TE OGH 2023/1/27 1Ob165/22d

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Veröffentlicht am 27.01.2023
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Musger als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Dr. Parzmayr und Dr. Faber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei T* GmbH, *, vertreten durch Dr. Paul Delazer, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei Rechtsanwaltskammer *, vertreten durch die Höhne, In der Maur & Partner Rechtsanwälte GmbH & Co KG in Wien, wegen 459.627,48 EUR sA, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 14. Juli 2022, GZ 14 R 199/21v-15, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 8. November 2021, GZ 31 Cg 10/21z-11, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 3.210,66 EUR (darin 535,11 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

[1]       Die Klägerin erlitt dadurch einen Schaden, dass eine für sie bestimmte Zahlung ihres damaligen Prozessgegners nicht auf ein Fremdgeldkonto (Anderkonto), sondern auf das persönliche Kanzleikonto ihres ehemaligen Rechtsvertreters gebucht, von diesem für eigene Zwecke verbraucht und schließlich das Konkursverfahren über sein Vermögen eröffnet wurde. Sie wirft der beklagten Anwaltskammer vor, pflichtwidrig eine Beaufsichtigung ihres früheren Rechtsvertreters hinsichtlich der Einhaltung der Verpflichtung, für Klientengelder Fremdgeldkonten zu führen, unterlassen zu haben.

[2]            Die Beklagte bestritt die ihr vorgeworfene Kontrollpflichtverletzung und wandte im Wesentlichen ein, dass die Überwachung der Pflichten der Rechtsanwälte durch die Rechtsanwaltskammer nicht den Schutz Dritter – wie insbesondere der Klägerin – bezwecke. Der Ersatzanspruch sei im Übrigen verjährt, weil die Klägerin das Fehlverhalten ihres damaligen Rechtsanwalts sowie den behaupteten Pflichtverstoß der beklagten Rechtsanwaltskammer bereits ab 2011 ohne nennenswerte Mühe erkennen hätte können.

[3]            Das Erstgericht wies die Klage ab. Dieser komme schon deshalb keine Berechtigung zu, weil die Verpflichtung der beklagten Rechtsanwaltskammer zur Kontrolle der Einhaltung der Pflichten ihrer Mitglieder nicht den Schutz von deren Klienten bezwecke. Der Schaden der Klägerin stehe daher in keinem Rechtswidrigkeitszusammenhang mit der behaupteten Kontrollpflichtverletzung der Beklagten. Mangels konkreter Anhaltspunkte für einen Pflichtverstoß des Rechtsanwalts der Klägerin habe für die Beklagte auch keine Veranlassung bestanden, dessen Kontoführung zu überprüfen. „Routinemäßige stichprobenartige Überprüfungen“ der Einhaltung der Regeln über die Kontenführung habe diese „nach dem Zufallsprinzip“ ohnehin durchgeführt. Die Frage der Verjährung könne mangels berechtigten Anspruchs dahingestellt bleiben.

[4]            Das Berufungsgericht bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung und ließ die ordentliche Revision nicht zu.

[5]            Der geltend gemachte Ersatzanspruch scheitere schon daran, dass die Klägerin die Kausalität der behaupteten Pflichtverletzung für den eingetretenen Schaden nicht hinreichend dargelegt habe. Eine Haftung der Beklagten käme nur in Betracht, wenn der ihr vorgeworfene Überwachungsfehler dafür, dass der frühere Rechtsanwalt der Klägerin ihr Geld für eigene Zwecke verwendete, ursächlich gewesen wäre. Dies wäre aber nur bei einer – durch die fehlende Kontentrennung bedingten – irrtümlichen Verwendung ihres Geldes denkbar gewesen. Eine vorsätzliche Veruntreuung wäre auch durch Einhaltung der Pflicht zur getrennten Kontenführung, deren mangelnde Kontrolle die Klägerin der Beklagten vorwirft, nicht verhindert worden. Da die Klägerin nicht behauptet habe, auf welche Art (irrtümlich oder wissentlich) ihr Rechtsanwalt das Geld verwendete, komme der Klage mangels Darlegung der Ursächlichkeit des behaupteten Fehlverhaltens keine Berechtigung zu.

[6]            Die Revision sei mangels erheblicher Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

Rechtliche Beurteilung

[7]            Entgegen diesem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch ist die Revision der Klägerin zulässig, weil das Berufungsgericht ihr Vorbringen gegen ihren erklärten Willen auslegte (RS0042828 [T30]) und bei richtigem Verständnis eine nähere Auseinandersetzung mit dem Schutzzweck der allgemeinen Kontrollpflicht der Rechtsanwaltskammer geboten ist. Sie ist aber im Ergebnis nicht berechtigt.

[8]            1. Das Berufungsgericht differenzierte bei der von ihm vorgenommenen Kausalitätsprüfung zutreffend danach, ob der frühere Rechtsvertreter der Klägerin bei Zueignung des ihr zustehenden Geldbetrags vorsätzlich handelte oder ob er ihr Geld irrtümlich für eigenes hielt. Der angefochtenen Entscheidung ist auch insoweit zu folgen, als der Schaden der Klägerin ebenso eingetreten wäre, wenn der von ihrem Rechtsanwalt treuhändig verwahrte Geldbetrag zwar – wie dies nach § 43 der Richtlinien für die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs 2015 (RL-BA 2015; vgl auch bereits die RL-BA 1977) erforderlich gewesen wäre – auf einem gesonderten Fremdgeldkonto erlegt worden wäre, sich der Rechtsanwalt diesen Betrag aber vorsätzlich zugeeignet hätte. In diesem Fall hätten auch entsprechende Kontrollmaßnahmen der Beklagten den Schaden nicht verhindert. Dies zieht die Revisionswerberin nicht in Zweifel.

[9]            2. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts erstattete die Klägerin jedoch ein hinreichendes Vorbringen dazu, dass sich ihr früherer Rechtsvertreter den ihr zustehenden Geldbetrag – aufgrund der fehlenden Kontentrennung – lediglich „aus Versehen“ zugeeignet habe. Unter Hinweis auf diese Möglichkeit war der Rechtsanwalt im gegen ihn geführten Strafverfahren im Zweifel freigesprochen worden. Sie behauptete, dass der Rechtsanwalt das Geld nicht irrtümlich für sich verwendet hätte, wenn es auf einem Fremdgeldkonto erlegt worden wäre. Damit brachte sie ihren Prozessstandpunkt, wonach der Rechtsanwalt das für sie verwahrte Geld fahrlässig verbraucht habe, ausreichend klar zum Ausdruck. Dass die Klägerin in erster Instanz auch Vorbringen erstattete, das auf eine vorsätzliche Verwendung ihres Geldes durch den Rechtsanwalt hindeutete, schadet nicht. Werden unterschiedliche (auch einander widersprechende) rechtserzeugende Tatsachen geltend gemacht, die jede für sich dem einheitlichen Urteilsbegehren zum Erfolg verhelfen sollte, so entspricht dies vielmehr einer zulässigen kumulierten Klagenhäufung (RS0038130; 3 Ob 5/16f mwN).

[10]           3. Das Erstgericht stellte nur fest, dass der Rechtsanwalt der Klägerin im Strafverfahren von dem gegen ihn erhobenen Vorwurf der Untreue freigesprochen wurde, weil nicht festgestellt werden konnte, ob er sich das Geld vorsätzlich zugeeignet hatte. Ob er es tatsächlich vorsätzlich oder fahrlässig verbrauchte, kann den erstinstanzlichen Feststellungen nicht entnommen werden. Das Erstgericht traf dazu auch keine Negativfeststellung. Dies begründet jedoch keinen rechtlich relevanten Feststellungsmangel, weil die Beklagte – was noch zu zeigen ist – auch dann, wenn sich der frühere Rechtsvertreter das für die Klägerin bestimmte Geld irrtümlich zugeeignet hätte, nicht für den dadurch entstandenen Schaden haftete.

[11]           4. Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte erkennen hätte können, dass der ehemalige Rechtsvertreter der Klägerin entgegen § 43 RL-BA 2015 bzw RL-BA 1977 keine Fremdgeldkonten führte, ergeben sich weder aus dem Klagevorbringen noch aus dem festgestellten Sachverhalt. Nach den erstinstanzlichen Feststellungen bestanden gerade keine Anhaltspunkte dafür, dass er gegen diese Bestimmung verstoßen hätte. Somit bestand auch kein besonderer Anlass der Beklagten zur Kontrolle gerade dieses bestimmten Rechtsanwalts.

[12]           5. Dass laufende Kontrollen sämtlicher Mitglieder der Beklagten im Hinblick auf die Einhaltung ihrer Berufspflichten (hier zur Führung von Fremdgeldkonten) „lebensfremd“ wären und die Kontrollpflicht der Beklagten überspannen würden, gesteht die Klägerin selbst zu. Sie wirft der Beklagten aber vor, nicht einmal stichprobenartige Kontrollen vorgenommen zu haben. Dem steht zwar die Feststellung entgegen, dass sie „routinemäßige stichprobenartige Überprüfungen nach dem Zufallsprinzip“ durchführte (in welchem Umfang diese erfolgten, ließ das Erstgericht offen). Die Klägerin bekämpfte diese Feststellung jedoch in ihrer Berufung, womit sich das Berufungsgericht allerdings nicht auseinandersetzte, weil es diese als nicht entscheidungswesentlich ansah. Dem ist im Ergebnis – wenngleich aus anderen als den vom Berufungsgericht angestellten Erwägungen – zuzustimmen.

6. Keine Schutzgesetzverletzung

[13]           6.1. Schutzgesetze iSd § 1311 ABGB sind abstrakte Gefährdungsverbote, die dazu bestimmt sind, die Mitglieder eines Personenkreises gegen die Verletzung von Rechtsgütern zu schützen (RS0027710). In einem Schutzgesetz ist eine konkrete und detaillierte Verhaltensnorm zu sehen, die das gebotene bzw verbotene Verhalten genauer umschreibt. Schutzgesetze haben insoweit eine „Verdeutlichungsfunktion“ (RS0027367). Sie bezwecken durch die Umschreibung konkreter Verhaltenspflichten, einem Schadenseintritt vorzubeugen (RS0027710 [T22]). Allgemein gehaltene Bestimmungen, die keine konkreten Verpflichtungen normieren, sind keine Schutzgesetze (2 Ob 28/19k mwN). § 1311 ABGB wäre nicht vollziehbar, könnte nicht zwischen Schutzgesetzverletzungen und Verletzungen anderer, nicht konkret umschriebener Verhaltensgebote unterschieden werden (RS0027567). Nicht jeder Schutz bzw Vorteil einer bestimmten Person, den eine Norm tatsächlich bewirkt, ist auch von deren Schutzzweck erfasst (RS0027553 [T14]).

[14]           6.2. Die Klägerin wirft der Beklagten einen Verstoß gegen § 23 Abs 2 zweiter Satz RAO vor. Die ersten beiden Sätze dieser Bestimmung lauten wie folgt:

„Die Rechtsanwaltskammer hat innerhalb ihres Wirkungsbereiches die beruflichen, sozialen und wirtschaftlichen Interessen der der Rechtsanwaltskammer angehörenden Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter wahrzunehmen, zu fördern und zu vertreten. Dabei obliegt der Rechtsanwaltskammer insbesondere auch die Wahrung der Ehre, des Ansehens und der Unabhängigkeit des Rechtsanwaltsstandes sowie die Wahrung der Rechte und die Überwachung der Pflichten ihrer Mitglieder […].“

[15]           § 23 Abs 2 RAO wurde in der Vergangenheit mehrfach novelliert. Auch die früheren Fassungen ordneten jeweils an, dass die Rechtsanwaltskammer die beruflichen, sozialen und wirtschaftlichen Interessen der Rechtsanwälte wahrzunehmen, zu fördern und zu vertreten habe und ihr dabei insbesondere die Wahrung der Ehre, des Ansehens und der Unabhängigkeit des Rechtsanwaltsstandes sowie die Wahrung der Rechte und die Überwachung der Pflichten des Rechtsanwaltsstandes bzw (ab BGBl I 10/2017) ihrer Mitglieder obliege. Die Überwachung der rechtsanwaltlichen Pflichten war also seit jeher allgemeine Aufgabe der Rechtsanwaltskammer (1 Ob 19/08p; vgl aber auch Jahoda, Sinn und Widersinn anwaltlicher Freiheit, ÖJZ 1984, 150, der im Hinblick auf das Fehlen einer § 154 NO vergleichbaren Bestimmung keine Pflicht zur Überwachung der Geldgebarung des Rechtsanwalts annimmt). Die Pflichten nach § 23 Abs 2 RAO obliegen gemäß § 28 Abs 2 RAO bzw § 1 Abs 3 DSt dem Ausschuss der Rechtsanwaltskammer (Engelhart/Hoffmann/Lehner/Rohregger/Vitek, RAO10 [2018] § 23 RAO Rz 8; RS0072123).

[16]           6.3. Zweck des Überwachungs- und Aufsichtsrechts (der diesbezüglichen Pflicht) der Rechtsanwaltskammer ist es nach der rechtswissenschaftlichen Literatur, Ehre und Ansehen des Standes zu wahren sowie alle Maßnahmen zu treffen, um Verletzungen der Berufspflichten durch Standesangehörige möglichst hintanzuhalten. An der Erfüllung dieser Aufgabe besteht demnach „vor allem“ ein objektives Interesse des Rechtsanwaltsstandes und „weniger“ ein subjektives Interesse des einzelnen Standesangehörigen bzw anderer Personen, insbesondere von Klienten (Engelhart/Hoffmann/Lehner/Rohregger/Vitek, RAO10 § 23 RAO Rz 10; Stolzlechner, Zur Erteilung standesrechtlicher Aufträge sowie zur Erlassung von Feststellungsbescheiden durch den Ausschuss einer Rechtsanwaltskammer gem § 23 RAO, AnwBl 1999, 532). Auf die Einleitung eines Verfahrens zur Setzung von Aufsichtsmaßnahmen (gegenüber Dritten) steht daher auch niemand ein Anspruch zu (Stolzlechner aaO).

[17]           Wohl anders sieht die Sache Wilhelm (Vom Schutzzweck der Haftungsbefreiung, ecolex 2018, 199). Seiner Ansicht nach dienen § 23 Abs 2 RAO, § 1 Abs 1 DSt und § 3 RL-BA zwar in erster Linie den Interessen des Standes, „aber eben deshalb notwendigerweise auch dem Interesse der Klienten an tadelloser Erfüllung der anwaltlichen Pflichten ihnen gegenüber, weil konkrete Fehler im Einzelfall das Ansehen des Standes insgesamt gefährdeten“. Im Gesamtzusammenhang scheint er damit den Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen einer Verletzung von Überwachungspflichten und dadurch verursachten Schäden von Klienten zu bejahen. Eine nähere Begründung enthalten seine Ausführungen aber nicht.

[18]           6.4. In der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs wird die in § 23 Abs 2 RAO vorgesehene Standesaufsicht „nur“ als programmatischer, die Aufsichtsziele umschreibenden Auftrag an die jeweils zuständigen Organe der Rechtsanwaltskammer verstanden, auf dessen Durchführung niemand ein Rechtsanspruch zusteht (6 Ob 100/11s). Die konkrete Frage nach dem Schutzzweck des § 23 Abs 2 RAO wurde in dieser Entscheidung ausdrücklich offen gelassen. In den zu 1 Ob 19/08p (Veruntreuung von Klientengeldern) sowie zu 1 Ob 228/09z (unzureichende Fremdgeldgebarung) ergangenen Entscheidungen des Fachsenats, die jeweils eine Haftung verneinten, wurde diese Frage nicht erörtert.

[19]           6.5. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs kommt weder Standesgenossen noch anderen Personen (also insbesondere Klienten) ein subjektives Recht darauf zu, dass der Ausschuss der Rechtsanwaltskammer im Rahmen des allgemeinen Aufsichtsrechts gemäß § 23 RAO tätig wird (VwGH 92/01/0033 ua). Die Standesaufsicht stelle nur einen programmatisch die Aufsichtsziele umschreibenden Auftrag an die zuständigen Organe der Rechtsanwaltskammer dar, auf deren Durchführung niemand ein Rechtsanspruch zustehe (VwGH 1751/77 ZfVB 1985/1342). Nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofs (B 101/52 VfSlg 2400) legt § 23 RAO der Rechtsanwaltskammer die Verpflichtung zur Wahrung des Ansehens des Rechtsanwaltsstandes auf.

[20]           6.6. § 73 Abs 2 Z 4 der deutschen Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) sieht vor, dass dem Vorstand der Rechtsanwaltskammer die Aufgabe obliegt, die Erfüllung der den Mitgliedern der Kammer obliegenden Pflichten zu überwachen (und das Recht der Rüge zu handhaben). Dazu wird in der deutschen Rechtsprechung vertreten, dass die Berufsaufsicht der Rechtsanwaltskammer über ihre Mitglieder nicht der Wahrung individueller Belange, sondern (nur) dem öffentlichen Interesse diene (dBVerwG 1 B 23/92 NJW 1993, 2066; BGH 7. 7. 2021, AnwZ 1/21). Dies entspricht auch der Auffassung in der deutschen Literatur (Weyland in Weyland, Bundesrechtsanwaltsordnung10 [2020] § 73 BRAO Rz 27 mwN; Dahns, Folgen berufsrechtlicher Verstöße, NJW-Spezial 2015, 766).

[21]           6.7. Auf dieser Grundlage sprechen nach Ansicht des erkennenden Senats die besseren Argumente dafür, dass es sich bei § 23 Abs 2 RAO um kein Schutzgesetz zugunsten des Mandanten eines Rechtsanwalts handelt.

[22]           6.7.1. Nach dem ersten Satz dieser Bestimmung hat die Rechtsanwaltskammer die beruflichen, sozialen und wirtschaftlichen Interessen der Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter wahrzunehmen, zu fördern und zu vertreten. Die ihr nachfolgend demonstrativ („insbesondere“) aufgetragenen Pflichten konkretisieren bloß dieses umfassende Gebot der Interessenwahrung, -förderung und -vertretung. Insoweit legt schon der Wortlaut des § 23 Abs 2 RAO nahe, dass die allgemeine Verpflichtung der Rechtsanwaltskammer zur Überwachung der Einhaltung der Pflichten ihrer Mitglieder nicht (auch) dem Schutz individueller Vermögensinteressen der Mandanten dient.

[23]                    6.7.2. Gegen einen von § 23 Abs 2 RAO bezweckten Schutz des Mandanten eines Rechtsanwalts spricht auch die bloß programmatische Formulierung dieser Bestimmung. Die allgemeine Pflicht der Rechtsanwaltskammer zur Überwachung der Einhaltung der Pflichten ihrer Mitglieder wird weder in der RAO noch in den RL-BA näher konkretisiert. Der Rechtsanwaltskammer werden insbesondere keine bestimmten Kontrollmaßnahmen aufgetragen und es werden (mit gewissen Ausnahmen) auch keine konkreten rechtsanwaltlichen Pflichten genannt, deren Einhaltung die Kammer konkret zu überprüfen hätte. Insbesondere erfolgt keine Bezugnahme auf die Verpflichtung der Rechtsanwälte zur Einhaltung der Bestimmungen über die Fremdgeldgebarung nach § 43 RL-BA. Insoweit unterscheidet sich § 23 Abs 2 RAO von § 154 NO, der für die vorbeugende (Wagner/Knechtel, Kommentar zur Notariatsordnung6 [2006] § 154 Rz 1) Überprüfung der Geldgebarung der Notare durch die Notariatskammer konkrete Vorgaben enthält.

[24]           6.7.3. Die gänzlich allgemeine Aufsichtspflicht des § 23 Abs 2 RAO unterscheidet sich durch ihren bloß programmatischen Charakter auch maßgeblich von der konkreten Kontrollpflicht des § 23 Abs 6 RAO (ursprünglich Abs 4) im Zusammenhang mit von Rechtsanwälten übernommenen Treuhandschaften unter Inanspruchnahme der von der Rechtsanwaltskammer zu führenden Treuhandeinrichtung. Nach dieser Bestimmung hat die Rechtsanwaltskammer die Einhaltung der ihren Mitgliedern obliegenden Pflichten nach § 10a RAO sowie der aufgrund von § 27 Abs 1 lit g RAO erlassenen Richtlinien zu überprüfen. Im Unterschied zu § 23 Abs 2 RAO enthalten § 10a RAO sowie die – auf Grundlage des § 27 Abs 1 lit g RAO beschlossenen – Statuten der Treuhandeinrichtung der Rechtsanwaltskammer * 2019 (zuvor 2010) konkrete Vorgaben zur den Informations-, Melde-, Auskunfts- und Offenlegungspflichten des Rechtsanwalts gegenüber der Kammer sowie zu deren Kontroll- und Überprüfungspflichten.

[25]           Nach den Materialien zum Berufsrechts-Änderungsgesetz 2010 (BGBl I 141/2009), mit dem § 10a RAO und § 23 Abs 4 RAO (nunmehr Abs 6) eingefügt wurden, begründen die Aufgaben der Rechtsanwaltskammer zwar grundsätzlich keine Rechte von Personen, die von „jenem Personenkreis, welche dem Selbstverwaltungskörper die erforderliche demokratische Legitimation vermitteln“, verschieden sind. Bei den Bestimmungen zur anwaltlichen Treuhandschaft handle es sich jedoch um eine für den Bereich des Klientenschutzes zentrale Bestimmung (ErlRV 483 BlgNR 24. GP 4).

[26]           Auf Grundlage dieser Erläuterungen gingen sowohl der Verfassungsgerichtshof (VfSlg 19.588) als auch der Oberste Gerichtshof (1 Ob 137/20h) davon aus, dass die Treuhandeinrichtung (auch) dem Klientenschutz diene. Daraus kann für den vorliegenden Fall einer (behaupteten) Kontrollpflichtverletzung nach § 23 Abs 2 Satz 2 RAO aber nichts gewonnen werden. Gemäß § 10a Abs 2 letzter Satz RAO besteht bei Beträgen, die der Rechtsanwalt – wie hier – im Rahmen einer Prozessführung (treuhändig) entgegennimmt, nämlich gerade keine Pflicht zur Inanspruchnahme der von der Rechtsanwaltskammer zu führenden Treuhandeinrichtung. Die zur anwaltlichen Treuhandschaft nach § 10a RAO angestellten Erwägungen können daher nicht auf die Verwahrung solcher Beträge übertragen werden. Nach Ansicht des erkennenden Senats legt die konkrete und detaillierte Normierung dieser Pflichten in den § 23 Abs 6 RAO (idgF) und § 10a RAO sowie im Statut der Treuhandeinrichtung der Rechtsanwaltskammer (woraus unter Umständen auf eine Einbeziehung des Klienten in den Schutzbereich der Kontrollpflichten geschlossen werden könnte) vielmehr nahe, dass es sich (e contrario) bei der demgegenüber gänzlich unkonkreten Bestimmung des § 23 Abs 2 Satz 2 RAO gerade um kein Schutzgesetz zugunsten des Klienten handelt. Wäre ein solcher Schutz durch diese Bestimmung intendiert gewesen, wäre die dort nur ganz allgemein erwähnte Kontrollpflicht der Rechtsanwaltskammer wohl – ebenso wie in § 23 Abs 6 iVm § 10 RAO – konkreter geregelt worden.

[27]           7. Die Vorinstanzen wiesen die Klage somit im Ergebnis zu Recht ab. Die diese Entscheidung tragenden Erwägungen können wie folgt zusammengefasst werden:

Die Verpflichtung der Rechtsanwaltskammer zur Überwachung ihrer Mitglieder (§ 23 Abs 2 RAO) dient nicht dem Schutz der Mandanten.

[28]     8. Die Kostenentscheidung beruht auf § 41 iVm § 50 ZPO.

Textnummer

E137440

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2023:0010OB00165.22D.0127.000

Im RIS seit

02.03.2023

Zuletzt aktualisiert am

02.03.2023
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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