TE OGH 2011/3/29 2Ob230/10b

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Veröffentlicht am 29.03.2011
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Veith, Dr. Schwarzenbacher, Dr. Nowotny und Mag. Dr. Wurdinger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei E***** B*****, vertreten durch Mag. Norbert Marschall, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei E***** G*****, vertreten durch Mag. Manuela Prohaska, Rechtsanwältin in Wien, wegen Ehescheidung, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgericht vom 6. Oktober 2010, GZ 43 R 434/10g-64, womit das Urteil des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 27. April 2010, GZ 10 C 82/08y-58, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden im Ausspruch über das Verschulden dahin abgeändert, dass die Entscheidung insgesamt zu lauten hat:

„Die zwischen den Streitteilen am 20. 11. 2002 vor dem Standesamt Nürnberg zu Nr. 2052/2002 geschlossene Ehe wird aus dem überwiegenden Verschulden der beklagten Partei mit der Wirkung geschieden, dass sie mit der Rechtskraft dieses Urteils aufgelöst ist.“

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 3.190,94 EUR (darin 579,77 EUR USt und 11,95 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten aller drei Instanzen binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Die beklagte Partei ist ferner zum Ersatz der in § 64 Abs 1 Z 1 ZPO genannten Beträge, von deren Entrichtung die Klägerin vorläufig befreit ist, verpflichtet, in erster Instanz jedoch nur im Ausmaß von 75 %.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin ist gebürtige Brasilianerin. Sie besitzt die brasilianisch-italienische Doppelstaatsangehörigkeit. Der Beklagte ist Österreicher. Die Streitteile, die sich in englischer Sprache verständigen, schlossen am 20. 11. 2002 in Nürnberg die Ehe, wo sie zunächst auch wohnten und berufstätig waren. Sie haben zwei Kinder, nämlich die am ***** geborene L***** und den am ***** geborenen P*****. Da die Klägerin mit der (provisorischen) Wohngelegenheit in Nürnberg - die Familie bewohnte dort in einem Blindenheim eine kleine Wohnung mit Dusche am Gang - unzufrieden war, übersiedelte sie mit L***** Ende 2003 auf Vorschlag des Beklagten in dessen elterliches Haus in Mörbisch. Der Beklagte arbeitete weiterhin in Deutschland und besuchte die Familie an den Wochenenden, so oft es ihm möglich war. Auch diese Wohnsituation war (vorerst) nur als Übergangslösung gedacht, weil die Familie damals noch vor hatte, nach Brasilien zu ziehen.

Ende April 2005 übersiedelte schließlich auch der Beklagte zu seiner Familie nach Österreich. Danach war er einige Zeit arbeitslos und absolvierte eine Ausbildung zum Finanzdienstleister. In dieser Phase bezog der Beklagte nur ein geringes Einkommen. Die Familie lebte vorwiegend von Ersparnissen und der Abfindung, die der Beklagte von seinem früheren Arbeitgeber erhalten hatte. Der Beklagte verfügt seit März 2006 über einen Gewerbeschein und erzielt Provisionseinkünfte aus seiner neuen Tätigkeit (in den Jahren 2007 und 2008 je ca 50.000 EUR). Im September 2006 zog die Familie nach Wien. Die Klägerin blieb weiterhin im Haushalt, L***** besuchte ab ihrem 2. Lebensjahr vormittags einen Kindergarten. Der Anregung des Beklagten, wieder (wie zuvor in Deutschland) einen Deutschkurs zu besuchen und sich eine Arbeit zu suchen, kam die Klägerin nicht nach. Sie war nicht in der Lage, sich selbst darum zu kümmern und hatte auch keine Vorstellung darüber, wo sie arbeiten könnte.

Nach der Übersiedlung nach Wien verlief der Tagesablauf derart, dass der Beklagte zumeist am Vormittag für die Kinder das Essen zubereitete und erst gegen Mittag die Wohnung verließ, um anschließend seine Kundentermine zu absolvieren. Er kam des Öfteren erst spät abends, manchmal auch erst spät nachts nach Hause, wenn er mit Arbeitskollegen oder Freunden nach der Arbeit ausging. Die Klägerin fühlte sich zunehmend isoliert und beschwerte sich beim Beklagten, dass dieser am Abend zu lange arbeiten würde. Darauf richtete der Beklagte oberhalb der Ehewohnung ein eigenes Büro ein. Er unternahm mit der Familie Ausflüge und beteiligte sich an Freizeitaktivitäten.

Der Beklagte, der auch die Familienbeihilfe bezog, gab der Klägerin ab ihrer Übersiedlung nach Österreich kein fixes Wirtschaftsgeld und räumte ihr auch keine Verfügungsberechtigung über ein Konto ein. Die Klägerin erhielt vom Beklagten Bargeldbeträge in unterschiedlicher Höhe „je nach Bedarf“, deren Verwendung sie dann vor ihm rechtfertigen musste. Kleidung, die sie kaufte, wurde vom Beklagten als „zu teuer“ kritisiert. Die Klägerin hatte auch keine Vorstellung davon, welches Einkommen der Beklagte bezog. Gespräche zu diesem Thema fanden zwischen den Streitteilen nicht statt. Im Mai 2008 holte die Klägerin bei einer Beratungsstelle für lateinamerikanische Migrantinnen Auskunft über „ihre Rechte“ ein. Danach forderte sie den Beklagten auf, ihr eine eigene Kontokarte auszufolgen. Der Beklagte erwiderte zunächst, dass dies überhaupt nicht in Frage komme. Es kam zu einem Streit, im Zuge dessen er den Standpunkt einnahm, dass die Klägerin von ihm ausreichend Geld bekommen, damit aber überteuerte Kleidung und unnötige Lebensmittel kaufen würde. Schließlich übergab er ihr eine Karte für ein Privatkonto, mit der die Klägerin in der Folge mangels Deckung des Kontos lediglich einmal 100 EUR und einmal 10 EUR beheben konnte.

Im September 2007 ergab sich für die Klägerin erstmals der Verdacht, dass der Beklagte die gemeinsame Tochter sexuell missbrauchen könnte. Die Klägerin hatte Schreie aus dem Kinderzimmer gehört; als sie nachschaute, fand sie den Beklagten bei der Tochter nackt im Bett. Der Beklagte erklärte dies mit Alpträumen der Tochter, bei der er dann auch die restliche Nacht blieb. Die Klägerin wurde misstrauisch, als der Beklagte am nächsten Tag das Leintuch abzog und in die Waschmaschine gab. Als ihn die Klägerin darauf ansprach, erklärte er, die Tochter habe in das Bett gemacht. Daraufhin wollte die Klägerin die Matratze reinigen, musste aber feststellen, dass sie komplett trocken war.

Der Beklagte schlief für gewöhnlich nackt und zog sich nicht extra an, wenn er in der Nacht nach den Kindern sah. Er zog sich auch nicht an, wenn die Kinder zu den Eltern ins Bett kamen oder er versuchte, die Kinder zu beruhigen und dann bei ihnen schlief. Obwohl die Klägerin gegen ihn im September 2007 Vorwürfe erhob, änderte der Beklagte diese Angewohnheit zunächst nicht.

Der Verdacht der Klägerin erhärtete sich, als die Tochter beim Baden von Schmerzen an der Vagina sprach. Die Klägerin begutachtete die Tochter am Wickeltisch und vermeinte, „ein Loch“ in der Vagina festzustellen. Der von ihr darauf angesprochene Beklagte meinte, dass es da nichts gäbe. Die Streitteile suchten gemeinsam mit der Tochter einen Arzt auf, der eine Pilzinfektion diagnostizierte. Dennoch war der Verdacht der Klägerin nicht zur Gänze ausgeräumt. Da die Tochter sehr unruhig schlief, forderte die Klägerin den Beklagten auf, psychologische Hilfe für sie zu suchen. Der Beklagte schlug eine Lebensberaterin vor, die die Streitteile dreimal konsultierten. Als die Klägerin merkte, dass es bei den Beratungen um ihre Eheprobleme ging, kündigte sie an, die Besuche einstellen zu wollen. Im September 2008 stellte ein Arzt bei L***** neuerlich eine Pilzinfektion fest.

Der Verdacht der Klägerin keimte wieder auf, als die Tochter mehrmals vom Kindergarten nicht nach Hause gehen wollte, dabei fragte, ob der Vater zu Hause sei, und in der Nacht Sätze sagte, wie „Geh weg Papa, geh weg!“ oder „Lass meine Hose!“. Die Klägerin nahm in weiterer Folge eine Familienberatung bei einer Psychologin in Anspruch, die sie an ein Kinderschutzzentrum verwies. Dort wurde der Klägerin geraten, die Tochter direkt auf den Verdacht gegen den Beklagten anzusprechen. Danach richtete die Klägerin an ihre Tochter die konkrete Frage, ob sie vom Beklagten im Schambereich oder auf der Scheide geküsst worden sei. Dies wurde von der Tochter bejaht. Auf Anraten des Kinderschutzzentrums wandte sich die Klägerin in weiterer Folge an das Jugendamt, wo ein Termin mit einer Psychologin vereinbart wurde.

Am 4. 10. 2008 sah die Klägerin ihren Verdacht vollends bestätigt. Sie hatte den Beklagten und die Tochter beim gemeinsamen Fernsehen beobachtet. Dabei hielt der Beklagte die Tochter, die eine Schnürlsamthose trug, umarmt; dass er seine Hand zwischen ihren Beinen hatte, kann allerdings nicht festgestellt werden. Die Klägerin forderte die Tochter jedenfalls auf, sofort Zähne putzen zu kommen. Da sich das Mädchen zur Wehr setzte, nahm sie es in den „Schwitzkasten“, um ihr die Zähne zu putzen. Das Ehepaar geriet in Streit. Der Beklagte wollte die Tochter selbst zu Bett bringen und sperrte sich mit ihr zum Zähneputzen im Badezimmer ein. Darüber geriet die Klägerin in Panik; sie holte aus der Küche ein Fleischmesser und öffnete damit die Badezimmertür. Danach stellte sie sich vor dem Beklagten auf, um ihm den Zutritt zum Kinderzimmer zu versperren. Daraus entwickelte sich ein „Gerangel“, im Zuge dessen die Klägerin nach rückwärts auf ein Holzspielzeug fiel. Die Klägerin spürte Schmerzen am Rücken und schrie, sie wäre nun gelähmt. Auf Intervention des Bruders der Klägerin, den diese in Brasilien angerufen hatte, erklärte sich der Beklagte, der die schmerzende Stelle mit Eis behandeln wollte, schließlich bereit, die Klägerin in ein Spital zu führen. Als die Streitteile vom Spital zurück kamen, wollte der Beklagte mit den Kindern gemeinsam im Ehebett schlafen. Die Klägerin sprach sich dagegen aus. Es gab neuerlich ein „Gerangel“, worauf die Klägerin die Polizei rief. Der Beklagte verließ sogleich die Wohnung. Beim Eintreffen der Polizeibeamten erklärte die Klägerin die Situation. Die Beamten gaben ihr die Visitenkarte eines Kinderschutzzentrums. Als der Beklagte gegen halb drei Uhr morgens nach Hause kam, legte er sich zu den Kindern ins Ehebett; die Klägerin schlief im Kinderzimmer. Am Sonntag, dem 5. 10. 2008, verhielt sich die Klägerin ruhig. Sie hatte bereits den Plan gefasst, am nächsten Tag zum Jugendamt zu gehen.

Am 6. 10. 2008 nahmen die Streitteile einen vereinbarten Termin bei der Eheberatung wahr, bei dem ein weiterer Termin vereinbart wurde. Anschließend suchte die Klägerin das Jugendamt auf, wo ihr der weitere Aufenthalt in einem Frauenhaus angeboten wurde. Die Klägerin ging nach Hause, packte das Wichtigste ein, und zog, ohne den Beklagten zu benachrichtigen, mit den Kindern in das Frauenhaus. Der Beklagte stellte darauf sofort die Unterhaltsleistungen für die Kinder und die Klägerin ein und veranlasste die Sperre der Zugriffsmöglichkeit auf besagtes Privatkonto. Am 7. 10. 2008 beantragte die Klägerin beim Pflegschaftsgericht, ihr die alleinige Obsorge über die Kinder zu übertragen, was sie mit dem Verdacht des sexuellen Missbrauchs begründete.

Im Juni 2009 wurden bei einer Untersuchung in einer kindergynäkologischen Ambulanz bei L***** verheilte Kerben im Hymenal- und Analbereich festgestellt. Woher diese Verletzungsspuren stammen, kann nicht festgestellt werden. Es kann auch nicht festgestellt werden, ob der Beklagte seine Tochter tatsächlich sexuell missbraucht hat. Das gegen ihn eingeleitete Strafverfahren wurde eingestellt. Laut dem im Pflegschaftsverfahren eingeholten Gutachten gibt es bei der Tochter „keine Anzeichen auf sexualisierte Gewalt“.

Der Beklagte forderte die Klägerin mehrfach auf, mit ihm eine Familientherapie zu besuchen bzw einen Psychologen aufzusuchen, um den bei ihr bestehenden Verdacht des sexuellen Missbrauchs abklären zu lassen und das gestörte Vertrauensverhältnis zu festigen. Im Oktober 2008 brachte er ihr eine Broschüre über einen Deutschkurs, den die Klägerin wegen des bestehenden Konflikts und ihrer bereits gefassten Scheidungspläne ablehnte.

Mit der am 17. 12. 2008 eingebrachten Klage begehrte die Klägerin die Scheidung aus dem Verschulden des Beklagten. Sie brachte vor, der Beklagte habe sie für längere Zeit allein und im Stich gelassen, an einem gemeinsamen Eheleben kein Interesse gezeigt und sich in zunehmendem Maße lieb- und interesselos verhalten. Es bestehe der begründete Verdacht sexueller Übergriffe gegenüber der gemeinsamen Tochter. Der Beklagte sei immer ausgewichen, wenn die Klägerin auf dieses Thema zu sprechen gekommen sei. Er habe ihr ferner nur minimale Beträge an Wirtschaftsgeld überlassen und seine Unterhaltspflicht gegenüber der Klägerin und den Kindern gröblich verletzt.

Der Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens, in eventu den Ausspruch des Mitverschuldens der Klägerin. Er wandte ein, die Klägerin habe mit ihren unzutreffenden Vorwürfen die Ehe zerstört. Bereits im Jahr 2007 habe sie ihn zu Unrecht verdächtigt, die gemeinsame Tochter sexuell zu missbrauchen. Der Beklagte habe die Klägerin stets ersucht, Ärzte und Psychologen zu konsultieren, um den Vorwurf auszuräumen. Die begonnene Therapie habe sie nach zwei Terminen abgebrochen. Schließlich habe ihn die Klägerin böswillig verlassen und Dritten gegenüber wider besseren Wissens der Begehung einer strafbaren Handlung bezichtigt. Ihren Unterhaltsanspruch habe die Klägerin dadurch verwirkt. Weitere Eheverfehlungen der Klägerin bestünden darin, dass sie keinen Deutschkurs besucht und sich keine Arbeit gesucht habe.

Das Erstgericht schied die Ehe aus dem gleichteiligen Verschulden der Streitteile. Dabei stützte es sich im Wesentlichen auf den eingangs zusammengefasst wiedergegebenen Sachverhalt.

In rechtlicher Hinsicht lastete es dem Beklagten die während und nach der ehelichen Lebensgemeinschaft begangene Unterhaltsverletzung als schwere Eheverfehlung an. Er habe die Klägerin in finanziellen Angelegenheiten systematisch kurz gehalten und ihr kein eigenes Konto zur Verfügung gestellt, auf welches wenigstens die Familienbeihilfe hätte überwiesen werden können. Zwar sei die Ehe mit dem Auszug der Klägerin aus der Ehewohnung unheilbar zerrüttet gewesen. Dennoch falle auch noch die sofortige Einstellung jeglicher Unterhaltsleistungen, jedenfalls soweit sie die Kinder betreffe, als Eheverfehlung ins Gewicht. Dass die gemeinsame Tochter vom Beklagten sexuell missbraucht worden wäre, habe nicht festgestellt werden können. Der Klägerin warf das Erstgericht - neben der Weigerung, einen Deutschkurs zu besuchen - die vorzeitige Beendigung der vom Beklagten „organisierten“ Eheberatung sowie die Ablehnung sonstiger beratender und therapeutischer Maßnahmen als schuldhafte Eheverfehlungen vor. Hingegen sah es den Vorwurf „böswilligen Verlassens“ nicht als gerechtfertigt an. Mit ihrem Auszug aus der Ehewohnung habe die Klägerin lediglich auf ihren schwerwiegenden Verdacht und die heftige Auseinandersetzung vom 4. 10. 2008 reagiert. Auch die Meldung ihres Verdachts im Kinderschutzzentrum und beim Jugendamt sei nicht aufgrund einer feindlichen Einstellung gegenüber dem Beklagten, sondern nur in der Sorge um die Sicherheit ihrer Kinder erfolgt.

Bei der gebotenen Gesamtabwägung sei von gleichteiligem Verschulden der Streitteile auszugehen.

Das von beiden Parteien angerufene Berufungsgericht bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung und sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

Im Rahmen der Erledigung der Berufung des Beklagten schloss sich das Berufungsgericht der erstinstanzlichen Auffassung an, wonach der Beklagte eine Verletzung seiner Unterhaltspflicht als schwere Eheverfehlung zu vertreten habe. Die nicht verdienende Ehepartnerin habe Anspruch darauf, ausreichende Mittel zur Verfügung zu haben, um ihre persönlichen Bedürfnisse ohne Demütigung decken zu können. Mit der Einräumung der Zugangsberechtigung zu einem nicht gedeckten Konto werde dieser Anspruch nicht erfüllt. Die Einstellung sämtlicher Unterhaltszahlungen nach dem Auszug der Klägerin stelle eine beachtliche Handlung gegen das Wesen der Ehe dar. Die Klägerin habe keinen zur Unterhaltsverwirkung führenden Tatbestand gesetzt. Wegen des für sie manifesten Missbrauchsverdachts sei ihr Verhalten nicht grundlos gewesen; sie habe den Beklagten auch nicht wissentlich falsch beschuldigt.

Zur Berufung der Klägerin vertrat das Berufungsgericht die Ansicht, ein bedeutender Umstand für die verfahrene Familiensituation sei auch die Isolation der Klägerin gewesen, woran den Beklagten jedoch kein Verschulden treffe. Vielmehr habe es die Klägerin selbst verabsäumt, hier Abhilfe zu schaffen. In Anbetracht der von ihr erhobenen schweren Vorwürfe sei der Klägerin ferner die Ablehnung einer Eheberatung als „in hohem Maße ehewidrig“ anzulasten. Dabei sei wesentlich, dass sie nach eigenen Angaben das Vertrauen in den Beklagten verloren gehabt, zur Bereinigung der Situation aber nichts unternommen habe.

Dieses Verhalten der Klägerin, das wesentlich zur Zerrüttung der Ehe beigetragen habe, trete gegenüber der schwerwiegenden Unterhaltsverletzung des Beklagten nicht in jenem Ausmaß in den Hintergrund, dass auch nur von einem überwiegenden Verschulden des Beklagten ausgegangen werden könnte.

Gegen diese Berufungsentscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne des Ausspruchs alleinigen, hilfsweise überwiegenden Verschuldens des Beklagten abzuändern. Als weiteres Eventualbegehren wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Beklagte machte von der ihm freigestellten Möglichkeit einer Revisionsbeantwortung keinen Gebrauch.

In der Regel begründet es keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO, ob einen Ehepartner (allenfalls) das alleinige oder überwiegende Verschulden an der Zerrüttung der Ehe trifft (vgl RIS-Justiz RS0118125, RS0119414). Im vorliegenden Fall bedarf der Verschuldensausspruch der Vorinstanzen jedoch zwecks Wahrung der Rechtssicherheit einer Korrektur durch den Obersten Gerichtshof.

Die Revision ist daher zulässig; sie ist im Sinne des ersten Eventualantrags auch berechtigt.

Die Klägerin macht geltend, sie habe trotz der auf sexuellen Missbrauch der Tochter hindeutenden Verdachtsmomente mit dem Beklagten eine Lebensberaterin aufgesucht und auch den vereinbarten Termin bei der Eheberatung wahrgenommen. Erst als sie das Vertrauen in den Beklagten endgültig verloren gehabt habe, habe sie die Beratung abgebrochen und weitere Maßnahmen abgelehnt. Das ihr als Ehewidrigkeit angelastete Verhalten trete gegenüber den schweren Eheverfehlungen des Beklagten jedenfalls weitgehend in den Hintergrund.

Rechtliche Beurteilung

Hiezu wurde erwogen:

1. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs muss bei beiderseitigem Verschulden ein sehr erheblicher Unterschied im Grad des Verschuldens gegeben sein, um ein überwiegendes Verschulden eines Teils annehmen zu können. Dabei ist nicht nur zu berücksichtigen, wer mit der schuldhaften Zerrüttung der Ehe begonnen hat, sondern auch wer entscheidend dazu beigetragen hat, dass die Ehe unheilbar zerrüttet wurde (RIS-Justiz RS0057057, RS0057361, RS0057821). Die beiderseitigen Eheverfehlungen sind einander in ihrer Gesamtheit gegenüber zu stellen, wobei es nicht nur auf den Grad der Verwerflichkeit der einzelnen Ehewidrigkeiten ankommt, sondern auch darauf, wie weit sie einander bedingten und welchen ursächlichen Anteil sie am Scheitern der Ehe hatten (2 Ob 31/10p; 4 Ob 205/10s; RIS-Justiz RS0057303, RS0057223, RS0057268).

2. Eine unheilbare Ehezerrüttung iSd § 49 EheG ist dann anzunehmen, wenn die geistige, seelische und körperliche Gemeinschaft zwischen den Ehegatten und damit die Grundlage der Ehe objektiv und wenigstens bei einem Ehegatten auch subjektiv zu bestehen aufgehört hat (3 Ob 218/08t; 7 Ob 284/08b; 7 Ob 7/10w; RIS-Justiz RS0056832). Während die Frage, ob und wann eine Ehe objektiv zerrüttet ist, eine auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen nach objektivem Maßstab zu beurteilende Rechtsfrage ist (RIS-Justiz RS0043423), zählt die Frage, ob ein Ehegatte die Ehe subjektiv als unheilbar zerrüttet ansieht, zum irrevisiblen Tatsachenbereich (RIS-Justiz RS0043423 [T4], RS0043432 [T4]). Eheverfehlungen, die nach der unheilbaren Zerrüttung der Ehe gesetzt werden, haben bei der Verschuldensabwägung kein entscheidendes Gewicht (RIS-Justiz RS0057338). In diesen Fällen fehlt es zwischen der neuen Eheverfehlung und der Zerrüttung am ursächlichen Zusammenhang (3 Ob 218/08t; 4 Ob 31/08z; RIS-Justiz RS0056921, RS0056939). Eheverfehlungen nach Zerrüttung der Ehe können nur dann noch von Bedeutung sein, wenn die Ehe zwar tiefgreifend, aber noch nicht unheilbar zerrüttet ist und der verletzte Ehegatte bei verständiger Würdigung die weitere Eheverfehlung noch als zerrüttend empfinden durfte (3 Ob 149/01k; 5 Ob 153/06w; 3 Ob 218/08t; 7 Ob 7/10w; RIS-Justiz RS0056887, RS0057338 [T7]). Jedoch fallen Eheverfehlungen eines Ehepartners nur dann nicht ins Gewicht, wenn die Ehe durch die vorangegangenen Eheverfehlungen des anderen Teils unheilbar zerrüttet worden war (8 Ob 2119/96t).

3. Im hier zu beurteilenden Fall ist die Ehe spätestens mit dem Auszug der Klägerin aus der Ehewohnung als unheilbar zerrüttet anzusehen. Zu diesem Zeitpunkt wurde nicht nur der Wegfall der Ehegemeinschaft nach außen erkennbar, sondern die Klägerin hatte auch den Ehewillen bereits endgültig verloren. Die Feststellungen, sie habe im Oktober 2008 bereits die Scheidung sowie die Befassung des Jugendamts mit ihren Vorwürfen gegen den Beklagten geplant, die Ehewohnung verlassen und am Tag danach die Übertragung der alleinigen Obsorge über die Kinder beantragt, können in ihrem Zusammenhang bei lebensnaher Betrachtung nur dahin verstanden werden, dass sie die Ehe mit dem Beklagten endgültig nicht mehr fortsetzen wollte. Spätere Eheverfehlungen der Klägerin konnten daher keine ehezerrüttende Wirkung mehr haben, zumal - wie im Folgenden noch darzustellen ist - der Beklagte den maßgeblichen Anteil an der unheilbaren Zerrüttung der Ehe hat. Schon aus diesem Grund war der Abbruch der Eheberatung durch die Klägerin für die unheilbare Zerrüttung der Ehe nicht mehr kausal (vgl 3 Ob 146/03x; auch 7 Ob 4/00i).

4. Auch der Vorwurf des Berufungsgerichts, die Klägerin habe während der aufrechten Ehegemeinschaft trotz des Vertrauensverlusts zur Bereinigung der Situation nichts unternommen, erweist sich als nicht berechtigt. Nach den Feststellungen der Vorinstanzen hat die Klägerin gemeinsam mit dem Beklagten im Glauben, psychologische Hilfe für die Tochter zu erlangen, immerhin dreimal die von ihm vorgeschlagene Lebensberaterin konsultiert. Gemeinsam mit ihm nahm sie vor ihrem Auszug aus der Ehewohnung auch noch den Termin bei der Eheberatung wahr. Darüber hinaus hat die Klägerin mehrfach eigene Initiativen zur „Abklärung“ ihres Verdachts gesetzt, indem sie mit ihrer Tochter Kinderärzte aufsuchte, eine Familienberatung bei einer Psychologin in Anspruch nahm, sich im Kinderschutzzentrum beraten ließ und beim Jugendamt einen Termin mit einer Psychologin vereinbarte.

Welche (sonstigen) konkreten familientherapeutischen Maßnahmen die Klägerin abgelehnt hat und vor allem in welchem Stadium der Zerrüttung dies geschah, steht nicht fest. Diese verbliebene Unklarheit fällt dem für die behaupteten Eheverfehlungen der Klägerin beweispflichtigen Beklagten zur Last.

5. Die Vorinstanzen haben bei der gebotenen Abwägung des beiderseitigen Gesamtverhaltens angesichts der festgestellten Verdachtsmomente die gegen den Beklagten erhobenen Anschuldigungen nicht als schuldhafte Eheverfehlungen der Klägerin qualifiziert (vgl auch 8 Ob 107/04z). Weiters sahen sie darin einen ausreichenden Rechtfertigungsgrund für das Verlassen der Ehewohnung (vgl RIS-Justiz RS0109128). Diese Rechtsansichten blieben in dritter Instanz unbekämpft. Nach den obigen Ausführungen trifft die Klägerin aber auch nicht der Vorwurf einer zerrüttungskausalen Verweigerung eheberatender und/oder familientherapeutischer Maßnahmen. Ebenso kann ihr nicht angelastet werden, dass sie zur Abklärung ihres Verdachts nichts unternommen habe. Als beachtenswerte Eheverfehlung fällt demnach auf Seiten der Klägerin nur ins Gewicht, dass sie entgegen dem Wunsch des Beklagten keine Bereitschaft zur Verbesserung ihrer Deutschkenntnisse zeigte und dadurch selbst die von ihr bemängelte Isolation begünstigte. Des Weiteren trägt sie infolge ihrer überschießenden Reaktionen zwar einen erheblichen Anteil an dem eskalierenden Streit vom 4. 10. 2008; dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Ehe zu diesem Zeitpunkt bereits tiefgreifend zerrüttet war.

Dem steht das Verhalten des Beklagten gegenüber, der dadurch, dass er die Klägerin ab ihrer Übersiedlung nach Österreich Ende 2003 bis zuletzt finanziell „systematisch kurz hielt“, ihr kein fixes Wirtschafts- und Taschengeld zubilligte und Rechenschaft für die Verwendung der „je nach Bedarf“ überlassenen Geldbeträge verlangte (vgl RIS-Justiz RS0047346), die Zerrüttung der Ehe eingeleitet hat. Indem er auf die erstmals im Jahr 2007 erhobenen Vorwürfe und - ihm daher auch erkennbaren - Ängste der Klägerin nicht adäquat reagierte, lieferte er auch den entscheidenden Beitrag dafür, dass sich die Zerrüttung der Ehe zur unheilbaren entwickelte. In diesem Zusammenhang ist vor allem festzuhalten, dass der Beklagte sein Verhalten, nackt bei den Kindern zu schlafen, trotz der Vorwürfe der Klägerin zunächst nicht geändert und gerade deshalb selbst den maßgeblichen Anteil an der von ihm der Klägerin zugeschriebenen Zerstörung der Vertrauensbasis hat. Dazu kommt, dass er nach dem Auszug der Klägerin sämtliche Unterhaltsleistungen für sie und die Kinder umgehend einstellte, was als Verletzung deren weiterhin schutzwürdigen Interessen trotz der bereits eingetretenen unheilbaren Zerrüttung der Ehe bei der Verschuldensabwägung nicht unberücksichtigt bleiben kann (vgl Schwimann/Weitzenböck in Schwimann, ABGB I § 49 EheG Rz 6 aE).

6. Bei der dargestellten Sach- und Rechtslage tritt das Fehlverhalten der Klägerin in seiner Bedeutung für die unheilbare Zerrüttung der Ehe fast vollständig in den Hintergrund. Die Revision erweist sich deshalb im Sinne des ersten Eventualantrags als berechtigt, weshalb das überwiegende Verschulden des Beklagten auszusprechen ist.

Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens gründet sich auf die §§ 43 Abs 1 und 2, 50 ZPO.

Bei überwiegendem Verschulden eines Ehegatten ist die Ausmessung des Kostenersatzes dem begründeten Ermessen des Gerichts zu überlassen, das hiebei auf die besonderen Umstände des Falls, insbesondere auf den Grad des Verschuldens, Bedacht zu nehmen hat. Danach entspricht es der Billigkeit, den Prozesserfolg der Klägerin im Verfahren erster Instanz mit drei Viertel zu bewerten und dementsprechend dem Beklagten den Ersatz der Hälfte der Kosten der Klägerin aufzuerlegen (vgl 3 Ob 218/08t; RIS-Justiz RS0035945). Über die - abermals verzeichneten - Kosten des Provisorialverfahrens wurde bereits rechtskräftig abgesprochen (ON 16); eine nochmalige Berücksichtigung bei der Kostenentscheidung kommt nicht in Betracht. Für die gemäß § 54 Abs 1a ZPO erstatteten Einwendungen steht der in der Hauptsache überwiegend obsiegenden Klägerin kein Kostenersatz zu (7 Ob 34/10s; RIS-Justiz RS0125846).

Im Rechtsmittelverfahren ist die Klägerin mit ihrem Eventualbegehren (Ausspruch des überwiegenden Verschuldens) durchgedrungen. In einem solchen Fall sind nach § 43 Abs 2 ZPO die gesamten Kosten zuzusprechen, wenn der Verfahrensaufwand, der zur Prüfung der Berechtigung des Hauptbegehrens erforderlich war, auch für die Beurteilung des Eventualbegehrens verwertet werden konnte, die materiellrechtliche Grundlage ident war und mit dem Eventualbegehren annähernd der gleiche wirtschaftliche Erfolg wie bei Stattgebung des Hauptbegehrens erreicht wurde (RIS-Justiz RS0110839, RS0109703 [T1, T2 und T3]). Sämtliche Voraussetzungen liegen hier vor.

Da die Klägerin in vollem Umfang Verfahrenshilfe genießt, sind die für die Klage und die Berufung verzeichneten Pauschalgebühren nicht zu ersetzen (6 Ob 86/04x; 1 Ob 188/09t). Der Ausspruch über die Ersatzpflicht hinsichtlich der in § 64 Abs 1 Z 1 ZPO genannten Beträge erfolgt gemäß § 70 Satz 2 ZPO (vgl 7 Ob 13/08z; 1 Ob 188/09t; 7 Ob 7/10w).

Schlagworte

Familienrecht

Textnummer

E97138

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2011:0020OB00230.10B.0329.000

Im RIS seit

13.05.2011

Zuletzt aktualisiert am

14.03.2013
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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