TE OGH 2020/8/12 4Ob122/20z

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Veröffentlicht am 12.08.2020
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Schwarzenbacher, Hon.-Prof. Dr. Brenn, Hon.-Prof. PD Dr. Rassi und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei M***** C*****, vertreten durch Dr. Manfred Dallago, Rechtsanwalt in Kufstein, gegen die beklagte Partei V***** GmbH, *****, vertreten durch Dr. Michael Hohenauer, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen 65.000 EUR sA und Feststellung (Streitwert 12.800 EUR), über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 26. Mai 2020, GZ 1 R 223/19d-16, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

Der Kläger war Mieter einer Wohnung in einem Wohnhaus in E*****, das die Beklagte am 29. Oktober 2018 kaufte und abreißen wollte. Aus diesem Grund war sie bestrebt, den Kläger zur Auflösung seines Mietverhältnisses zu bewegen. Zu diesem Zweck wurde letztlich vereinbart, dass der Kläger seine Mietrechte aufgibt und dafür

- der Sohn des Klägers vom Geschäftsführer der Beklagten und dessen Lebensgefährtin deren (damals bis 30. April 2020 vermietete) Eigentumswohnung W08 samt Tiefgaragenabstellplatz auf der Liegenschaft EZ ***** in E***** zum Kaufpreis von 310.000 EUR kauft, wobei die Beklagte einen Beitrag von 65.000 EUR leistet, und

- der Kläger vom 19. Jänner 2019 bis 18. Jänner 2022 eine andere Eigentumswohnung des Geschäftsführers der Beklagten und dessen Lebensgefährtin zu einem Mietzins von monatlich 990 EUR einschließlich Betriebs- und Nebenkostenakonti anmietet, wobei die Beklagte einen Mietzuschuss von monatlich 400 EUR leistet.

Die schriftlichen Verträge zur Umsetzung dieser Vereinbarung wurden am 18. Jänner 2019 vor dem vertragserrichtenden Notar unterfertigt. Nach dem Kaufvertrag zur Eigentumswohnung W08 war der Käufer unter anderem verpflichtet, einen Teilbetrag von 10.000 EUR als Anzahlung binnen vier Wochen ab Unterfertigung des Kaufvertrags auf das Treuhandkonto zu überweisen. Für den Fall des Zahlungsverzugs sollte den Verkäufern das Recht zustehen, ohne Setzung einer Nachfrist vom Kaufvertrag zurückzutreten. Weder der Kläger noch dessen Sohn waren sich der Bedeutung dieser Bestimmung bewusst. Da die Anzahlung von 10.000 EUR nicht fristgerecht auf das Treuhandkonto überwiesen wurde, erklärten die Verkäufer den Rücktritt vom Kaufvertrag. Die Beklagte stellte sich in der Folge auf den Standpunkt, den Betrag von 65.000 EUR nicht mehr leisten zu müssen. Der Kläger war mit der Aufgabe seiner Mietrechte nur unter der Voraussetzung einverstanden, dass die Beklagte sowohl den Ablösebetrag von 65.000 EUR als auch den Mietzuschuss von monatlich 400 EUR leistet. Als Käufer der Eigentumswohnung W08 sollte nur aus Finanzierungsgründen an Stelle des Klägers dessen Sohn auftreten.

Der Kläger begehrte die Zahlung von 65.000 EUR sA sowie die Feststellung, dass die Beklagte bis zum 18. Jänner 2022 den vereinbarten Mietzuschuss von monatlich 400 EUR zu leisten habe.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren zur Gänze statt. Da der Kaufvertrag über die Eigentumswohnung W08 von den Verkäufern aufgelöst worden sei, sei die ursprüngliche Vereinbarung zwischen dem Kläger und der Beklagten über die Ablösezahlung und den Mietzuschuss wieder aufgelebt. Der Kläger habe auch ein rechtliches Interesse an der begehrten Feststellung, weil ihm die Beklagte mitgeteilt habe, dass aufgrund der Auflösung des Kaufvertrags keine Zahlungspflicht mehr bestehe.

Das Berufungsgericht bestätigte den Zuspruch des Zahlungsbegehrens, das Feststellungsbegehren wies es hingegen ab. Die schriftlichen Verträge gäben die zugrunde liegende Vereinbarung nicht vollständig wieder. Aus diesem Grund sei eine ergänzende Vertragsauslegung vorzunehmen. Vernünftige und redliche Parteien hätten für den Fall, dass die beabsichtigte Wohnraumbeschaffung für die Familie des Klägers infolge Rückabwicklung des Kaufvertrags über die Eigentumswohnung W08 nicht gelinge, die Regelung getroffen, dass der vereinbarte Ablösebetrag direkt an den Kläger ausgezahlt werde. Das Zahlungsbegehren sei daher berechtigt. Für das Feststellungsbegehren fehle es hingegen am erforderlichen rechtlichen Interesse, weil die Beklagte zwar die Verpflichtung zur Zahlung des Ablösebetrags von 65.000 EUR, nicht aber auch jene zur Zahlung des Mietzuschusses von monatlich 400 EUR bestritten habe.

Rechtliche Beurteilung

Mit der gegen den stattgebenden Teil des Berufungsurteils erhobenen außerordentlichen Revision, die sich gegen die ergänzende Vertragsauslegung richtet, zeigt die Beklagte keine erhebliche Rechtsfrage auf.

1. Nach § 914 ABGB ist bei der Auslegung von Verträgen zunächst vom Wortlaut des schriftlichen Vertragstextes oder vom Wortsinn der mündlichen Vertragserklärungen auszugehen, aber nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften, sondern der Wille der Parteien zu erforschen. Wird kein – vom Vertragstext oder Wortsinn abweichender oder diesen präzisierender oder ergänzender – übereinstimmender Parteiwille behauptet oder festgestellt, so ist für die Auslegung der objektive Erklärungswert des Vertragstextes bzw der Erklärungen mit Rücksicht auf den Geschäftszweck maßgebend. Der Vertrag ist so zu verstehen, wie es der Übung des redlichen Verkehrs entspricht (RIS-Justiz RS0017915; RS0017797; 4 Ob 18/19d).

2.1 Eine ergänzende Vertragsauslegung wird von der Rechtsprechung in zwei – nicht immer scharf voneinander abgrenzbaren – Fällen vorgenommen: Einerseits ist der Vertrag zu ergänzen, wenn fest steht, dass der schriftliche Vertragsinhalt den Willen der Parteien nicht richtig oder vollständig wiedergibt (RS0017791; RS0017865). Andererseits können nach Abschluss der Vereinbarung Konfliktfälle auftreten, die von den Parteien nicht bedacht und daher auch nicht ausdrücklich geregelt wurden (5 Ob 58/18t; 1 Ob 210/19t). Ein solcher Konfliktfall kann auch dadurch entstehen, dass das vertragliche Pflichtenprogramm aufgrund zwingender Rechtsvorschriften teilweise unwirksam ist (4 Ob 220/14b). In beiden Fällen liegt eine echte Vertragslücke, also eine planwidrige Unvollständigkeit des Vertrags vor (RS0017829), die auch erst durch die spätere Entwicklung entstehen kann (4 Ob 52/20f).

2.2 Bei einer planwidrigen Vertragslücke greift zwar primär das dispositive Recht ein, sofern es für die im Vertrag nicht geregelten Fragen geeignete Regelungen zur Verfügung stellt (vgl RS0017829 [T1]; RS0017899 [T16]). Eine ergänzende Vertragsauslegung hat aber dann stattzufinden, wenn keine geeignete dispositive Regelung besteht, wenn die Parteien das allenfalls vorhandene dispositive Recht nicht angewendet wissen wollten oder wenn sich dieses für den konkreten Fall als unangemessen erweist (1 Ob 210/19t).

2.3 Als Mittel der ergänzenden Vertragsauslegung kommen der hypothetische Parteiwille, die Übung des redlichen Verkehrs, der Grundsatz von Treu und Glauben sowie die Verkehrsauffassung in Betracht, wobei in erster Linie auf den Vertragszweck Bedacht zu nehmen ist (RS0017832). In dieser Hinsicht ist zu prüfen, welche Lösung redliche und vernünftige Parteien für den konkreten Fall vereinbart hätten (RS0017890 [T2]; RS0113932 [T3]).

2.4 Fragen der Vertragsauslegung hängen von den Umständen des Einzelfalls ab und begründen in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage (RS0042936; RS0042776). Dies gilt auch für die ergänzende Vertragsauslegung (RS0042936 [T41]).

3.1 Das Berufungsgericht ist von den zutreffenden Rechtsgrundsätzen ausgegangen.

Ausgehend von den Feststellungen bestand der zwischen den Streitteilen erzielte Konsens darin, dass der Kläger seine Mietrechte aufgibt und die Beklagte dafür 65.000 EUR an Ablöse und (während des befristeten Übergangsmietverhältnisses) monatlich 400 EUR an Mietzuschuss an den Kläger leistet. Die in den schriftlichen Verträgen getroffenen Regelungen sollten diese Grundvereinbarung umsetzen, wobei der Sohn des Klägers nur aus außervertraglichen Gründen und daher „pro forma“ als Käufer der Eigentumswohnung W08 auftrat. In den einzelnen schriftlichen Verträgen wurde auf diese Wechselbeziehung und den Gesamtzusammenhang der Verträge nicht Bezug genommen, weshalb die Regelungen in den schriftlichen Vertragstexten unvollständig sind. Gerade aufgrund dieser besonderen Umstände hätten vernünftige Vertragsparteien eine Regelung für den Fall des Scheiterns eines Teils der gesamten Vertragskonstruktion, insbesondere des Kaufvertrags über die Eigentumswohnung, getroffen.

Die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass ein Fall einer planwidrigen Vertragslücke vorliegt, begründet demnach keine aufzugreifende Fehlbeurteilung.

3.2 Entgegen der Ansicht der Beklagten ist eine planwidrige Vertragslücke nicht stets mit dispositivem Recht zu beheben. Vielmehr ist dafür vorausgesetzt, dass für die jeweilige beabsichtigte Vertragspflicht oder Rechtsfolge eine geeignete dispositive Regelung vorhanden ist, die sich für den Anlassfall auch als angemessen erweist und die mit dem Parteiwillen und dem Vertragszweck in Einklang zu bringen ist.

Im Anlassfall betrifft die planwidrige Vertragslücke die von der Beklagten an den Kläger zu erbringende Gegenleistung für die Aufgabe seiner Mietrechte für den Fall des Scheiterns des Kaufvertrags über den Ankauf der Eigentumswohnung W08. Für diesen Fall steht unmittelbar klärendes dispositives Recht nicht zur Verfügung. Die von der Beklagten ins Treffen geführte Möglichkeit der Anfechtung der Vereinbarung über die Auflösung des Mietverhältnisses durch den Kläger wegen Irrtums ist keine adäquate Ersatzregelung; vernünftige Vertragsparteien hätten es nicht dabei belassen.

Die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass im Anlassfall eine ergänzende Vertragsauslegung vorzunehmen ist, hält sich damit ebenfalls im Rahmen der Rechtsprechung.

3.3 Das Gleiche gilt für die Beurteilung, dass redliche und vernünftige Parteien für den Fall des Scheiterns des Kaufvertrags über den Ankauf der Eigentumswohnung W08 wegen des nach dem Vertragstext möglichen sofortigen Rücktritts der Verkäufer bei einem Zahlungsverzug die Verpflichtung der Beklagten zur Zahlung des Ablösebetrags von 65.000 EUR an den Kläger vorgesehen hätten. Nach den Feststellungen ist es dem Kläger essentiell darum gegangen, für die Aufgabe seiner Mietrechte sowohl die Ablösesumme als auch den Mietzuschuss zu erhalten.

4. Insgesamt gelingt es der Beklagten mit ihren Ausführungen nicht, eine erhebliche Rechtsfrage aufzuzeigen. Die außerordentliche Revision war daher zurückzuweisen.

Textnummer

E129292

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:0040OB00122.20Z.0812.000

Im RIS seit

09.10.2020

Zuletzt aktualisiert am

09.10.2020
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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