TE OGH 2011/7/6 7Ob59/11v

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Veröffentlicht am 06.07.2011
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Huber als Vorsitzende und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schaumüller, Dr. Hoch, Dr. Kalivoda und Mag. Dr. Wurdinger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden und gefährdeten Partei G***** J*****, vertreten durch Mag. Adolf Konstantino Huber, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beklagten und Gegner der gefährdeten Partei Dr. Y***** B*****, vertreten durch Dr. Wolfgang Blaschitz, Rechtsanwalt in Wien, wegen einstweiligem Unterhalt und Prozesskostenvorschuss, über den Revisionsrekurs des Beklagten und Gegners der gefährdeten Partei gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 27. Dezember 2010, GZ 48 R 355/10a-42, womit die einstweilige Verfügung des Bezirksgerichts Leopoldstadt vom 3. November 2010, GZ 1 C 36/10h-23, teilweise abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden, soweit nicht die Abweisung eines vorläufigen Unterhalts in der Höhe von monatlich 100 EUR seit 1. 7. 2010 durch das Erstgericht und in der Höhe von monatlich weiteren 100 EUR seit 1. 7. 2010 durch das Berufungsgericht bereits in Rechtskraft erwachsen ist, aufgehoben. Die Rechtssache wird in diesem Umfang zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten der Rechtsmittelverfahren sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Die Parteien sind kasachische Staatsbürger und schlossen am 4. 6. 1993 vor einem Standesamt in Kasachstan die Ehe. Ihr gemeinsamer Sohn wurde am 30. 8. 1998 geboren. Die Parteien zogen am 8. 4. 2000 von Kasachstan nach Österreich. Seit September 2009 leben sie getrennt.

Der Beklagte arbeitet im Sekretariat der O***** und verdiente im Jahr 2010 netto monatlich zwischen 6.800 EUR und 7.200 EUR. Er bezahlte alle Betriebskosten für die Eigentumswohnung, in der die Klägerin wohnt. Seit die Ehegatten in Österreich leben, ist die Klägerin im Haushalt tätig und betreut das Kind. Ihr Studium wurde in Österreich nicht nostrifiziert. Sie verfügt über kein eigenes Einkommen.

Auf Grund der Klage des Beklagten in Kasachstan ist die Ehe der Streitteile nunmehr rechtskräftig geschieden. Die Klägerin war in diesem Verfahren durch ihre Schwester und auch einen Rechtsanwalt vertreten, ihr Rechtsmittel blieb erfolglos.

Die Klägerin begehrt, verbunden mit der Klage auf Bezahlung von Unterhalt, die Erlassung einer einstweiligen Verfügung, nach der der Beklagte schuldig erkannt werden soll, ihr monatlich einen vorläufigen Unterhalt von 1.500 EUR ab 1. 7. 2010 sowie einen Prozesskostenvorschuss in der Höhe von 2.411,48 EUR zu bezahlen. Der Beklagte komme seiner Unterhaltsverpflichtung nur sporadisch und nur teilweise nach. Ein allfälliges Scheidungsurteil sei in Österreich nicht anzuerkennen, da es rechtsunwirksam sei.

Der Beklagte stützt sich darauf, dass ausschließlich kasachisches Sachrecht anzuwenden sei. Die Klägerin habe nach Ehescheidung gemäß Art 134 des Gesetzes der Republik Kasachstan Nr 321-1 vom 17. 12. 1998 „über Ehe und Familie“ (in der Folge: FamGB) keinen Anspruch auf einstweiligen Unterhalt. Der Beklagte bezahle ohnedies sämtliche Kosten der Wohnung. Die Klägerin sei in der Lage, sich selbst zu erhalten.

Das Erstgericht erließ eine einstweilige Verfügung, mit der es den Beklagten verpflichtete, ab 1. 7. 2010 einen einstweiligen Unterhalt in der Höhe von monatlich 1.400 EUR zu bezahlen. Den Antrag auf Prozesskostenvorschuss wies es ab. Das Scheidungsurteil sei gemäß § 97 Abs 2 AußStrG anzuerkennen. Das rechtliche Gehör der Klägerin sei gewahrt worden; sie habe Kenntnis vom Verfahren gehabt, sei in der Verhandlung durch von ihr bestellte Vertrauenspersonen vertreten gewesen und habe erfolglos ein Rechtsmittel eingelegt. Da beide Parteien kasachische Staatsbürger seien, sei auch die Zuständigkeit des kasachischen Gerichts zu bejahen. Die persönlichen Rechtswirkungen der Ehe seien gemäß § 18 Abs 1 IPRG nach dem gemeinsamen Personalstatut der Ehegatten zu beurteilen. Die Unterhaltspflicht nach Ehescheidung ergebe sich aus Art 136 Abs 1 Z 2 FamGB. Sie bestehe, wenn der Ehepartner bereits vor der Ehescheidung arbeitsunfähig geworden und weiterhin hilfsbedürftig sei und sich um minderjährige bzw invalide Kinder kümmere. Die Festlegung der Unterhaltszahlung erfolge gemäß Art 135 FamGB mangels Vereinbarung der Parteien durch das Gericht, wobei die jeweilige materielle und familiäre Lage der Ehepartner und andere relevante Faktoren zu berücksichtigen seien. Im Provisorialverfahren sei ausländisches Sachrecht im Allgemeinen schon dann anzuwenden, wenn die Richtigkeit des erhobenen Materials wahrscheinlich sei. Es sei österreichisches Recht maßgebend, wenn sich die Auslegung der in Betracht kommenden Bestimmungen des kasachischen Familiengesetzes offensichtlich nicht ohne erheblichen, für das Provisorialverfahren nicht vertretbaren Zeitaufwand ermitteln ließen. Die Höhe des Unterhaltsanspruchs richte sich im Provisorialverfahren mangels weiterer Quellen über das kasachische Recht nach österreichischem Recht. Der einstweilige Unterhaltsanspruch bestehe in der Höhe von 29 % des Einkommens des Beklagten unter Berücksichtigung der von ihm geleisteten Zahlungen. Die Klägerin habe bereits einen Kostenvorschuss von 4.000 EUR an ihren Rechtsvertreter geleistet. Der Antrag auf Zuspruch eines einstweiligen Prozesskostenvorschusses sei daher abzuweisen.

Das von beiden Parteien angerufene Rekursgericht änderte die Entscheidung des Erstgerichts dahingehend ab, dass es einen vorläufigen Unterhalt von monatlich 1.300 EUR, beginnend ab 1. 7. 2010, zusprach und dem Beklagten einen Prozesskostenvorschuss in der Höhe von 2.411,48 EUR auferlegte. Die Ehescheidung sei gemäß § 97 AußStrG anzuerkennen. Art 134 des kasachischen FamGB laute:

„Unterhaltsansprüche des ehemaligen Ehepartners nach der Ehescheidung

(1) Das Recht von dem ehemaligen Ehepartner, der über die nötigen Mittel verfügt, auf gerichtlichem Wege Unterhaltsleistung zu fordern, hat

1. ...

2. der hilfsbedürftige ehemalige Ehepartner, wenn er sich bis zum 16. Lebensjahr des Kindes oder - wenn dem Kind der Invaliditätsgrad der 1. oder 2. Klasse zuerkannt wurde, nach dem 16. Lebensjahr um ein gemeinsames invalides Kind kümmert.

...“

Die Klägerin erfülle die Anspruchsvoraussetzungen, sie kümmere sich um den gemeinsamem Sohn, der das 16. Lebensjahr noch nicht erreicht habe. Sie sei nach kasachischem Verständnis auch „hilfsbedürftig“, weil sie arbeitslos sei. Das Berufungsgericht stütze sich bei seiner Beurteilung auf die Übersetzung des Gesetzestextes und die Ausführungen dazu in Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht. Auch das Bundesministerium für Justiz habe keine weiteren Unterlagen zum kasachischen Unterhaltsrecht zur Verfügung, sodass das vorliegende ausländische Sachrecht so anzuwenden sei, wie es nach dem erhobenen Material wahrscheinlich sei. Da das kasachische FamGB die Höhe des Unterhaltsanspruchs nicht ziffernmäßig konkretisiere, sondern im Art 135 nur festlege, dass die Höhe vom Gericht unter Berücksichtigung der materiellen familiären Lage der ehemaligen Ehepartner und anderer relevanter Interessen der Beteiligten festzusetzen sei, gehe der kasachische Gesetzgeber einen ähnlichen Weg wie der österreichische. Es seien daher (ergänzend) die Grundsätze des österreichischen Rechts anzuwenden. Ab der Scheidung dürfe bei der Berechnung des Naturalunterhalts kein fiktiver Wohnkostenanteil des geschiedenen Unterhaltspflichtigen abgezogen werden, weshalb der Klägerin lediglich ein monatlicher anteiliger Unterhalt von 1.300 EUR zuzusprechen sei. Der Anspruch auf Prozesskostenvorschuss bestehe, wenn der Unterhaltsberechtigte nicht im Stande sei, die Prozesskosten selbst zu decken und dem Unterhaltspflichtigen dies - wie hier -  zugemutet werden könne.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei, weil keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung zu beurteilen sei.

Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs des Beklagten mit dem Antrag, den Antrag auf Erlassung der einstweiligen Verfügung zur Gänze abzuweisen, hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Klägerin beteiligte sich trotz Freistellung der Revisionsrekursbeantwortung durch den Obersten Gerichtshof am Revisionsrekursverfahren nicht.

Der Revisionsrekurs ist zulässig, er ist auch im Sinn des Aufhebungsantrags berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Der Beklagte legt mit seinem Rechtsmittel (ERV-Verkehr) in Kopie eine Übersetzung der maßgeblichen Bestimmungen des FamGB durch einen gerichtlich beeideten Dolmetsch aus der russischen Sprache samt Bestätigung der Botschaft der Republik Kasachstan in Österreich vor, dass der übersetzte russische Text der geltenden Rechtslage entspreche. Er macht vor allem geltend, dass die Übersetzung von Art 134 FamGB in dem von den Vorinstanzen herangezogenen Werk Bergmann/Ferid nicht ganz korrekt sei. Art 134 Abs 1 Z 2 laute richtigerweise:

„(1) Das Recht, Unterhaltszahlungen von ihrem Ex-Partner, der auch die nötigen Mittel dafür besitzt, durch ein Gericht zu verlangen, haben:

1. ...

2. ein bedürftiger Ex-Ehepartner, der das gemeinsame behinderte Kind bis zum Alter von 16 Jahren pflegt, sowie in den Fällen, wenn beim gemeinsamen behinderten Kind eine Behinderung des I. oder II. Grades nach dem 16. Lebensjahr festgestellt wird;

3. ein arbeitsunfähiger bedürftiger Ex-Partner, der bereits vor der Scheidung arbeitsunfähig geworden ist.

...“

Es reiche damit zur Begründung eines Unterhaltsanspruchs nicht aus, dass der hilfsbedürftige ehemalige Ehepartner sich um ein nicht behindertes Kind bis zu dessen 16. Lebensjahr kümmere. Auch die Höhe des zugesprochenen Unterhalts sei nicht nach kasachischem Sachrecht beurteilt worden.

Im Provisorialverfahren ist unstrittig, dass die Voraussetzungen für die Anerkennung der Ehescheidung gemäß § 97 AußStrG vorliegen. Da beide Streitteile kasachische Staatsbürger sind, ist gemäß § 18 Abs 1 IPRG kasachisches Unterhaltsrecht heranzuziehen. Strittig ist im vorliegenden Fall vor allem, welchen Text das anzuwendende Sachrecht, insbesondere Art 134 FamGB in der geltenden Fassung, hat.

Im Hinblick auf § 4 Abs 2 IPRG wird die amtswegige Ermittlungspflicht materiellen ausländischen Rechts von der Dringlichkeit der zu entscheidenden Maßnahme im Einzelfall abhängig gemacht (RIS-Justiz RS0040200, RS0109416, RS0005307). Zweck des Provisorialverfahrens ist es, möglichst rasch Rechtsschutz zu gewähren. Ausländisches Sachrecht ist daher im Provisorialverfahren im Allgemeinen schon dann anzuwenden, wenn die Richtigkeit des erhobenen Materials wahrscheinlich ist. Jedenfalls im Eilverfahren zur Gewährung einstweiligen Unterhalts scheidet etwa auch die Einholung des Gutachtens eines Sachverständigen aus (RIS-Justiz RS0115011). Beim amtswegigen Erforschen des ausländischen Rechts (RIS-Justiz RS0040189, RS0045126) haben die Parteien dem Gericht Beihilfe zu leisten (RIS-Justiz RS0045163). Es liegt daher grundsätzlich keine Verletzung des Neuerungsverbots vor, wenn im Rechtmittelverfahren dazu noch Urkunden vorgelegt werden (8 Ob 530/84).

Die Vorinstanzen haben sich mangels anderer verfügbarer Quellen bei der Ermittlung des kasachischen Rechts auf die Übersetzung im Standardwerk Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, gestützt. Durch die nunmehr vorliegenden Urkunden ergeben sich aber Zweifel an der Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit des von den Vorinstanzen erhobenen Gesetzestextes. Nach der nunmehr vorliegenden Übersetzung würde sich ein Unterhaltsanspruch der Klägerin aus den von den Vorinstanzen herangezogenen Art 134 Abs 1 Z 2 FamGB zur Zeit nicht ergeben, weil von den Vorinstanzen nicht geprüft wurde, ob bescheinigt ist, dass das betreute Kind der Streitteile behindert ist. Es ist dem Beklagten also gelungen, Zweifel an der Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit der vom Rekursgericht angewandten Rechtslage zu erwecken, die durchaus noch mit den Mitteln und im Rahmen des Provisorialverfahrens unter Beiziehung der Parteien abgeklärt werden kann.

Zur Absicherung des geltenden anzuwendenden Gesetzestextes wird das Erstgericht daher im fortzusetzenden Verfahren den Parteien Gelegenheit zu geben haben, sich zur nunmehr bescheinigten Rechtslage und zu den vorliegenden (Übersetzungs-)Widersprüchen zu äußern und allenfalls weitere prompte, die geltende Rechtslage aufklärende Beiträge, insbesondere auch zu allfälligen Rückverweisungen auf das österreichische Recht (vgl 1 Ob 171/09t [dort allerdings betreffend einen Unterhaltsanspruch bei aufrechter Ehe] und 1 Ob 201/09d [dort betreffend Ehescheidung]), dazu zu leisten. Erst dann kann abschließend beurteilt werden, welcher Gesetzestext als der (zumindest wahrscheinlich) richtige der Entscheidung zu Grunde zu legen ist.

Da der Inhalt der anzuwendenden gesetzlichen Grundlagen noch nicht absehbar ist, ist auf die weiters geltend gemachten Rechtsfragen zur Zeit nicht weiter einzugehen.

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf §§ 402 iVm 78 EO iVm § 52 ZPO.

Schlagworte

Gruppe: Internationales Privatrecht und Zivilverfahrensrecht,Unterhaltsrecht

Textnummer

E98268

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2011:0070OB00059.11V.0706.000

Im RIS seit

22.09.2011

Zuletzt aktualisiert am

13.05.2013
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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