TE OGH 2022/1/24 7Nc2/22m

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Veröffentlicht am 24.01.2022
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Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und den Hofrat Mag. Dr. Wurdinger und die Hofrätin Mag. Malesich als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei E* B*, vertreten durch Mag. Ibrahim Erman, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei P* A.S., *, wegen 509,55 EUR sA, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Ordinationsantrag wird abgewiesen.

Text

Begründung:

[1]       Der Kläger strebt – gestützt auf die Verordnung (EG) Nr 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. 2. 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr 295/91 (in der Folge kurz „Fluggastrechte-Verordnung“) – die Verpflichtung des beklagten Luftfahrtunternehmens mit Sitz in der Türkei zur Zahlung von 509,55 EUR an. Der vom Kläger bei der Beklagten gebuchte Flug von Wien nach Istanbul sei aufgrund eines von der Beklagten zu verantwortenden Umstands annulliert worden.

[2]       Das Bezirksgericht Schwechat wies die Klage mangels Zuständigkeit zurück. Das Landesgericht Korneuburg als Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung.

[3]       Nach Rechtskraft des Zurückweisungsbeschlusses legte das Bezirksgericht Schwechat den Akt zur Entscheidung über den vom Kläger im Rekurs hilfsweise gestellten Ordinationsantrag nach § 28 JN vor.

[4]       Die Voraussetzungen für eine Ordination liegen nicht vor.

Rechtliche Beurteilung

[5]       1. Der in Österreich wohnhafte Kläger stützt seinen Ordinationsantrag auf § 28 Abs 1 Z 2 JN. Danach hat der Oberste Gerichtshof, wenn für eine bürgerliche Rechtssache die Voraussetzungen für die örtliche Zuständigkeit eines inländischen Gerichts nicht gegeben oder nicht zu ermitteln sind, aus den sachlich zuständigen Gerichten eines zu bestimmen, welches für die fragliche Rechtssache als örtlich zuständig zu gelten hat, wenn der Kläger österreichischer Staatsbürger ist oder seinen Wohnsitz, gewöhnlichen Aufenthalt oder Sitz im Inland hat und im Einzelfall die Rechtsverfolgung im Ausland nicht möglich oder unzumutbar wäre.

[6]       2. Die Voraussetzungen des § 28 Abs 1 Z 2 JN sind in streitigen bürgerlichen Rechtssachen vom Antragsteller zu behaupten und zu bescheinigen (§ 28 Abs 4 Satz 2 JN; vgl RS0124087).

[7]       3. Das Bezirksgericht Schwechat hat die internationale Zuständigkeit verneint und die Klage zurückgewiesen. An diese in Rechtskraft erwachsene Entscheidung ist der Oberste Gerichtshof gebunden (RS0046568 [T5]). Die bereits erfolgte Zurückweisung der Klage steht dem Ordinationsantrag nicht grundsätzlich entgegen, weil im Fall seiner Stattgebung die Klage neu beim ordinierten Gericht einzubringen wäre (RS0046568 [T4]).

[8]            4.1 Die behauptete Unmöglichkeit und Unzumutbarkeit der Rechtsverfolgung im Ausland begründet der Kläger damit, dass die Republik Österreich aufgrund des im Anwendungsvorrang stehenden Gemeinschaftsrechts verpflichtet sei, sicherzustellen, dass ein Fluggast seine Rechte nach der Fluggastrechte-Verordnung wirksam wahrnehmen und auch effektiv (gerichtlich) durchsetzen könne. Verneinte man die inländische Gerichtsbarkeit, so führte dies zur praktischen Undurchsetzbarkeit der Fluggastrechte-Verordnung. Türkische Gerichte wendeten nämlich nicht EU-Gemeinschaftsrecht, sondern türkisches nationales Recht und die „Verordnung über Fluggastrechte des türkischen Generaldirektorats für Zivilluftfahrt“ (kurz „SHY-Verordnung“) an. Diese SHY-Verordnung sei zwar der Fluggastrechte-Verordnung nachempfunden, jedoch gebe es wesentliche Unterschiede. Insbesondere unterliege die Auslegung der SHY-Verordnung nicht der Rechtsprechung des EuGH. Soweit bekannt werde nach der türkischen SHY-Verordnung eine Ausgleichszahlung auch nur im Falle einer Überbuchung gewährt, nicht jedoch für andere Fälle der Beförderungsverweigerung. Selbst wenn türkische Gerichte die Fluggastrechte-Verordnung anwenden würden, wäre dennoch von einer übermäßigen Erschwernis für Verbraucher auszugehen, wenn diese ihre Rechte nur in einem Drittstaat wahrnehmen könnten und nicht innerhalb der EU.

[9]            4.2 Die Ordination nach § 28 Abs 1 Z 2 JN soll dem Obersten Gerichtshof nicht die Möglichkeit bieten, grundsätzlich jede Rechtssache, zu deren Entscheidung die Zuständigkeitsvorschriften kein österreichisches Gericht berufen, der österreichischen Gerichtsbarkeit zu unterwerfen (RS0046322) und damit einen allgemeinen Klägergerichtsstand zu etablieren (RS0046322 [T1]). § 28 Abs 1 Z 2 JN soll Fälle abdecken, in denen trotz Fehlens eines Gerichtsstands im Inland ein Bedürfnis nach Gewährung inländischen Rechtsschutzes vorhanden ist, weil ein Naheverhältnis zum Inland besteht und im Einzelfall eine effektive Klagemöglichkeit im Ausland fehlt (RS0057221 [T4]). Ist im Ausland ausreichender Rechtsschutz gewährleistet und würde die ausländische Entscheidung im Inland auch vollstreckt werden, so besteht bei Fehlen einer inländischen Zuständigkeit kein Anlass zur Bejahung der inländischen Gerichtsbarkeit (RS0046159).

[10]           4.3 Das Naheverhältnis zum Inland ist hier insofern zu bejahen, als der Kläger seinen Wohnsitz in Wien hat und der Abflugort im Inland lag. Zur weiteren Voraussetzung der Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Rechtsverfolgung im Ausland entspricht es der Rechtsprechung, dass eine unterschiedliche Ausgestaltung der materiellen Rechtslage allein für eine Ordination nicht ausreichen kann. Eine günstigere oder ungünstigere materielle Rechtslage allein kann nicht die Begründung einer ansonsten nicht gegebenen inländischen Gerichtsbarkeit bewirken (5 Nc 11/21v; RS0117751). Der Ansicht, eine wirksame Durchsetzung der Ansprüche nach der Fluggastrechte-Verordnung sei nur dann gewährleistet, wenn diese vor einem Gericht eines Mitgliedstaats geltend gemacht werden, ist daher nicht zu folgen (RS0117751 [T5]).

[11]           4.4 Der Oberste Gerichtshof hat in mehreren Entscheidungen zu ähnlich gelagerten Sachverhalten (Beklagte waren jeweils Flugunternehmen mit Sitz in der Türkei), die Voraussetzungen für eine Ordination im Sinn des § 28 Abs 1 Z 2 JN verneint (7 Nc 21/21d; 5 Nc 11/21v; 9 Nc 14/19m; 9 Nc 39/19p; 10 Nc 38/19y; vgl auch 8 Nc 29/19k).

Die diese Entscheidungen tragenden Erwägungen treffen auch auf den vorliegenden Fall zu:

[12]           Eine Unzumutbarkeit der Rechtsverfolgung in der Türkei ist nicht anzunehmen, weil die Türkei eine eigene Fluggastverordnung („SHY-Passenger“, Regulation on Air Passenger Rights from the Directorate General of Civil Aviation) kennt, die in Art 6 iVm Art 8 bis 10 auch Regelungen für die Annullierung eines Fluges („Cancellation of flights“) enthält (vgl 5 Nc 11/21v).

[13]     Eine Unzumutbarkeit der Rechtsverfolgung im Ausland liegt nicht vor, weil zwischen Österreich und der Türkei ein Abkommen über die Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen und Vergleichen in Zivil- und Handelssachen besteht (BGBl 1992/571).

[14]           Der unionsrechtliche Effektivitätsgrundsatz bietet keine Grundlage dafür, eine allenfalls fehlende (generelle) Zuständigkeitsvorschrift des Verfahrensrechts nur im Hinblick auf diese Grundsätze generell und unabhängig vom Einzelfall zu ersetzen. Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass das – auch vom Kläger gebrauchte – Prozesskostenargument bei Distanzprozessen für beide Parteien jeweils mit umgekehrten Vorzeichen besteht und daher zu Lasten des Klägers geht (RS0046420). Richtig ist, dass auch bereits argumentiert wurde, dass bei einem Verbraucher die Frage der Kostspieligkeit der Führung des Rechtsstreits im Ausland stärker berücksichtigt werden soll (vgl 10 Nc 19/05h; 6 Nc 1/19b = RS0046420 [T14]). Diese kann aber nur ein Zusatzargument sein und nicht als alleiniger Grund für die Ordination herangezogen werden, führte doch eine andere Sichtweise – vor dem Hintergrund, dass die Prozessführung im Ausland üblicherweise kostspieliger ist – selbst in einem Fall wie dem hier vorliegenden, in dem im Ausland ausreichender Rechtsschutz gewährleistet wird und die ausländische Entscheidung im Inland auch vollstreckt werden kann, zu der – wie bereits ausgeführten – vom Gesetzgeber nicht intendierten Etablierung eines generellen Klägergerichtsstands.

[15]           5. Die Voraussetzungen für eine Ordination nach § 28 Abs 1 Z 2 JN sind daher nicht gegeben.

Textnummer

E134027

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2022:0070NC00002.22M.0124.000

Im RIS seit

13.03.2022

Zuletzt aktualisiert am

13.03.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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