TE OGH 2020/8/31 15Os77/20t

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Veröffentlicht am 31.08.2020
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 31. August 2020 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel-Kwapinski, Mag. Fürnkranz und Dr. Mann in der Strafsache gegen Z***** S***** wegen Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten sowie die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Wels als Schöffengericht vom 6. März 2020, GZ 4 Hv 88/19g-49, nach Anhörung der Generalprokuratur gemäß § 62 Abs 1 zweiter Satz OGH-Geo 2019 den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung der Staatsanwaltschaft werden zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufung des Angeklagten werden die Akten dem Oberlandesgericht Linz zugeleitet.

Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde Z***** S***** der Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB schuldig erkannt.

Danach hat er ab zumindest Ende 2016 bis Ende Juli 2019 in E***** an dem am ***** geborenen, sohin unmündigen H***** T***** in zumindest 50 Angriffen außer dem Fall des § 206 StGB geschlechtliche Handlungen vorgenommen, indem er ihm die Hose und Unterhose hinunterzog und seinen entblößten erigierten Penis knapp unterhalb des Gesäßes zwischen die nackten Beine des Opfers steckte und sich teils bis zum Samenerguss an ihm rieb.

Rechtliche Beurteilung

Die dagegen aus § 281 Abs 1 Z 3, 4, 5 und 5a StPO ergriffene Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten ist nicht im Recht.

Die Verfahrensrüge (Z 3) behauptet eine Verletzung des § 252 StPO, weil der Zeuge R***** T***** anlässlich seiner Vernehmung in der Hauptverhandlung auf seine Angaben vor der Polizei verwiesen habe, in denen er sich wiederum auf in einem Akt des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl enthaltene Angaben berufen habe, wobei letzterer vom Erstgericht nicht beigeschafft worden sei. Damit spricht sie weder das Verlesungsverbot nach § 252 Abs 1 StPO noch das Umgehungsverbot nach § 252 Abs 4 StPO oder sonst die Verletzung oder Missachtung einer der in § 281 Abs 1 Z 3 StPO taxativ aufgezählten Bestimmungen an, deren Beobachtung das Gesetz ausdrücklich bei sonstiger Nichtigkeit vorschreibt (RIS-Justiz RS0099128, RS0099118). Im Übrigen liegt ein nichtigkeitsbegründendes Unmittelbarkeitssurrogat iSd § 252 Abs 1 StPO nicht vor, wenn sich ein Zeuge bei seiner Vernehmung in der Hauptverhandlung auf seine frühere Aussage beruft oder diese – ohne dass ein Fall der Abweichung nach § 252 Abs 1 Z 2 StPO vorliegt – bloß ergänzend verlesen wird (RIS-Justiz RS0110150 [T3]; Kirchbacher, WK-StPO § 252 Rz 31), und hat der Zeuge lediglich hinsichtlich seiner Flucht aus dem Iran auf den ihn betreffenden Akt beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl verwiesen (ON 8 S 19).

Entgegen der weiteren Rüge (Z 4) wurden durch die Abweisung der in der Hauptverhandlung gestellten Anträge des Angeklagten (ON 41 S 22 ff und ON 48 S 2 ff) dessen Verteidigungsrechte nicht verletzt.

Die beantragte Einholung eines Sachverständigengutachtens „aus dem Fachbereich der Medizin, Psychologie und Sozialpädagogik“ zum Beweis, dass der Angeklagte (ersichtlich gemeint:) aufgrund des vom Opfer vermittelten Eindrucks davon ausgegangen ist oder ausgehen konnte, dass dieses 14 Jahre oder älter ist, unterblieb zu Recht. Denn Sachverständige sind im Hauptverfahren nur beizuziehen, wenn die Erkenntnisrichter nicht über die erforderlichen Fachkenntnisse für die Beurteilung einer Tatfrage verfügen (RIS-Justiz RS0097283). Die Beantwortung der Frage, ob die Unmündigkeit des Opfers vom Vorsatz des Angeklagten umfasst war, ist hingegen – als Ergebnis der Prüfung der Glaubwürdigkeit und Beweiskraft der im Verfahren vorgeführten Beweismittel (gegenständlich insbesondere des persönlichen Eindrucks vom Angeklagten und von den Zeugen) – ein Akt freier Beweiswürdigung, der ausschließlich dem Schöffengericht zukommt (§ 258 StPO).

Die Vernehmung der Zeugin Mag. E***** H***** zum Beweis, „wie sich der Angeklagte nach der Verhaftung verantwortet hat“, über „sein 'Outen' im Zusammenhang mit einem Erstgespräch“ mit der genannten Zeugin sowie wann er aus dem Flüchtlingsheim ausgezogen ist, wurde zutreffend abgelehnt, weil dem Antrag (schon) nicht zu entnehmen war, dass das Beweisthema eine für die Schuldfrage oder die Subsumtion erhebliche Tatsache betrifft (RIS-Justiz RS0118444, RS0118319). Das Gleiche gilt im Übrigen für die Frage der sexuellen Neigung des Angeklagten (RIS-Justiz RS0124721).

Aus dem selben Grund war auch der Antrag auf Vernehmung des Zeugen M***** L***** zum Beweis, wie sich „für das Umfeld“ in den Jahren 2018 und 2019 das Sozialverhalten des Opfers dargestellt hat und wie dieses „von seinem Umfeld wahrgenommen worden ist“, abzuweisen. Da Gegenstand von Zeugenaussagen nur sinnliche Wahrnehmungen von Tatsachen und nicht Meinungen, Einschätzungen oder ähnliche intellektuelle Vorgänge sind (RIS-Justiz RS0097540, RS0097573), unterblieb die Befragung des Zeugen auch zum Beweis dafür, dass der Angeklagte das Alter des Opfers nicht kannte und letzteres in den Jahren 2018 und 2019 den Eindruck einer mündigen Person erweckte, zu Recht.

Die Identität, Herkunft und Abstammung des Opfers sind keine für die Schuld- oder die Subsumtionsfrage erheblichen Tatsachen, weshalb auch das Begehren auf Beischaffung der H***** T***** und R***** T***** betreffenden Akten des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl zur Klärung dieser Fragen zutreffend abgewiesen wurde (RIS-Justiz RS0116503). Dass in den genannten Akten das tatsächliche Geburtsdatum des Opfers ersichtlich wäre, wurde im Antrag im Übrigen nicht einmal behauptet, weshalb er auf eine bloße Erkundungsbeweisführung gerichtet war (RIS-Justiz RS0118444).

Mit der Behauptung, die Abweisung der Beweisanträge sei Ausdruck einer vorgreifenden Beweiswürdigung, welche auch durch die Besetzung des Schöffengerichts mit zwei Berufsrichtern trotz der auf § 207 Abs 1 StGB gestützten Anklage zum Ausdruck komme, wird ein Nichtigkeitsgrund nicht zur Darstellung gebracht (vgl zur „Überbesetzung“ des Schöffengerichts im Übrigen RIS-Justiz RS0125534 [T1]; Danek/Mann, WK-StPO § 221 Rz 27/2).

Der Begründungsmangel der

Unvollständigkeit (Z 5 zweiter Fall) liegt nur vor, wenn das Gericht bei der für die Feststellung entscheidender Tatsachen angestellten Beweiswürdigung (§ 258 Abs 2 StPO) erhebliche (vgl dazu RIS-Justiz RS0116877), in der Hauptverhandlung vorgekommene (§ 258 Abs 1 StPO) Verfahrensergebnisse unberücksichtigt ließ (RIS-Justiz RS0118316). Da die Aussagen der Zeugen R***** T***** und M***** To*****, keine Angaben zum Geburtsjahr des Opfers machen zu können, nach den Kriterien der Logik und Empirie nicht geeignet sind, die Feststellungen zum Alter des Opfers zu beeinflussen, waren sie – der Mängelrüge zuwider – nicht erörterungsbedürftig.

Mit der Behauptung, das Schöffengericht habe den Zeugen H***** T***** „lediglich hinsichtlich jener Punkte, die den Angeklagten entlasten würden“, als unglaubwürdig, im Übrigen jedoch als besonders glaubwürdig befunden“, wird ein behaupteter Widerspruch in den Feststellungen (Z 5 dritter Fall) nicht aufgezeigt, sondern die Glaubwürdigkeit des Opfers nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren nicht vorgesehenen Schuldberufung in Frage gestellt (vgl RIS-Justiz RS0098372).

Ein nach § 281 Abs 1 Z 5 StPO geltend gemachter Begründungsmangel muss den Ausspruch von für die rechtliche Beurteilung der Tat entscheidenden (also für die Schuldfrage und die rechtliche Unterstellung der Tat maßgebenden) Tatsachen betreffen (RIS-Justiz RS0106268, RS0117499). Haben die Tatrichter eine gleichartige Verbrechensmenge nur pauschal individualisiert (vgl dazu RIS-Justiz RS0119552), wird keine entscheidende Tatsache angesprochen, wenn der Beschwerdeführer die Täterschaft hinsichtlich einzelner Taten, die Tatzeiten einzelner Angriffe, die Häufigkeit der Taten oder (sofern Verjährung oder das Überschreiten des Schutzalters nicht in Rede stehen) den genauen Zeitraum derselben in Frage stellt (vgl RIS-Justiz RS0116736; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 33).

Nach den getroffenen Feststellungen (US 3 f) ist das Opfer am ***** geboren und ereignete sich die erste Tat „zu einem nicht mehr näher feststellbaren Zeitpunkt Ende des Jahres 2016, jedenfalls jedoch vor dem 15. 12. 2016, als der Angeklagte noch in der Asylunterkunft 'Le*****' in E***** wohnte“ und kam es „im Zeitraum ab 15. 12. 2016 bis Ende Juli 2019 (…) zu zumindest 50 derartiger Übergriffe“.

Indem die Beschwerde (Z 5 zweiter Fall) Angaben des Zeugen H***** T*****, wonach der erste Vorfall im Frühjahr 2017 erfolgte, als übergangen reklamiert, spricht sie mit Blick auf die erfolglos bekämpften Feststellungen zum Alter des Opfers keine entscheidenden Tatsachen an.

Warum die Feststellungen zum Tatzeitraum im Übrigen undeutlich (Z 5 erster Fall) sein sollen (vgl dazu RIS-Justiz RS0117995; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 419), bleibt unklar.

Mit der Behauptung, die Feststellungen, wonach H***** T***** am ***** geboren wurde und den Angeklagten im Jahr 2016 kennengelernt hat (US 3), würden im Widerspruch zu der in der Beweiswürdigung genannten Aussage des Zeugen R***** T***** stehen, dieser habe dem Angeklagten erzählt, dass H***** T***** in die zweite Klasse „Grundschule“ komme (US 7), wird ein Widerspruch im Sinn der Z 5 dritter Fall nicht aufgezeigt. Die zuletzt genannte (bloße) Wiedergabe einer Zeugenaussage bezieht sich nicht auf die Feststellungen zum Alter des Opfers, sondern auf jene zum die Unmündigkeit des Opfers umfassenden Vorsatz des Angeklagten, wobei im Übrigen beide Aussagen nach den Kriterien der Logik oder der Empirie nebeneinander bestehen können (RIS-Justiz RS0117402, RS0119089). Ob das Opfer im Herbst 2016 bereits in der dritten Klasse Volksschule war, betrifft keine entscheidende Tatsache.

Mit dem Hinweis auf Passagen des psychiatrischen Gutachtens, wonach der Angeklagte keine pädophilen Neigungen habe, sexuell unerfahren und an Männern interessiert sei, ein ausgeprägtes Bildungsdefizit aufweise und eine geringe intellektuelle Begabung habe, gelingt es der Tatsachenrüge (Z 5a) nicht, erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit der Feststellungen zu entscheidenden Tatsachen zu wecken (RIS-Justiz RS0118780).

Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO), woraus die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufung des Angeklagten folgt (§ 285i StPO).

In der gegenständlichen Haftsache war die Berufung der Staatsanwaltschaft gemäß § 296 Abs 2 iVm § 294 Abs 4 StPO zurückzuweisen (RIS-Justiz RS0100042). Denn bei der Anmeldung des Rechtsmittels (unmittelbar nach Urteilsverkündung; ON 48 S 10) erfolgte keine Festlegung über die Richtung der Sanktionsanfechtung (zu Gunsten oder zum Nachteil des Angeklagten). Zufolge Zustellung des Akts samt Urteilsausfertigung am 29. April 2020 (ON 1 S 31) erfolgte die am 28. Mai 2020 (ON 1 S 32 und ON 55) eingebrachte, eine Erhöhung der Freiheitsstrafe anstrebende Berufungsausführung aber verspätet (RIS-Justiz RS0100560; Ratz, WK-StPO § 295 Rz 7).

Der Kostenausspruch beruht auf § 390a Abs 1 StPO.

Textnummer

E129106

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:0150OS00077.20T.0831.000

Im RIS seit

18.09.2020

Zuletzt aktualisiert am

18.09.2020
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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