TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/7 W182 1261908-4

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 07.06.2021
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Entscheidungsdatum

07.06.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z4
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
AsylG 2005 §8 Abs3a
AsylG 2005 §9 Abs2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z3
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W182 1261908-4/31E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. PFEILER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU) GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.10.2019, Zl. 740467005 – 190158145 / BMI-BFA_STM_AST_01, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz, BGBI. I. Nr 33/2013 (VwGVG) idgF, zu Recht erkannt:

A) I. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I. bis IV. und VI. - VII. des bekämpften Bescheides gemäß §§ 7 Abs. 1 Z 2 und Abs. 4, 8 Abs. 3a, 10 Abs. 1 Z 4, 57 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG 2005) idgF, § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, und §§ 52 Abs. 2 Z 3, Abs. 9, 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1, 46 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass die Dauer des verhängten Einreiseverbotes auf drei Jahre herabgesetzt wird.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt V. wird stattgegeben und gemäß § 8 Abs. 3a AsylG 2005 iVm § 9 Abs. 2 AsylG 2005 festgestellt, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung von XXXX in die Russische Föderation unzulässig ist.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz, BGBl. I Nr. 1/1930 (B-VG) idgF, nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, gehört der tschetschenischen Volksgruppe an und ist muslimischen Glaubens.

Er stellte am 17.03.2004 in Österreich einen Asylantrag, welcher mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 10.06.2005, Zl. 04 04.670- BAG, abgewiesen wurde. Der dagegen erhobenen Berufung wurde mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenats vom 26.09.2006, Zl. 261.908/5-IX/25/06, stattgegeben und dem BF der Status eines Asylberechtigten gemäß § 7 AsylG 1997 zuerkannt.

Mit der Entscheidung wurde festgestellt, dass der BF am ersten Tschetschenienkrieg als Widerstandskämpfer teilgenommen und auch im zweiten Tschetschenienkrieg die tschetschenische Seit unterstützt habe. Im ersten Tschetschenienkrieg habe der BF umfangreiche Verletzungen (Entfernung einer Niere, Metallsplitterverletzungen) erlitten. Im Februar 2002 sei er von russischen Milizen unter dem Verdacht, aktiver Widerstandskämpfer zu sein, festgenommen, bis November 2002 festgehalten und dann gegen zwei russische Soldaten ausgetauscht worden. Nach neuerlichen Nachforschungen durch die russische Miliz und Bedrohung der Familie sei der BF mit seiner Gattin XXXX und einem gemeinsamen Kind nach Österreich geflüchtet. Der BF, seine Gattin und ein am XXXX 2006 in Österreich geborenes gemeinsames Kind seien HIV-infiziert, wobei beim BF Anfang 2006 erste Symptome des Immunmangels bekannt geworden seien. Der BF sei multimorbid und müsste angesichts der festgestellten Einschränkungen der Therapiemöglichkeit ( XXXX ) die HIV-Therapie in einem spezialisierten HIV-Zentrum mit begleitender Kontrolle durchgeführt werden. Der BF habe auch psychische Probleme mit depressiver Symptomatik, welche mit den traumatisierenden Erlebnissen in Tschetschenien in Verbindung stehen.

Die Entscheidung wurde im Kern wie folgt begründet:

„Vor dem Hintergrund der getroffenen Feststellungen zur Situation ethnischer Tschetschenen in der Russischen Föderation besteht für den Berufungswerber im Zusammenhang mit dem individuellen festgestellten Sachverhalt eine objektiv nachvollziehbare Verfolgungsgefahr.

Der Berufungswerber ist nach den getroffenen Feststellungen in das Blickfeld der russischen Behörden gelangt und es ist davon auszugehen, dass er von, staatlicher Seite aus politischen Gründen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit als Gegner angesehen, bzw. eine solche Gegnerschaft oder Sympathie und tatkräftige Unterstützung für solche Gegner in Verbindung mit seiner ethnischen Herkunft unterstellt würde.

Dem Berufungswerber wäre es überdies wegen der gegenüber Tschetschenen praktizierten Restriktionen beim Erwerb von Zuzugsgenehmigungen praktisch unmöglich sich außerhalb Tschetscheniens niederzulassen und sich eine Existenzgrundlage zu schaffen, zumal er auch über entsprechende verwandtschaftliche Beziehungen nicht verfügt.“

1.2. Der BF wurde in Österreich bisher dreizehn Mal durch Gerichte rechtskräftig verurteilt.

Mit Urteil des Landesgerichts XXXX , Zl. XXXX , vom XXXX 2004 wurde der BF wegen des Vergehens der Körperverletzung und versuchter Nötigung gemäß § 83 Abs. 1 StGB, und §§ 15, 105 Abs.1 StGB rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt, die unter Verhängung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX 2006, Zl. XXXX , wurde der BF wegen des Verbrechens des teils versuchten, teils vollendeten gewerbsmäßigen Diebstahls gemäß § 127, 15 StGB, §§ 130, 15 StGB rechtskräftig zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF im März 2005 wiederholt Diebstähle in Kaufhäusern begangen hat. Als mildernd wurde das Geständnis und der Versuch gewertet, als erschwerend wurden die Tatwiederholung und die Tatbegehung innerhalb der Probezeit angesehen.

Mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom XXXX 2008, Zl. XXXX , wurde der BF wegen versuchten Diebstahls gemäß §§ 15, 127 StGB rechtskräftig zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 2,- € verurteilt.

Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX 2009, XXXX , wurde er wegen des Vergehens der Nötigung und des Diebstahls gemäß § 105 Abs. 1 StGB und § 127 StGB rechtskräftig zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Dem Urteil lag zugrunde, dass er im Dezember 2008 einer Person Drogen mit dem Vorsatz weggenommen hat, um sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern. Im Jänner 2009 hat er als Mittäter eine Person gegen die Wand gestoßen, ihr einen Kopfstoß versetzt und sie mit Gewalt genötigt, die von ihm in Zusammenhang mit einem Drogenkauf übergebenen 100,- € wieder zurückzugeben. Als mildernd wurde eine verminderte Zurechnungsfähigkeit berücksichtigt, als erschwerend wurden hingegen die Vorstrafenbelastung (drei einschlägige Vorstrafen), das Aufeinandertreffen zweier Vergehen und der rasche Rückfall gewertet.

Mit Urteil des Landegerichtes XXXX vom XXXX 2010, Zl. XXXX , wurde der BF wegen des Verbrechens der versuchten absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 15, 87 Abs. 1 StGB, des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 und Abs. 2 StGB, des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB und des Vergehens des Hausfriedensbruches nach § 109 Abs. 1 und Abs. 3 Z 1 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von zwei Jahren rechtskräftig verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF am XXXX 2010 einer Person dadurch, dass er sie würgte, eine Vielzahl von Faustschlägen auch ins Gesicht versetzte, ihren Kopf gegen die Wand und eine Kastentüre stieß, sie zu Boden stieß, wo er ihr eine Vielzahl an Fußtritten auch gegen die Rippen versetzte und eine volle Bierflasche mit solcher Wucht auf ihren Brustkorb links schlug, dass die Flasche dabei zerbrach, eine schwere Körperverletzung absichtlich zuzufügen versucht hat. Die Tat hatte eine Gehirnerschütterung, eine Brustkorbprellung sowie Abschürfungen im Nackenbereich, am rechten Oberarm und am linken Kiefer zur Folge. Durch die während der Tathandlung getätigte und wiederholte Äußerung, er werde sie umbringen, hat er die Person zudem mit dem Tod gefährlich bedroht, um sie in Furcht und Unruhe zu versetzen. Weiters hat er dabei die Eingangstür der Wohnstätte der Person durch einen Fußtritt beschädigt und Bierflaschen, Gläser sowie einen Stuhl dadurch zerstört, indem er diese zu Boden schleuderte. Zudem hat er mit Gewalt durch Auftreten der Tür, den Eintritt in die Wohnstätte der Person erzwungen, wobei er gegen die dort befindliche Person Gewalt zu üben beabsichtigt hat. Eine weitere Person hat er während und im Anschluss an die Taten durch die sinngemäßen Äußerungen, er werde sie umbringen, sie werde spätestens nächste Woche tot sein, er werde mit anderen Leuten dafür sorgen, dass sie „kaputt“ sei, bevor er ins Gefängnis gehe, werde er andere schicken, die sie umbrächten, mit dem Tod gefährlich bedroht, um sie in Furcht und Unruhe zu versetzen. Als mildernd wurde angesehen, dass das Verbrechen der absichtlichen schweren Körperverletzung beim Versuch geblieben ist. Als „massiv“ erschwerend wurden das Zusammentreffen von einem Verbrechen und mehreren Vergehen, die massive einschlägige Vorstrafenbelastung, der rasche Rückfall sowie die Voraussetzungen der Strafverschärfung im Rückfall im Hinblick auf Vermögens- sowie Delikte gegen die Freiheit gewertet. Aufgrund des äußerst massiven und aggressiven Vorgehens des BF, welcher sämtliche Delikte mit Absicht begangen hat, war eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren schuld- und tatangemessen, um ihn von weiteren strafbaren Handlungen abzuhalten, insbesondere aber auch, um der Öffentlichkeit klar vor Augen zu führen, dass insbesondere derartige Gewaltdelikte streng geahndet werden.

Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX 2013, Zl. XXXX , wurde der BF rechtskräftig wegen des Vergehens der vorsätzlichen Gefährdung von Menschen durch übertragbare Krankheiten nach § 178 StGB zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten, welche unter Verhängung einer dreijährigen Probezeit bedingt nachgesehen wurde und einer Geldstrafe von 240 Tagessätzen zu je 4,- € rechtskräftig verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass er trotz HIV- und XXXX -Erkrankung zwischen Mai und November 2012 mit XXXX wiederholt ohne Verwendung eines Kondoms den vaginalen Geschlechtsverkehr vollzogen hat. Als mildernd wurden das Geständnis und die Einwilligung bzw. Kenntnis des Opfers gewürdigt, als erschwerend wurden die Vorstrafen und der längere Tatzeitraum beurteilt.

Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 11.03.2014, Zl. XXXX , wurde der BF rechtskräftig wegen des Vergehens der vorsätzlichen Gefährdung von Menschen durch übertragbare Krankheiten nach § 178 StGB verurteilt. Von einer Zusatzstrafe wurde gemäß §§ 31, 40 StGB abgesehen. Der Verurteilung lag zugrunde, dass er im Zeitraum Dezember 2006 bis Jänner 2008 trotz seiner XXXX -Erkrankung wiederholt mit XXXX ohne Verwendung eines Kondoms den vaginalen Geschlechtsverkehr vollzogen hat.

Mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom XXXX 2014, Zl. XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB rechtskräftig zu einer Geldstrafe von 200 Tagessätzen zu je 4,- € verurteilt.

Mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom XXXX 2016, Zl. XXXX , wurde der BF rechtskräftig wegen des Vergehens der Urkundenunterdrückung nach § 229 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe von 220 Tagessätzen zu je 4,- € verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass er im Mai 2015 zwei KFZ-Kennzeichentafeln unterdrückt hat, um zu verhindern, dass sie zur gültigen Zulassung des Fahrzeuges des Zahlungsbesitzers gebraucht werden. Als mildernd wurde das faktische Geständnis gewertet, als erschwerend die teilweise auch einschlägige Vorstrafenbelastung angesehen.

Mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom XXXX 2016, Zl. XXXX , wurde er wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls gemäß § 15, 127 StGB zu einer Geldstrafe von 160 Tagessätzen zu je 4,- € rechtskräftig verurteilt.

Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX 2019, Zl. XXXX , wurde der BF wegen Fälschung besonders geschützter Urkunden nach §§ 223 Abs. 2, 224 StGB zu einer Geldstrafe von 400 Tagessätzen zu je 4,- € rechtskräftig verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass er im August 2018 zwei verfälschte KFZ-Kennzeichentafeln auf seinem Fahrzeug der Marke XXXX angebracht hat. Mildernd wurde nichts, erschwerend wurden zwei einschlägige Vorstrafen gewertet.

Mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom XXXX 2020, Zl. XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens der Urkundenunterdrückung gemäß § 229 Abs. 1 StGB rechtskräftig zu einer Geldstrafe von 300 Tagessätzen zu je 4,- € verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass er von November 2017 bis zumindest XXXX 2018 zwei KFZ-Kennzeichentafeln von einem abgestellten Fahrzeug einer anderen Person abgenommen und auf seinem Fahrzeug der Marke XXXX angebracht hat und damit herumgefahren ist. Mildernd wurde kein Umstand berücksichtigt, erschwerend wurden die einschlägige Vorstrafenbelastung und der lange Tatzeitraum gewertet.

Mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom XXXX 2020, Zl. XXXX , wurde er zuletzt wegen des Vergehens des Diebstahls und der Urkundenunterdrückung gemäß §§ 127, 229 Abs. 1 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von zwei Monaten rechtskräftig verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass er im Februar 2020 aus einem PKW, dessen Fensterscheibe offenstand, zwei Dokumentenmappen, in denen sich jeweils ein Führerschein sowie Zulassungsscheine sowie in einer Dokumentenmappe 20,- € befunden haben, gestohlen hat. Als mildernd wurde nichts, als erschwerend wurden acht einschlägige Vorstrafen und das Zusammentreffen zweier Vergehen gewertet.

1.3. Der BF hat vom XXXX 2009 bis zum XXXX 2009, vom XXXX 2010 bis zum XXXX 2012 und vom XXXX 2020 bis zum XXXX 2021 Freiheitsstrafen verbüßt.

Laut eines Berichts der Landespolizeidirektion XXXX vom XXXX 2012 wurde der BF am XXXX 2012 bei einem Frontex-Einsatz mit den Aufgabenschwerpunkt Bekämpfung der illegalen Migration und internationaler KFZ-Verschiebung bei der Einreise mittels Zuges von Belarus mit einem Konventionspass und einem am XXXX 2012 ausgestellten und bis XXXX 2017 gültigen russischen Reisepass angetroffen.

1.4. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: Bundesamt) vom 19.02.2019, Zl. 740467005-190158145/BMI-BFA_STM_AST_01, wurde der dem BF mit Bescheid vom 26.09.2006, Zl. 261.908/5-IX/25/06, zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 Asylgesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, aberkannt und gemäß § 7 Abs. 4 AsylG festgestellt, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Weiters wurde dem BF gemäß § 8 Absatz 1 Z 2 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, erlassen (Spruchpunkt IV). Gemäß § 52 Absatz 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine vierzehntägige Frist für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.).

Einer dagegen erhobenen Beschwerde wurde mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 27.05.2019, Zl. W182 1261908-3/4E, stattgegeben, der angefochtene Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I Nr 33/2013 idgF, zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen. Die Behörde, die keine Einvernahme des BF durchgeführt hatte, wurde angewiesen, erstmals den BF persönlich einzuvernehmen und weiters im Hinblick auf dessen multiple Erkrankungen aktuelle Recherchen zum Zugang zu medizinisch indizierten Behandlungsmöglichkeiten im Herkunftsland anzustellen.

2.1. Am 20.08.2019 wurde der BF hinsichtlich der beabsichtigten Aberkennung seines Status als Asylberechtigten beim Bundesamt persönlich einvernommen, wobei er im Wesentlichen auf seine Erkrankungen verwies und vorbrachte, bei einer Rückkehr ins Herkunftsland von Kadyrow-Leuten verfolgt und inhaftiert zu werden. Am selben Tag wurde zusätzlich die Lebensgefährtin des BF namens XXXX , die in Österreich den Status einer Asylberechtigten innehat und mit dem BF nach muslimischen Ritus verheiratet sei, beim Bundesamt als Zeugin befragt.

2.2. Mit dem bekämpften, im Spruch genannten Bescheid des Bundesamtes vom 03.10.2019 wurde der dem BF mit Bescheid vom 26.09.2006, Zl. 261.908/5-IX/25/06, zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt C Z 5 Genfer Flüchtlingskonvention aberkannt und gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 festgestellt, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Weiters wurde dem BF gemäß § 8 Absatz 1 Z 2 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, erlassen (Spruchpunkt IV). Gemäß § 52 Absatz 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine vierzehntägige Frist für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG wurde zudem gegen den BF ein auf die Dauer von 10 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass sich die Lage in der Heimat des BF seit dem Zeitpunkt der Asylzuerkennung nachhaltig verändert habe, wobei zum Entscheidungszeitpunkt keine aktuelle Gefährdung seiner Person in der Russischen Föderation festgestellt werden könne. Hinsichtlich der Erkrankungen des BF befinde sich laut einer Anfragebeantwortung der Staatendokumentation des Bundesamtes vom 05.05.2017 eine entsprechende Spezialambulanz sowohl in Grosny als auch in Moskau.

2.3. Gegen den Bescheid wurde binnen offener Frist im vollen Umfang Beschwerde wegen teilweise unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie Mangelhaftigkeit des Verfahrens erhoben. Darin wurde im Wesentlichen geltend gemacht, dass der BF bei einer Rückkehr ins Herkunftsland mit Verfolgung zu rechnen habe und in Bezug auf seine Erkrankungen (HIV, XXXX , XXXX ) im Allgemeinen wie auch im Speziellen die medizinische Versorgungslage im Herkunftsstaat bis dato katastrophal sei. Die medizinische Versorgung würde von staatlicher Seite immer noch unzureichend erfolgen. Nach Einschätzung von Gesundheitsexperten liege der Anteil der Menschen mit HIV, die in Russland Zugang zur antiretroviralen Therapie haben, zwischen 17 und 26 Prozent, was sogar deutlich geringer als der weltweite Durchschnitt von 46 Prozent sei. Folge der staatlichen Engpässe sei eine Privatisierung bei der Behandlung von HIV. Betroffene mit entsprechenden finanziellen Möglichkeiten würden ihre Behandlung selbst in die Hand nehmen und die nötigen Medikamente in Europa oder Indien kaufen. Durch den geringen Zugang zur Behandlung steige auch die Sterblichkeitsrate durch HIV und Aids in Russland. Zudem gelte HIV in Russland weiter als Randgruppenkrankheit, als etwas Fremdartiges, Unanständiges. Eine Rückkehr in die Russische Föderation sei dem BF in Zusammenschau seiner gesamten Lebensumstände nicht zumutbar, da er aufgrund der persönlichen wie auch allgemeinen Situation im Herkunftssaat unweigerlich in eine ausweglose und existenzbedrohliche Situation gerate. Es wurde u.a. die Durchführung einer Beschwerdeverhandlung beantragt.

2.4. Anlässlich der öffentlichen mündlichen Verhandlung am 28.01.2021 wurde Beweis aufgenommen durch Einvernahme des BF sowie seiner Lebensgefährtin XXXX in Anwesenheit der Vertretung des BF sowie weiters durch Einsichtnahme in die Verwaltungsakten des Bundesamtes sowie in den Akt des Bundesverwaltungsgerichtes. Dem BF wurden entsprechend aktuelle Länderberichte zur Situation im Herkunftsstaat zu Kenntnis gebracht. Weiters wurde der BF aufgefordert, Befunde über seine aktuellen Krankheiten und Therapien, die er zurzeit absolviere, nachzureichen.

2.5. Mit Schreiben des BF vom 11.02.2021 wurden entsprechende Befunde nachgereicht, wonach dieser an einer HIV-Infektion Stadium XXXX , einer XXXX , einer XXXX , einer XXXX , einer XXXX , XXXX , einer XXXX , XXXX , XXXX und XXXX leide, wobei er u.a. folgende Medikamente benötige: XXXX Dazu wurde in den Befunden weiter ausgeführt, dass der BF seit 2020 an einer Spezialambulanz betreut werde, seine Erkrankungen eine lebenslange Einnahme von Medikamenten erfordere, wobei die regelmäßige, ununterbrochene Einnahme notwendig sei, um Krankheit und Tod zu vermeiden. Die Rückkehr ins Heimatland sei nur vertretbar, wenn der BF dort an eine Spezialambulanz angebunden werden könne und die korrekte und ununterbrochene Versorgung mit HIV-Medikamenten sichergestellt sei.

2.6. Eine entsprechende vom Bundesverwaltungsgericht daraufhin im gegenständlichen Verfahren eingeholte Anfragebeantwortung der Staatendokumentation des Bundesamtes vom 25.03.2021 zur medizinischen Versorgung des BF im Herkunftsstaat kam zum Ergebnis, dass u.a. drei Behandlungen ( XXXX ) nicht in Tschetschenien, jedoch in Moskau verfügbar seien. Zwar seien die meisten angefragten Wirkstoffe in der Russischen Föderation verfügbar, nicht aber der Wirkstoff XXXX und XXXX Dazu wurde in einer Analyse der MedCOI-Ärzte u.a. erklärend ausgeführt:

„Ohne diese essentiellen ARV-Medikamente zur Behandlung der HIV-Infektion verschlechtert sich das Immunsystem des Patienten und es treten lebensbedrohliche opportunistische Infektionen auf, die auch als AIDS bezeichnet werden. Die Analyse alternativer ARV-Medikamente ist nicht möglich und birgt medizinische Risiken.“

2.7. Das Ergebnis der Anfragebeantwortung wurde den Parteien mit Schreiben vom 30.03.2021 zur Möglichkeit einer schriftlichen Stellungnahme binnen zwei Wochen übermittelt.

In einer Stellungnahme des BF vom 12.04.2021 wies dieser im Wesentlichen erneut auf seine Erkrankungen hin. Dazu machte er geltend, dass aus der Anfragebeantwortung hervorgehe, dass neben anderen Versorgungsdefiziten im Herkunftsland nicht einmal alle wichtigen antiretroviralen Medikamente zur Behandlung seiner HIV-Erkrankung verfügbar seien. Da der BF derzeit in Österreich medizinisch gut eingestellt und behandelt werde, könnte ihn die schwierige medizinische Sachlage im Herkunftsstaat in eine lebensbedrohliche Situation versetzen. Die Krankenhausversorgung sei zudem durch die COVID-19 Situation in Russland nicht gewährleistet und durch die finanzielle Erschwerung, die der BF als kranker Rückkehrer ohne Arbeitsmöglichkeit erleiden würde, würde die regelmäßige Einnahme der lebensnotwendigen Medikamente faktisch unmöglich sein. Aufgrund seines Gesundheitszustandes würde der BF im Fall seiner Rückkehr Gefahr laufen, mangels nötiger ärztlicher Behandlung und Medikamenten einer unmenschlichen Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK unterworfen zu werden. Es sei ihm daher der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.

2.8. Seitens des Bundesamtes erfolgte bis dato keine Stellungnahme zur Anfragebeantwortung vom 25.03.2021. Allerdings wurde mit Schreiben vom 13.04.2021 ein Untersuchungshaftbeschluss des Landesgerichts XXXX vom XXXX 2021 übermittelt, wonach gegen den BF die Untersuchungshaft verhängt wurde. Der BF werde verdächtigt, Verbrechen bzw. Vergehen nach §§ 202 Abs. 1, 207 Abs. 1, 212 Abs. 1 StGB und § 50 Abs. 1 Z 1 WaffG begangen zu haben. Es bestand der Verdacht, dass XXXX . Zudem habe beim BF im Zuge der Festnahme auch eine Schusswaffe der Kategorie B, welche der BF im halbgeladenen Zustand im Hosenbund bei sich getragen habe, sichergestellt werden können.

Der BF hat sich bis zum XXXX .2021 in Untersuchungshaft befunden. Das Verfahren hinsichtlich des Verbrechens bzw. Vergehens nach §§ 202 Abs. 1, 207 Abs. 1, 212 Abs. 1 StGB wurde laut Mitteilung der Staatsanwaltschaft XXXX vom XXXX 2021 gemäß § 190 Z 2 StPO inzwischen eingestellt, da ein Schuldnachweis nicht möglich sei. Ein Strafverfahren wegen des Vergehens nach § 50 Abs. 1 Z 1 WaffenG gegen den BF ist nach wie vor anhängig, wobei ein Strafantrag erhoben wurde.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der BF ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, stellte im März 2004 im Bundesgebiet einen Asylantrag und wurde ihm mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 26.09.2006, Zl. 261.908/5-IX/25/06, Asyl gewährt. Die Asylgewährung wurde im Wesentlichen damit begründet, dass der BF in Tschetschenien wegen seiner aktiven Teilnahme am Tschetschenienkrieg ins Visier der russischen Sicherheitskräfte geraten und von Februar bis November 2002 angehalten worden sei, wobei zum Entscheidungszeitpunkt diesbezüglich weiter eine Verfolgungsgefahr angenommen wurde.

Die Umstände, auf Grund deren der BF als Flüchtling anerkannt worden ist, bestehen nicht mehr. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle seiner Rückkehr in die Russische Föderation mit hinreichender Wahrscheinlichkeit einer sonstigen asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt ist.

Der BF spricht Tschetschenisch und Russisch. Bislang hat er in Österreich keinen Deutschkurs abgeschlossen. Er hat keine Berufsausbildung. Seine Erwerbsfähigkeit ist aufgrund seiner Erkrankungen zu 100% gemindert.

Der BF leidet an einer HIV-Infektion Stadium XXXX , einer XXXX , einer XXXX , einer XXXX , einer XXXX , XXXX , einer XXXX , XXXX , XXXX und XXXX . Im Herkunftsland sind die indizierten ARV-Medikamente zur Behandlung seiner HIV-Infektion teilweise nicht verfügbar, wobei ohne Behandlung durch diese fehlenden Medikamente (insbesondere die Wirkstoffe XXXX ) das Risiko einer lebensbedrohlichen opportunistischen Infektion besteht. Anhaltspunkte für alternative ARV-Medikamente liegen nicht vor.

Im Herkunftsland halten sich die Mutter, ein Bruder und vier Schwestern des BF auf. In Österreich lebt der BF bei seiner Lebensgefährtin sowie XXXX gemeinsamen, XXXX eigenen und XXXX Stiefkindern, die alle minderjährig sind.

Der BF hat sich 2012 einen bis 2017 gültigen russischen Reisepass ausstellen lassen und wurde im September 2012 bei einer Kontrolle im Rahmen eines Frontex-Einsatzes in Polen mit diesem aus Belarus kommend angetroffen.

Der BF wurde in Österreich bisher insgesamt dreizehn Mal wegen Vergehen und Verbrechen (darunter auch wegen einer absichtlich schweren Körperverletzung) durch Gerichte zu unbedingten Freiheitsstrafen im Ausmaß von zusammengerechnet vier Jahren und drei Monaten rechtskräftig verurteilt.

Der BF hat vom XXXX 2009 bis zum XXXX 2009, vom XXXX 2010 bis zum XXXX 2012 und vom XXXX 2020 bis zum XXXX 2021 Freiheitsstrafen verbüßt, und sich vom XXXX 2021 bis zum XXXX 2021 in Untersuchungshaft befunden. Gegen ihn ist aktuell ein Strafverfahren wegen des Vergehens nach § 50 Abs. 1 Z 1 und Z 3 WaffenG anhängig.

Im Übrigen wird der unter Punkt I. wiedergegeben Verfahrensgang der Entscheidung zugrundegelegt.

1.3. Zur Situation im Herkunftsland wird von den vom Bundesverwaltungsgericht ins Verfahren eingeführten Länderinformationen zur Russischen Föderation bzw. Tschetschenien ausgegangen:

Politische Lage

(Letzte Änderung: 21.07.2020)

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 7.2020c; vgl. CIA 28.2.2020).Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt überweit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ7.2020a; vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ7.2020a).Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden(Standard.at 19.3.2018; vgl. FH 4.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration(Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozessverurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zudrücken (Presse.at 19.3.2018; vgl. FH 4.2.2019). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfachabgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen(Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Siegarantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehendunabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Am 15. Januar 2020 hat Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation eine Neuordnung des politischen Systems vorgeschlagen und eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt. Dmitri Medwedjew hat den Rücktritt seiner Regierung erklärt. Sein Nachfolger ist der Leiter der russischen Steuerbehörde Michail Mischustin. In dem neuen Kabinett sind 15 von 31 Regierungsmitgliedern ausgewechselt worden. Die Verfassungsänderungen ermöglichen Wladimir Putin für zwei weitere Amtszeiten als Präsident zu kandidieren. Der Volksentscheid über eine umfassend geänderte Verfassung fand am 1. Juli 2020 statt, nachdem er aufgrund der Corona Pandemie verschoben worden war. Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65% der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommissionknapp 78% für und mehr als 21% gegen die Verfassungsänderungen. Neben der so genannten Nullsetzung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, durch die der amtierende Präsident 2024 und theoretisch auch 2030 zwei weitere Male kandidieren darf, wird das staatliche Selbstverständnis der Russischen Föderation in vielen Bereichen neu definiert. Der neue Verfassungstext beinhaltet deutlich sozialere und konservativere Inhalte als die Ursprungsverfassung aus dem Jahre 1993 (GIZ 7.2020a). Nach dem Referendum kam es zu Protesten von einigen hundert Personen in Moskau. Bei dieser nicht genehmigten Demonstration wurden 140 Personen festgenommen. Auch in St. Petersburg gab es Proteste (MDR 16.7.2020).Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt. Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 7.2020a; vgl. AA 2.3.2020c).

Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (SprawedliwajaRossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF)mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii),links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern; die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2020a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze),Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze),Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti23.9.2016; vgl. Global Security 21.9.2016). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018).

Russland ist eine Föderation, die (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) aus 85 Föderationssubjekten mitunterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine. eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2020a; vgl. AA 2.3.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreiervorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2020a). Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum(„exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 7.2020a).

Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (ZeitOnline 9.9.2019). Hier stellt die Partei künftig nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38.Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF18.9.2019). Die beiden letzten waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer "smarten Abstimmung" aufgerufen. Die Bürgerinnen sollten jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).

Quellen:

?        -AA – Auswärtiges Amt (2.3.2020c): Russische Föderation – Politisches Portrait, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/politisches-portrait/201710, Zugriff 10.3.2020

?        -CIA – Central Intelligence Agency (28.2.2020): The World Factbook, Central Asia: Russia,https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 10.3.2020

?        -EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020.

?        -FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 10.3.2020

?        -GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2020a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 17.7.2020

?        -GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2020c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 17.7.2020

?        -Global Security (21.9.2016): Duma Election - 18 September 2016, https://www.globalsecurity.org/military/world/russia/politics-2016.htm, Zugriff 10.3.2020

?        -Kleine Zeitung (28.7.2019): Mehr als 1.300 Festnahmen bei Kundgebung in Moskau, https://www.kleinezeitung.at/politik/5666169/Russland_Mehr-als-1300-Festnahmen-bei-Kundgebung-in-Moskau, Zugriff 10.3.2020

?        -MDR 16.7.2020): Mehr als 140 Demonstranten in Moskau festgenommen, https://www.mdr.de/nachrichten/politik/ausland/festnahme-moskau-putin-kritiker-bei-protest-100.html, Zugriff 21.7.2020

?        -ORF – Observer Research Foundation (18.9.2019): Managing democracy in Russia: Elections 2019, https://www.orfonline.org/expert-speak/managing-democracy-in-russia-elections-2019-55603/, Zugriff 10.3.2020

?        -OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report, https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true, Zugriff 10.3.2020

?        -Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen", https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volk-schliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 10.3.2020

?        -RIA Nowosti (23.9.2016): ??? ???????? ?????????? ??????? ? ???????, https://ria.ru/20160923/1477668197.html, Zugriff 10.3.2020

?        -Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident, https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff10.3.2020

?        -Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 10.3.2020

?        -Zeit Online (9.9.2019): Russische Regierungspartei gewinnt Regionalwahlen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/russland-kreml-partei-sieg-regionalwahlen-moskau,Zugriff 10.3.2020

Tschetschenien

Letzte Änderung: 27.03.2020

Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte von ihnen Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 12.2019).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019, FH 4.3.2020). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den russlandweiten Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen. Auch im Vorfeld der Wahlen hatte Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen der Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 4.3.2020, vgl. AA 13.2.2019). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 4.3.2020).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute „föderale Machtvertikale“ dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür

des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Ein Abkommen von September 2018 über die Abtretung von umstrittenem Territorium von Inguschetien an Tschetschenien hatte politische Unruhen in Inguschetien zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Der Konflikt um die Grenzziehung flammt immer wieder auf. Im März 2019 wurden Proteste in Inguschetien gewaltsam aufgelöst, wobei manche Teilnehmer körperlich gegen die Polizei Widerstand leisteten. 33 Personen wurden festgenommen (HRW 14.1.2020). Die Proteste hatten außerdem den Rücktritt des inguschetischen Präsidenten Junus-bek Jewkurow im Juni 2019 zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Jewkurows Nachfolger ist Machmud-Ali Kalimatow (NZZ 29.6.2019).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020

?        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020

?        HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022681.html, Zugriff 3.3.2020

?        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (29.6.2019): Die Nordkaukasus-Republik Inguschetien ist innerlich zerrissen, https://www.nzz.ch/international/nordkaukasus-inguschetien-nach-protesten-innerlich-zerrissen-ld.1492435, Zugriff 11.3.2020

?        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 10.3.2020

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 27.03.2020

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS (Islamischer Staat) kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (19.3.2020a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 19.3.2020

?        BMeiA (19.3.2020): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 19.3.2020

?        Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 19.3.2020

?        EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.3.2020): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 19.3.2020

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Nordkaukasus

Letzte Änderung: 27.03.2020

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits, weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt (SWP 10.2015, vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein „Wilajat Kavkaz“, eine „Provinz Kaukasus“, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2019). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Der größte Anteil an Gewalt im Nordkaukasus entfällt weiterhin auf Dagestan und Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019).

Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz (Caucasian Knot 30.8.2019).

Im Jahr 2019 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] bei 44 Personen, davon wurden 31 getötet (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020

?        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Tschetschenien

Letzte Änderung: 27.03.2020

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmen

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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