gemäß § 32 Abs 1a StPO „bestelltes“ beantragte, und der Angeklagte und seine Verteidigerin bei der Hauptverhandlung erfuhren, dass ohne Antrag (vgl § 32 Abs 1b StPO) ein nach § 32 Abs 1a StPO „bestellter Schöffensenat urteilen würde“, legt die Rüge nicht nachvollziehbar dar (zur Gerichtsbesetzung und dem Erfordernis einer Zuweisung von Verfahren wegen strafbarer Handlungen nach § 107b Abs 3a Z 3 StGB durch die Geschäftsverteilung eines Landesgerichts – wie hier – an dieselbe Gerichtsabteilung, der die Verfahren wegen strafbarer Handlungen gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung [§§ 201 ff StGB] zugewiesen werden vgl im Übrigen 11 Os 125/19w).

[23]     Die zum Schuldspruchpunkt I eine Verurteilung „bloß wegen § 84 Abs [1] StGB und § 107 Abs 1 StGB“ anstrebende Subsumtionsrüge (Z 10) behauptet unter Bezugnahme auf RIS-Justiz RS0127377, das Erstgericht habe die erforderliche Gesamtbetrachtung der Faktoren Dauer, Dichte und Intensität der Gewaltausübung nicht angestellt und es würden Feststellungen fehlen, „warum es jeweils zu den 'Verletzungen' kam und dass es Anhaltspunkte dafür gab, dass […] alle körperlichen Beeinträchtigungen D* im Zuge von einvernehmlichem und hartem Sex entstanden sind“.

[24]           Solcherart verfehlt die Rüge die gesetzmäßige Ausführung des materiell-rechtlichen Nichtigkeitsgrundes (RIS-Justiz RS0099810, RS0099724, RS0116565), weil sie sich nicht am gesamten, die länger andauernde fortgesetzte Ausübung von Gewalt im Sinn des § 107b Abs 2 StGB (Schwaighofer in WK² StGB § 107b Rz 23 ff; Leukauf/Steininger/Tipold, StGB4 § 107b Rz 3 ff; RIS-Justiz RS0132318) umfassenden Urteilssachverhalt orientiert (US 4 ff, 24).

[25]           Letztlich erschöpfen sich auch die aus Z 10 erstatteten Beweiswerterwägungen in einem hier unzulässigen Angriff auf die tatrichterliche Beweiswürdigung.

[26]     Die Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten war daher – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur, jedoch entgegen der dazu erstatteten Äußerung der Verteidigung – zu verwerfen.

[27]     Mit ihren Berufungen waren die Staatsanwaltschaft und der Angeklagte auf die Kassation des Strafausspruchs zu verweisen.

[28]     Die Kostenentscheidung beruht auf § 390a Abs 1 StPO.

Textnummer

E132700

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:E132700

Im RIS seit

28.09.2021

Zuletzt aktualisiert am

09.02.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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