TE OGH 2021/5/12 6Ob83/21f

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Veröffentlicht am 12.05.2021
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Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Gitschthaler als Vorsitzenden, die Hofräte Univ.-Prof. Dr. Kodek, Dr. Nowotny, die Hofrätin Dr. Faber und den Hofrat Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Außerstreitsache des Antragstellers B***** E*****, USA, vertreten durch Hornek Hubacek Lichtenstrasser Epler Rechtsanwälte OG in Wien, gegen die Antragsgegnerin J***** E*****, vertreten durch Sacha Katzensteiner Blauensteiner Rechtsanwälte GmbH in Krems, wegen Rückführung der Minderjährigen D***** E*****, geboren am ***** 2017, nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen, über den Revisionsrekurs des Antragstellers gegen den Beschluss des Landesgerichts Krems an der Donau als Rekursgericht vom 5. März 2021, GZ 2 R 17/21v-141, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Krems an der Donau vom 22. Dezember 2020, GZ 17 Ps 184/19z-134, mit Maßgabe bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass er zu lauten hat:

„Dem Erstgericht wird im Sinne des Beschlusses des Landesgerichts Krems an der Donau vom 20. Februar 2020, AZ 2 R 8/20v, der Vollzug der zwangsweise angeordneten Rückführung der Minderjährigen in das Staatsgebiet der Vereinigten Staaten von Amerika aufgetragen.“

Text

Begründung:

[1]            Die in den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) geborene Minderjährige ist die eheliche Tochter der Antragsgegnerin und des Antragstellers. Sie lebten in den USA, wo sich die Mutter überwiegendst um die Betreuung der Minderjährigen kümmerte und keiner Beschäftigung nachging. Am 7. 8. 2019 kam die Mutter mit der Minderjährigen im Zuge eines Urlaubsaufenthalts nach Österreich zur mütterlichen Großmutter. Schon zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich entschieden, sich scheiden zu lassen und nicht mehr in die USA zurückzukehren, weshalb sie bereits unmittelbar nach ihrer Ankunft in Österreich einen Antrag auf Zuteilung der alleinigen Obsorge stellte. Ihren Entschluss teilte sie auch dem Vater mit, der im Oktober 2019 einen Rückführungsantrag nach dem Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ) stellte.

[2]            Mit Beschluss vom 19. 12. 2019, abgeändert mit Beschluss des Landesgerichts Krems an der Donau vom 20. 2. 2020, AZ 2 R 8/20v, wurde die Rückführung der Minderjährigen in das Staatsgebiet der Vereinigten Staaten von Amerika und die zwangsweise Durchsetzung, sollte die Minderjährige nicht bis längstens 25. 1. 2020 in das Staatsgebiet der Vereinigten Staaten von Amerika zurückgekehrt sein, angeordnet. Das Landesgericht Krems an der Donau war der Ansicht, dass ein Ausnahmetatbestand des § 13 Abs 1 lit b HKÜ nicht vorlag: Der Mutter sei zumutbar, mit der Minderjährigen in die USA zurückzukehren. Es bestünden keine Anhaltspunkte für die von der Mutter befürchtete Trennung von der Minderjährigen in den USA. Eine Verhaftung der Mutter drohe nicht. Die in Zukunft allenfalls bestehende Möglichkeit einer alleinigen Obsorge des Vaters sei nicht geeignet, die Rückführung zu hindern. Dieser Beschluss ist rechtskräftig und vollstreckbar.

[3]            Der Antragsteller beantragte am 27. 1. 2020 die zwangsweise Durchsetzung und Vollstreckung der Rückführungsentscheidung und brachte vor, es sei der Minderjährigen genauso wie der Mutter weiterhin möglich, in die USA einzureisen. Er sei jederzeit bereit, selbst anzureisen, um die Minderjährige abzuholen und dorthin zurückzubringen. Keinesfalls habe es aufgrund des kurzen Aufenthalts der Minderjährigen in Österreich zu einer solchen Verwurzelung kommen können, dass bei einer Rückführung in die USA ein erheblicher Schaden für Seele oder Körper der Minderjährigen entstehen könnte. Die Beurteilung, ob eine künftige Obsorgeausübung durch die Mutter oder den Vater besser dem Kindeswohl entspricht, sei für den Ausgang des Verfahrens nach dem HKÜ unerheblich. Die Minderjährige habe den Großteil ihres Lebens in den USA verbracht, wobei sich auch die gesamte Familie väterlicherseits in Kalifornien befinde.

[4]            Die Antragsgegnerin sprach sich gegen die zwangsweise Durchsetzung und Vollstreckung der Rückführungsentscheidung aus und wendete ein, aufgrund der COVID-19-Fallzahlen am Wohnsitz des Vaters bestehe bei einer Rückkehr eine Gesundheitsgefährdung für die Minderjährige. Der Vater habe angekündigt, dass er sofort nach der Rückkehr der Minderjährigen in die USA die alleinige Obsorge erwirken und für die Mutter nur ein Ferienkontaktrecht (und nur auf dem Staatsgebiet der USA) erlauben werde. Es würden somit also konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass bei der Rückkehr der Mutter mit der Minderjährigen in die USA durch den Vater eine unmittelbare Trennung von Mutter und Kind veranlasst und über eine längere Dauer aufrechterhalten würde. Die Mutter habe in Österreich Arbeit gefunden; in den USA habe sie hingegen keine Aufenthaltsbewilligung, könne dort ihren Beruf nicht ausüben und hätte damit kein Einkommen und faktisch keine Möglichkeit, die Obsorge für die Minderjährige auszuüben. Damit sei eine – das Kindeswohl massiv gefährdende – Trennung von Mutter und Kind zu erwarten. Die Minderjährige sei mittlerweile in Österreich stark sozial eingebunden und verwurzelt. Eine nunmehrige Rückführung würde mit Blick auf die damit verbundene Wiederentwurzelung die Gefahr einer massiven Traumatisierung mit sich bringen.

[5]            Das Erstgericht wartete zunächst (vergeblich) ab, ob die Mutter die von ihr in Aussicht gestellte Rückreise mit der Minderjährigen in die USA tatsächlich antrat und führte dann ein umfangreiches Ermittlungsverfahren unter Beiziehung einer Sachverständigen und Anordnung eines teilweise begleiteten Kontaktrechts zwischen der Minderjährigen und dem Vater durch.

[6]            Schließlich wies das Erstgericht den Antrag des Vaters, den Beschluss über die Rückführungsentscheidung vom 19. 12. 2019 zwangsweise durchzusetzen und zu vollstrecken, ab. Es stellte fest, dass die mittlerweile Dreijährige nun seit fast 1 ½ Jahren mit der Mutter, die nach wie vor ihre Hauptbezugsperson ist, in Österreich lebe. Sie sei mit der österreichischen Heimat der Mutter und deren Familie, zu der reger Kontakt besteht, mittlerweile stark verwurzelt. Sie besuche den Kindergarten; die mütterliche Großmutter, die in der Nähe wohnt, holt sie in der Regel von dort ab und betreue sie, bis die Mutter von der Arbeit kommt. Die Minderjährige sei bereits sozial stabil in ihrer Umgebung eingelebt. Es sei davon auszugehen, dass es im Fall einer Rückführung zu einer erheblichen psychischen Belastung kommt, weil sie aus ihren Bindungen und ihrem bisherigen Sprachraum herausgerissen werde. Eine Traumatisierung und nachhaltige Schädigung der Minderjährigen ergäbe sich daraus, dass die Mutter die Minderjährige nicht begleitet. Es sei davon auszugehen, dass das eine Traumatisierung des Kindes zur Folge hätte, die sich nachhaltig schädlich auf die weitere Entwicklung des Kindes und das Vertrauen auf die stabile Verfügbarkeit von haltgebenden Beziehungsstrukturen auswirken würde. Eine derartige Schädigung für die Minderjährige wäre nur hintanzuhalten, wenn sie mit der Mutter die Rückreise antreten könnte oder es dem Vater durch längere Anwesenheit in Österreich und entsprechendem Beziehungsaufbau dem Kind gegenüber gelänge, dass die Minderjährige eine entsprechende Bindung zu ihm aufbaut. Letzteres sei bisher nicht gelungen. Die Antragsgegnerin werde nicht mehr in die USA zurückkehren. In Österreich arbeite sie nunmehr als Krankenschwester, in den USA habe sie keine Berufsberechtigung und könne auch die Greencard nicht weiter verlängern, weil sie ihren Hauptwohnsitz nach Österreich verlegte. Der Vater wäre zwar einverstanden, dass die Mutter mit der Minderjährigen im vormals ehelichen Haus wohnt, während er bei seiner Mutter wohnt; die Mutter habe aber massive Angst vor dem Vater. Im letzten halben Jahr des Zusammenlebens sei er ihr gegenüber zunehmend aggressiver geworden und habe sie sowohl verbal als auch körperlich bedroht. Kurz vor der Abreise habe er von der Mutter Geschlechtsverkehr verlangt und diesen dann auch an ihr ausgeübt, obwohl sie nein gesagt hatte. Der Antragsteller beabsichtige in Kalifornien bei Gericht so schnell wie möglich durchzusetzen, dass er die alleinige Obsorge erhält.

[7]            In rechtlicher Hinsicht war das Erstgericht der Ansicht, das konkrete Kindeswohl habe auch noch im Vollstreckungsverfahren den Vorrang vor dem vom Übereinkommen angestrebten Ziel, Kindesentführungen ganz allgemein zu unterbinden. Der geplanten Rückführung sei ab Mitte März 2020 die COVID-19-Pandemie „dazwischen gekommen“. Dass die Mutter unter diesen Umständen sämtliche Pläne auf eine Rückreise verworfen habe, sei ihr nicht vorwerfbar. Unter diesen Umständen sei es ihr auch nicht zumutbar, die Reise in die USA anzutreten. Die Mutter sei in Österreich mittlerweile berufstätig und habe eine eigene Wohnung zu finanzieren, weshalb es ihr ebenfalls nicht möglich sei, in die USA zu übersiedeln, wo ihre Aufenthaltsbewilligung fraglich sei und sie keiner Arbeit nachgehen könne, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Dass die Mutter im ehelichen Haus Aufenthalt nehme, erscheine aufgrund der Vorfälle vor ihrer Abreise unmöglich und widerspräche auch dem Kindeswohl. Es sei daher davon auszugehen, dass die Mutter nicht in die USA zurückkehren werde. Im Fall einer Rückführung würde es zu einer erheblichen psychischen Belastung der Minderjährigen kommen, weil das Kind aus seinen Bindungen und seinem bisherigen Sprachraum herausgerissen würde. Eine Traumatisierung mit nachhaltiger Schädigung des Kindes würde sich daraus ergeben, dass die Mutter das Kind nicht begleite. Bei Durchsetzung des Rückführungsbeschlusses in dem Sinne, dass dem Vater das Kind zur Rückkehr in die USA übergeben werde, sei von einer schwerwiegenden Gefahr eines seelischen Schadens für die Minderjährige auszugehen.

[8]       Das Rekursgericht deutete den erstgerichtlichen Beschluss im Sinne eines Absehens von der amtswegigen Vornahme des Vollzugs der bereits in der Rückführungsentscheidung angeordneten zwangsweisen Durchsetzung der Rückführung und bestätigte diesen Beschluss mit der Maßgabe, dass die Rückführung derzeit nicht durchgeführt werde. Es ging davon aus, dass sowohl die Verwurzelung der Minderjährigen in Österreich als auch der Verlust der Bindung an den Vater sowie ihre hauptsächliche Bindung an die Mutter erst nach der Rückführungsentscheidung eingetreten und deshalb im Vollstreckungsverfahren noch beachtlich seien. Dass beide Umstände aufgrund des langen Aufenthalts der Minderjährigen in Österreich eingetreten seien, der durch die COVID-19-Pandemie und die (unzulässige) Verfahrensführung des Erstgerichts verursacht worden sei, sei im Hinblick auf die Kindeswohlgefährdung ebenso unbeachtlich wie die Frage, ob es der Mutter zumutbar sei, mit der Minderjährigen in die USA zurückzukehren.

[9]       Das Rekursgericht ließ den ordentlichen Revisionsrekurs zu. Die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, wonach die Rückführung (auch dann) möglich sei, wenn sich die Kindeswohlgefährdung aufgrund einer Weigerung des entführenden Elternteils, mit dem Kind in den Herkunftsstaat zurückzukehren, ergebe und dem entführenden Elternteil die Rückkehr zumutbar sei, stehe im Widerspruch zu Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs, nach denen eine konkrete Kindeswohlgefährdung der Vollstreckung einer Rückführungsanordnung (auch in einem solchen Fall) entgegenstehe.

[10]     Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs des Vaters mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluss dahin abzuändern, dass seinem Antrag auf zwangsweise Durchsetzung der Rückführungsentscheidung stattgegeben werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Rechtliche Beurteilung

[11]     Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil die Beurteilung des Rekursgerichts im Einzelfall einer Korrektur bedarf; er ist auch berechtigt.

[12]     Der Vater macht geltend, in dem auf Vollzug des Rückgabebeschlusses geführten Verfahren könne nur auf Umstände Bedacht genommen werden, die zwischen Anordnung der Rückführung und Vollstreckungsmaßnahmen eingetreten und für das Kindeswohl von Bedeutung seien. Die „Verwurzelung“ basiere hier jedoch auf der von ihm nicht verschuldeten langen Dauer des Vollstreckungsverfahrens und sei damit unerheblich. Die Herausnahme der Minderjährigen aus ihrem nunmehrigen sozialen Umfeld überschreite auch nicht jenes Ausmaß, wie sie durch den Aufenthaltswechsel bei jeder Rückführung vorliege und sei kein Grund, eine Kindeswohlgefährdung anzunehmen. Umstände, die es der Mutter unmöglich machen würden, durch Begleitung in das Herkunftsland eine Kindeswohlgefährdung hintanzuhalten, bestünden nicht. Sämtliche behaupteten (unzureichenden) Gründe dafür seien überdies bereits zum Zeitpunkt der Rückführungsentscheidung vorgelegen. Daher könne die durch die Weigerung der Mutter, die Minderjährige bei der Rückführung zu begleiten, drohende Kindeswohlgefährdung die Rückführung nicht verhindern.

[13]     1. Nach Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ist die zuständige Behörde – ungeachtet der grundsätzlichen Verpflichtung zur sofortigen Rückgabe des Kindes (Art 12 Abs 1 HKÜ) – dann nicht verpflichtet, die Rückgabe anzuordnen, wenn (unter anderem) die Person, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist, dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt. Der Ausnahmetatbestand des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ist eng auszulegen und deshalb auf wirklich schwere Gefahren zu beschränken (RS0074568 [T8, T12]). Die Person, die sich der Rückgabe widersetzt, trifft die volle Behauptungslast und Beweislast für das Vorliegen von Rückführungshindernissen. Selbst die Frage, ob das Kindeswohl der Rückführung entgegensteht, ist nicht von Amts wegen, sondern nur über Vorbringen der Person, die sich der Rückführung widersetzt, zu prüfen (RS0074561 [T1]).

[14]           2. Das konkrete Kindeswohl ist – wie sich aus Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ergibt – auch bei der zwangsweisen Durchsetzung der Rückführung zu berücksichtigen (vgl 6 Ob 218/15z; RS0106456). Allerdings kann die Behauptung, das Kindeswohl sei gefährdet, dabei nur auf Sachverhalte gestützt werden, die sich nach der Erlassung der Entscheidung über die Rückführung ereigneten (6 Ob 218/15z; RS0007272; vgl nunmehr auch § 111d AußStrG). In Ausnahmefällen kann ein Vollzug dann unterbleiben, wenn nach der Anordnung der Rückführung und vor der Vornahme von Vollstreckungsmaßnahmen neue Umstände eingetreten sind, die bei der Anordnung von Vollstreckungsmaßnahmen zu einer schwerwiegenden Kindeswohlgefährdung führen würden (vgl 6 Ob 218/15z; RS0106454 [T4]). Dabei ist zu berücksichtigen, dass das HKÜ nicht die Rückgabe des entführten Kindes an den anderen Elternteil verlangt (die Entscheidung darüber kommt grundsätzlich den Behörden im Herkunftsstaat zu), sondern die Rückführung des Kindes in das Staatsgebiet des Herkunftsstaats (6 Ob 66/14w; 2 Ob 90/10i; RS0119950 [T4, T7]).

[15]           3. Die festgestellte „Verwurzelung“ der Minderjährigen in Österreich reicht für ein Absehen von der Durchsetzung des Rückführungsbeschlusses nicht aus:

[16]           3.1 Berücksichtigungswürdige drohende Nachteile müssen über die zwangsläufigen Folgen eines erneuten Aufenthaltswechsels hinausgehen, weil sonst praktisch jede Rückführung scheitern und damit das Ziel des HKÜ nicht greifen würde (RS0074568 [T5]). Zwar ist eine schwerwiegende psychische Gefährdung des Kindes auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erst durch einen längeren Aufenthalt im Verbringungsland bedingt ist (vgl 6 Ob 99/16a); bloß kurzfristige Traurigkeitsgefühle in einer Umstellungsphase nach der Rückkehr können aber nicht als „seelischer Schaden“ im Sinne des Art 13 lit b HKÜ angesehen werden (RS0112662 [T10]). Eine gelungene Integrierung eines Kindes in seine neue Umgebung nach Art 12 Abs 2 HKÜ schließt eine Rückführung nur dann aus, wenn der Rückführungsantrag mehr als ein Jahr nach dem Verbringen des Kindes gestellt wurde (RS0074568 [T7]).

[17]           3.2 Nach den Feststellungen ist die Minderjährige in Österreich mittlerweile „stark verwurzelt“. Sie besucht den Kindergarten und ist bereits sozial stabil in ihrer Umgebung eingelebt. Im Fall einer Rückführung käme es schon wegen des „Herausreißens“ aus ihren sozialen Bindungen und ihrem bisherigen Sprachraum zu einer „erheblichen psychischen Belastung“. Dabei handelt es sich jedoch nicht um „wirklich schwere Gefahren“ im Sinn der dargestellten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, sondern um Umstände, die nicht über die zwangsläufigen Folgen eines erneuten Aufenthaltswechsels hinausgehen (vgl 6 Ob 171/13k; 5 Ob 47/09m). Diese Umstände tragen somit die Entscheidung der Vorinstanzen nicht.

[18]     4. Zu einer Trennung der Minderjährigen von der Mutter muss es nicht kommen:

[19]           4.1 Zwar begründet die Trennung eines Kleinkindes von dem sie hauptsächlich betreuenden Elternteil in der Regel eine Gefährdung des Kindeswohls (6 Ob 240/18i). Grundsätzlich ist es dem entführenden Elternteil aber zumutbar, gemeinsam mit dem Kind in den Herkunftsstaat zurückzukehren, weil es dann nicht zur Trennung kommen muss. Dem entführenden Elternteil ist auch zuzumuten, eigene Nachteile der Rückkehr in Kauf zu nehmen, weil es auf sein Wohl dabei nicht ankommt (6 Ob 66/14w; 6 Ob 122/12b; 6 Ob 230/11h; RS0109515 [T14, T15]). Dass eine Weigerung des hauptsächlich betreuenden Elternteils, das Kind bei seiner Rückführung zu begleiten, eine schwerwiegende Gefahr für das Kind begründen könnte, vermag eine Rückführung daher nur dann zu verhindern, wenn es dem hauptsächlich betreuenden Elternteil nach den im Einzelfall gegebenen Umständen unmöglich oder nicht zumutbar ist, mit dem Kind gemeinsam in den Herkunftsstaat zurückzukehren (6 Ob 240/18i; RS0074568 [T4]).

[20]           4.2 Auch im vorliegenden Fall droht durch einen Verlust des Kontakts zur Mutter als Hauptbezugsperson eine Traumatisierung der erst drei Jahre alten Minderjährigen. Eine Rückführung kommt deshalb nur dann in Betracht, wenn es auch der Mutter möglich und zumutbar ist, gemeinsam mit ihrer Tochter in die USA zurückzukehren.

[21]           Dies ist zu bejahen:

[22]           4.2.1 Ein gegenüber einem Verbleib in Österreich bestehendes derart erhöhtes gesundheitliches Risiko in den USA aufgrund der COVID-19-Pandemie, das eine Rückkehr in die USA unzumutbar erscheinen ließe, besteht jedenfalls mittlerweile nicht mehr. Dass es der Mutter unmöglich gewesen wäre, in die USA einzureisen, wurde ohnehin nicht festgestellt. Zwar ist die Mutter – anders als bisher in den USA – in Österreich nunmehr berufstätig. Ihr ist es aber durchaus zumutbar, diese eigenen Nachteile einer Rückkehr in Kauf zu nehmen, hat sie doch durch ihre eigenmächtige Entführung des Kindes nach Österreich die nunmehrige Situation erst geschaffen (vgl 6 Ob 66/14w; 6 Ob 171/13k).

[23]           4.2.2 Weitere im gegebenen Zusammenhang der zwangsweisen Durchsetzung der Rückführung (noch) relevante Umstände (siehe Punkt 2.) sind den Feststellungen nicht zu entnehmen. Es wird daher an der Antragsgegnerin liegen, im Rahmen ihrer Obsorgepflicht mit der Minderjährigen in die USA zurückzukehren, um deren Wohl zu sichern (vgl 6 Ob 240/18i; 6 Ob 66/14w; 6 Ob 171/13k; 5 Ob 47/09m).

[24]                    4.2.3 Den vom Rekursgericht dagegen ins Treffen geführten Entscheidungen lagen mit dem vorliegenden Fall nicht hinreichend vergleichbare Sachverhalte zugrunde. In der Entscheidung 6 Ob 242/09w war aufgrund einer entsprechenden Obsorgeentscheidung im Herkunftsstaat die Rückgabe in die alleinige Obhut des Vaters zu beurteilen. In der Entscheidung 6 Ob 134/13v bestand im Herkunftsstaat ein Haftbefehl gegen die Mutter. In der Entscheidung 6 Ob 218/15z war nicht die Zumutbarkeit einer Begleitung der Kinder durch den entführenden Elternteil zu beurteilen, sondern verweigerten die dreizehn und elf Jahre alten Kinder selbst vehement die Fortsetzung der Durchführung der zwangsweisen Rückführung.

[25]           5. Der Revisionsrekurs hat daher Erfolg. Zutreffend hat bereits das Rekursgericht darauf hingewiesen, dass es aufgrund der amtswegig zu vollziehenden bereits vollstreckbaren Rückführungsanordnung eines Vollstreckungsantrags des Antragstellers nicht bedurfte (§ 111c Abs 5 AußStrG). Dennoch ist es im vorliegenden Fall zweckmäßig, dem Erstgericht den Vollzug der zwangsweise angeordneten Rückführung der Minderjährigen nunmehr ausdrücklich aufzutragen (zum Beschleunigungsgebot und den Konsequenzen dessen allfälliger Verletzung vgl RS0108469 [T6]).

Textnummer

E131610

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:0060OB00083.21F.0512.000

Im RIS seit

21.05.2021

Zuletzt aktualisiert am

28.07.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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