TE OGH 2010/7/8 2Ob90/10i

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Veröffentlicht am 08.07.2010
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Solé, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache des Antragstellers C***** G*****, vertreten durch Dr. Helene Klaar, Mag. Norbert Marschall, Rechtsanwälte OG in Wien, gegen die Antragsgegnerin V***** Z*****, vertreten durch Dr. Andrea Wukovits, Rechtsanwältin in Wien, wegen Rückführung der mj A***** G*****, nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Antragstellers gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 25. März 2010, GZ 45 R 133/10g-43, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 2. Februar 2010, GZ 4 Ps 180/09y-29, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird teilweise Folge gegeben. Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung zu lauten hat:

„Die sofortige Rückführung der minderjährigen A***** G*****, in das Staatsgebiet von Spanien wird angeordnet.

Das Mehrbegehren auf Anordnung der Rückgabe des Kindes an den Vater C***** G***** wird abgewiesen.“

Die Antragsgegnerin ist schuldig, dem Antragsteller die mit 1.121,23 EUR (darin 186,87 EUR USt) bestimmten Verfahrenskosten aller drei Instanzen zu ersetzen.

Text

Begründung:

Das am ***** 2007 geborene Mädchen entstammt der außerehelichen Lebensgemeinschaft zwischen einer Serbin und einem Spanier. Es ist spanische und serbische Doppelstaatsbürgerin und lebte seit seiner Geburt bis zu seiner Verbringung in Spanien.

Am 1. 7. 2008 trat die Mutter gemeinsam mit dem Kind die Reise nach Wien, Serbien und erneut nach Wien an. Davor hatte sie anwaltlichen Rat gesucht und infolge dessen ihren Lebensgefährten, den Vater ihrer Tochter, zur Abgabe einer notariellen Erklärung veranlasst, wonach er zustimmte, dass das Kind mit der leiblichen Mutter aus Spanien ausreisen und ganz Europa bereisen dürfe. Ihm erzählte sie, dass sie am 21. 7. 2008 wieder zurückkehren werde. Tatsächlich beantragte sie am 29. 7. 2008 beim Bezirksgericht Josefstadt die alleinige Obsorge und informierte den Vater am 12. 8. 2008 telefonisch von ihrer Absicht, in Wien zu bleiben. Mit Beschluss vom 2. 12. 2008 übertrug das Bezirksgericht Josefstadt der Mutter die alleinige Obsorge.

Am 30. 6. 2009 beantragte der Vater beim Erstgericht die sofortige Rückführung des Kindes nach Spanien sowie die Anordnung der Rückgabe an ihn. Die Mutter sei ohne seine Zustimmung in Wien geblieben, weshalb es sich um eine Kindesentführung nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen (HKÜ) handle.

Die Mutter sprach sich gegen den Rückführungsantrag des Vaters aus.

Das Erstgericht wies den Rückführungsantrag ab, weil er erst 10 Monate nach dem widerrechtlichen Verbringen des Kindes und somit verspätet eingebracht worden sei. Zu diesem Zeitpunkt sei die Obsorgeentscheidung des Bezirksgerichts Josefstadt bereits wirksam gewesen. Das Kind habe mittlerweile auch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich begründet. Im Übrigen wäre seine Rückgabe an den Vater und dessen Familie mit einer schwerwiegenden Gefahr eines seelischen Schadens verbunden.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Mangels Zustimmung des Vaters zur dauerhaften Veränderung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes sei dessen Verbringung nach Österreich durch die Mutter als Eingriff in das - nach spanischem Recht gegebene - Mitobsorgerecht des Vaters und damit als widerrechtlich iSv Art 3 HKÜ zu beurteilen. Der Rückführungsantrag sei rechtzeitig, weil innerhalb der Jahresfrist des Art 12 Abs 1 HKÜ gestellt. Eine bindende Obsorgeentscheidung des Bezirksgerichts Josefstadt liege nicht vor, weil dessen Beschluss dem Vater nicht ordnungsgemäß zugestellt worden sei. Es wäre daher grundsätzlich die sofortige Rückgabe des Kindes anzuordnen, soweit dem nicht Hinderungsgründe nach Art 13 HKÜ entgegenstünden. Diese seien im vorliegenden Fall jedoch gegeben, weil die Rückführung zu einer schwerwiegenden Gefährdung des Kindeswohls führen und das Kind in eine unzumutbare Lage bringen würde. Es sei nämlich zu berücksichtigen, dass sich die Mutter als serbische Staatsangehörige mit gültigem Aufenthaltstitel für Österreich gemäß dem Schengener Durchführungsübereinkommen höchstens bis zu drei Monaten in Spanien frei bewegen dürfe, wobei ungewiss sei, ob innerhalb dieser drei Monate eine rechtskräftige Obsorgeentscheidung des spanischen Gerichts erfolge oder eine qualitativ ausreichende Beziehung zum Vater - der nach der Aktenlage Lkw-Fernfahrer sei - hergestellt werden könne. Den Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht wegen der Einzelfallbezogenheit seiner Entscheidung nicht zu.

Gegen diesen Beschluss richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs des Antragstellers mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im stattgebenden Sinn abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Antragsgegnerin beantragt in der ihr freigestellten Revisionsrekursbeantwortung, den Revisionsrekurs zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs erweist sich ungeachtet des Ausspruchs des Rekursgerichts im Interesse der Rechtssicherheit als zulässig; er ist teilweise auch berechtigt.

Der Vater macht Aktenwidrigkeit und unrichtige rechtliche Beurteilung geltend. Aktenwidrig sei die Annahme, dass er als Lkw-Fernfahrer arbeiten würde, weil er dem Gericht einen Versicherungsdatenauszug vorgelegt habe, aus welchem sich ergebe, dass er seit geraumer Zeit als Arbeiter im Baugewerbe beschäftigt und sohin ständig in seinem Wohnort aufhältig sei. Die Auslegung des Art 13 HKÜ durch das Rekursgericht würde von der bisherigen oberstgerichtlichen Judikatur abweichen. Nach der ständigen Judikatur werde es auch nicht als Rückführungshindernis angesehen, wenn der entführende Elternteil - etwa im Falle einer drohenden Haftstrafe - überhaupt nicht mit dem Kind in den Herkunftsstaat zurückkehren könne. Umso weniger könne es daher ein Rückführungshindernis darstellen, wenn die Mutter nach drei Monaten (vorübergehend) aus Spanien ausreisen müsste. Nach der geltenden Fassung von Art 21/1 des Schengener Durchführungsübereinkommens könnten sich Drittausländer mit gültigem Aufenthaltstitel in einem Mitgliedstaat bis zu drei Monaten in einem Zeitraum von sechs Monaten frei im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten bewegen. Es bestehe daher tatsächlich kein Rückführungshindernis nach Spanien.

Dazu wurde erwogen:

1. Rechtzeitigkeit:

Gemäß Art 12 Haager Kindesentführungsübereinkommen (HKÜ) hat das zuständige Gericht oder die zuständige Verwaltungsbehörde die sofortige Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn es im Sinn des Art 3 widerrechtlich verbracht oder zurückgehalten worden ist und bei Eingang des Rückführungsantrags weniger als ein Jahr seit dem Verbringen oder Zurückhalten verstrichen ist.

Das Rekursgericht ist daher im vorliegenden Fall zu Recht von der Rechtzeitigkeit des Rückführungsantrags ausgegangen.

2. Obsorgeentscheidung des Bezirksgerichts Josefstadt:

Das widerrechtliche Verbringen eines Kindes begründet grundsätzlich keine Übertragung der Zuständigkeit von den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, auf die Gerichte des Mitgliedstaats, in den das Kind verbracht wurde, selbst wenn es nach der Entführung im letztgenannten Mitgliedstaat einen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt haben sollte (EuGH 1. 7. 2010, C-211/10, Rz 44).

Das Bezirksgericht Josefstadt war daher für die von ihm getroffene Obsorgeentscheidung international unzuständig. Darüber haben vielmehr die spanischen Gerichte zu entscheiden.

3. Rückführungshindernisse:

Gemäß Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ist das Gericht oder die Verwaltungsbehörde des ersuchten Staates nicht verpflichtet, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn die Person, Behörde oder sonstige Stelle, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist, dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt.

Die Zielsetzung des HKÜ ist es, Elternteile von einem widerrechtlichen Verbringen abzuhalten und die Sorgerechtsentscheidung am früheren gewöhnlichen Aufenthaltsort des Kindes sicherzustellen. Deshalb ist eine restriktive und enge Auslegung des Art 13 HKÜ geboten. Das HKÜ geht davon aus, dass die Rückgabe dem Kindeswohl am ehesten entspricht. Eine zu weite Auslegung des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ würde den Zielen des Übereinkommens entgegenstehen, zu einer Entscheidung über das Sorgerecht führen und dem entführenden Elternteil unberechtigte Vorteile aus dessen Rechtsbruch verschaffen. Der Ausnahmetatbestand des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ist nach der Rechtsprechung eng auszulegen und deshalb auf wirklich schwere Gefahren zu beschränken (2 Ob 103/09z mwN).

Der vorliegende Fall ist dadurch gekennzeichnet, dass die Mutter die widerrechtliche Verbringung des Kindes aus Spanien nach entsprechender anwaltlicher Beratung planmäßig durchgeführt hat. Sie hat sich dabei nicht für ihren Heimatstaat Serbien, sondern für Österreich entschieden. Das Argument, der „Entführer“ dürfe sich keine unberechtigten Vorteile aus dem Rechtsbruch verschaffen, gilt auch diesmal.

Die Mutter konnte keine taugliche Begründung für eine schwerwiegende Gefahr für das Kind im Falle seiner Rückführung nach Spanien geben. Abgesehen davon, dass eine Alkohol- oder Drogenabhängigkeit des Vaters nicht erwiesen wurde, begründet die angebliche Berufstätigkeit des Vaters als Lastwagenfahrer grundsätzlich kein Rückführungshindernis. Auf die gerügte Aktenwidrigkeit wegen der Annahme des Rekursgerichts, dass der Vater (noch immer) als Fernfahrer tätig sei, kommt es daher im gegebenen Fall gar nicht an. Auch die für die Mutter in Spanien geltenden zeitlichen Aufenthaltsbeschränkungen nach alter sowie nach neuer Fassung des Schengener Durchführungsübereinkommens begründen kein Rückführungshindernis, da nicht von vornherein von einer Untätigkeit der spanischen Gerichte auszugehen ist. Die Anwendung des HKÜ setzt vielmehr wechselseitiges Vertrauen in andere Rechtsordnungen und Institutionen voraus. Zu bedenken ist auch, dass das Abkommen nicht nur die Rückführung nach Österreich, sondern auch aus Österreich entführter Kinder betrifft, weshalb eine einseitige Sichtweise zu vermeiden ist (2 Ob 8/10f = RIS-Justiz RS0125723).

4. Trennung des Kindes vom „Entführer“:

Mit einer Rückführungsanordnung muss nicht notwendigerweise die Trennung des Kindes von der entführenden Mutter verbunden sein. Das HKÜ verlangt nicht die Rückgabe des entführten Kindes an den anderen Elternteil (die Entscheidung darüber kommt im vorliegenden Fall allein dem spanischen Pflegschaftsgericht im Obsorgeverfahren zu), sondern dessen Rückkehr in das Staatsgebiet des Herkunftsstaats (5 Ob 47/09m; 2 Ob 103/09z; 1 Ob 176/09b).

Im konkreten Fall war daher bloß die Rückführung nach Spanien anzuordnen und das Mehrbegehren auf Rückgabe des Kindes an den Vater abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf Art 26 Abs 2 (keine Gerichtsgebühren) und Abs 4 HKÜ.

Schlagworte

Familienrecht

Textnummer

E94556

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2010:0020OB00090.10I.0708.000

Im RIS seit

19.08.2010

Zuletzt aktualisiert am

05.03.2012
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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