TE OGH 2020/6/29 2Ob181/19k

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Veröffentlicht am 29.06.2020
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden sowie den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé und die Hofräte Dr. Nowotny und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei K***** P*****, vertreten durch Dr. Frank Philipp, Rechtsanwalt in Feldkirch, gegen die beklagte Partei V***** V.a.G., *****, vertreten durch Bechtold und Wichtl Rechtsanwälte GmbH in Dornbirn, wegen 130.000 EUR sA, über die Revisionen beider Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 22. August 2019, GZ 2 R 101/19y-121, womit infolge Berufungen beider Parteien das Urteil des Landesgerichts Feldkirch vom 26. April 2019, GZ 7 Cg 108/09s-112, in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 13. Mai 2019, GZ 7 Cg 108/09s-114, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

I. Der Revision der klagenden Partei wird teilweise Folge gegeben. Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass die Entscheidung zu lauten hat:

„1. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei 90.000 EUR samt 4 % Zinsen aus 23.800 EUR von 19. 6. 2009 bis 20. 10. 2017, aus 50.000 EUR von 21. 10. 2017 bis 28. 11. 2018 und aus 90.000 EUR seit 29. 11. 2018 binnen 14 Tagen zu bezahlen.

2. Das Mehrbegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei weitere 40.000 EUR samt 4 % Zinsen seit 29. 11. 2018 zu bezahlen, wird abgewiesen.

3. Die beklagte Partei ist ferner schuldig, der klagenden Partei die mit 16.524,84 EUR (darin enthalten 2.054,50 EUR USt und 4.196 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des erst- und des zweitinstanzlichen Verfahrens zu ersetzen.“

II. Die Revision der beklagten Partei wird zurückgewiesen.

III. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 6.780,68 EUR (darin 653,25 EUR USt und 2.861 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 5. 12. 1998 erlitt der damals 16 Jahre alte Kläger als Beifahrer bei einem Verkehrsunfall so schwere Verletzungen, dass er ab dem 5. Halswirbel querschnittgelähmt ist. Er ist seither nicht mehr in der Lage, die oberen und unteren Extremitäten „normal“ zu bewegen. Er ist auf den Rollstuhl angewiesen und leidet immer wieder an Krämpfen, die zu unkontrollierten Bewegungen führen. Mit einem speziellen Handschuh ist er in der Lage, den Rollstuhl anzutreiben, was ihm ohne Hilfe aber nur in der Ebene möglich ist. Der Kläger ist nicht in der Lage, ohne fremde Hilfe aufzustehen, zu Bett zu gehen, sich an- und auszukleiden oder selbst zu reinigen. Er kann mittels eines Trinkhalms oder mit einem speziellen Handschuh selbst trinken. Er kann mithilfe des Handschuhs auch selbst essen, sich aber selbst keine Nahrung zubereiten oder diese schneiden. Die Blasenentleerung erfolgt mittels Urinalkondoms mit Beinbeutel. Mindestens zweimal täglich muss ein Katheter eingeführt werden. Für den Stuhlgang muss dem Kläger ein Zäpfchen eingeführt und er dann auf einen speziellen Stuhl gesetzt werden. Vereinzelt sind Einläufe erforderlich. Es ist dem Kläger auch nicht möglich, seinen Körper selbständig zu drehen, weshalb er mindestens einmal in der Nacht umgelagert werden muss, um ein Wundliegen zu verhindern.

Mit pflegschaftgerichtlich genehmigter Klage vom 19. 8. 1999 begehrte der Kläger in einem Vorprozess ua ein Schmerzengeld von 1.750.000 ATS und brachte dazu vor, dass seine unfallkausalen Verletzungen „samt den bereits abschätzbaren Spät- und Dauerfolgen“ ein angemessenes Schmerzengeld in dieser Höhe rechtfertigten. Die Ausdehnung des Schmerzengeldbegehrens wurde vorbehalten. Zur Begründung des ebenfalls gestellten Feststellungsbegehrens brachte er vor, die unfallkausalen Verletzungen bewirkten „gravierendste Spät- und Dauerfolgen“, wobei die damit verbundenen zukünftigen Schäden „naturgemäß noch nicht abzuschätzen“ seien. In der Tagsatzung vom 10. 12. 1999 anerkannte die auch nunmehr Beklagte „nach den Bestimmungen des EKHG“ ein Schmerzengeld von 1.600.000 ATS sowie ihre Haftung für alle künftigen Schäden des Klägers aus dem Unfall vom 5. 12. 1998 mit näher definierten Haftungsbeschränkungen, worüber ein Teilanerkenntnisurteil erging.

Am 29. 4. 2000 erging im Vorprozess ein Teil- und Zwischenurteil, mit dem die Haftung der Beklagten für das verbliebene Zahlungsbegehren dem Grunde nach als zu Recht bestehend und das Feststellungsbegehren – ausgehend von einer Verschuldenshaftung – als berechtigt erkannt wurde. Die Berufung der Beklagten blieb erfolglos. Nach Eintritt der Rechtskraft dieses Urteils verhandelten der damalige Klagevertreter und der Sachbearbeiter der Beklagten über einen Vergleich, ohne dass ein medizinisches Gutachten zu den vom Kläger erlittenen Verletzungen und den zu erwartenden Unfallsfolgen eingeholt worden wäre. Der Kläger teilte seinem Vertreter während der Vergleichsgespräche nicht mit, dass er bereits damals unter Harnwegsinfekten und Symptomen einer autonomen Dysreflexie litt. Es wurde daher auch zwischen den Verhandlungspartnern darüber nicht gesprochen. Vielmehr einigten sich der Klagevertreter und der Sachbearbeiter der Beklagten am 25. 10. 2000 (vgl die unstrittigen Beilagen ./1 und ./2) in einem Telefonat auf eine weitere Schmerzengeldzahlung von 150.000 ATS, sodass in Summe die Schmerzengeldforderung des Klägers zur Gänze erfüllt wurde. Ob es sich hiebei um ein Globalschmerzengeld handeln sollte oder nicht bzw was damit andernfalls konkret abgegolten werden sollte, wurde nicht besprochen. Eine Vereinbarung, dass damit auch nicht absehbare Folgen abgegolten sein sollten, wurde nicht getroffen. Nach erfolgter Zahlung vereinbarten die Parteien „ewiges Ruhen“ des Vorprozesses; die für den 30. 10. 2000 anberaumte Verhandlung blieb unbesucht.

Bereits sechs Monate nach dem Unfall waren beim Kläger die erwähnten Symptome einer autonomen Dysreflexie aufgetreten. Es handelt sich dabei um eine Verengung der Gefäße unterhalb der Rückenmarksläsion, vor allem im Bereich des Darms. Symptome sind Rötung im Gesicht, Schwitzen, Gänsehaut, Kältegefühl und heftiger Kopfschmerz sowie eine Blutdrucksteigerung. Diese Zustände sind für den Betroffenen äußerst belastend, führen zu Schmerzen und Krankheitsgefühlen und können lebensbedrohlich werden.

Schon am 29. 4. 1999 wurde der Kläger darüber aufgeklärt, dass als „Alternative für die Entleerungssituation“ eine externe Sphinkterotomie vorgenommen werden könnte. In der Folge kam es vier- bis fünfmal zum Auftreten fieberhafter Harnwegsinfekte. Im November oder Dezember 1999 wurde dem Kläger bei einem Rehabilitationsaufenthalt geraten, er solle für die nächste Zukunft eine externe Sphinkterotomie überlegen, wozu sich der Kläger damals aber noch nicht entschließen konnte.

Es kam in der Folge zu keinen weiteren fieberhaften Harnwegsinfekten. Im Herbst 2002 wurde dem Kläger während eines neuerlichen Rehabilitationsaufenthalts wiederum nahegelegt, eine externe Sphinkterotomie durchführen zu lassen. Ende 2003 berichtete der Kläger von mittlerweile gehäuft auftretenden Harnwegsinfekten, massiven Missempfindungen und autonomer Disregulation mit Schweißausbrüchen und Kopfschmerzen sowie Blutdruckanstieg. Erst ab dem Jahr 2003 waren somit die Symptome, unter denen der Kläger aufgrund der autonomen Dysreflexie gelitten hat, derart schwerwiegend, dass er sich zur Durchführung einer Sphinkterotomie entschloss. Diese wurde am 10. 12. 2003 durchgeführt.

Danach ging es dem Kläger zunächst deutlich besser. Er hatte ein bis zwei Jahre lang kaum mehr Symptome der autonomen Dysreflexie, aber schon bald nach der Entlassung bis 30. 4. 2007 alle zwei bis drei Monate wieder Harnwegsinfekte mit Fieber und ab dem zweiten postoperativen Jahr auch wieder ausgeprägte Symptome der autonomen Dysreflexie. Infektfreie Intervalle ergaben sich nur mehr unmittelbar nach einer antibiotischen Behandlung für etwa 10 bis 14 Tage. Während der fieberhaften Harnwegsinfekte fühlte sich der Kläger elend, hatte grippeartige Symptome und musste jeweils 3 bis Tage das Bett hüten.

Am 30. 9. 2010 wurde eine Resphinkterotomie mit Laser durchgeführt, die aber keine wesentliche Besserung brachte. Der Kläger litt auch an zumindest vier Nebenhodenentzündungen. Am 30. 3. 2018 wurde eine weitere Resphinkterotomie durchgeführt, dem Kläger geht es seither deutlich besser.

Aufgrund der autonomen Dysreflexie hatte der Kläger seit der zweiten Hälfte des Jahres 1999 bis zum Jahr 2003 und – nach vorübergehendem Abklingen – neuerlich ab Mai 2006 bis Juni 2018 Schmerzen zu erleiden, die komprimiert Schmerzperioden von jeweils 4.137 Stunden
(= je 172 Tage) an starken, mittelstarken und leichten Schmerzen entsprechen.

Im Durchschnitt hatte der Kläger über 17 Jahre hindurch ca sechs Harnwegsinfekte pro Jahr. Dadurch war er zusätzlich für jeweils 3 Tage stark beeinträchtigt. Komprimiert hatte er 1 Stunde je Tag starke, an weiteren 3 Tagen je 1 Stunde mittelstarke und an 3 Tagen je 1 Stunde leichte Schmerzen zu erleiden, dies zusätzlich zu jenen der autonomen Dysreflexie. Dazu kamen noch vier Nebenhodenentzündungen, die ebenfalls zusätzlich zu einer starken Beeinträchtigung für jeweils 3 Tage führten, nämlich komprimiert an 3 Tagen je 1 Stunde starke, an weiteren 3 Tagen je 1 Stunde mittelstarke und an 5 Tagen je 1 Stunde leichte Schmerzen.

Beim hohen Querschnitt, wie ihn der Kläger erlitten hat, kommt es in 80 % der Fälle zu klinisch relevanten Symptomen durch autonome Dysreflexie. In 20 bis 30 % der Fälle wurde zur Zeit der Verletzung des Klägers eine Sphinkterotomie durchgeführt. Wie häufig es bei derartigen Verletzungen zu Harnwegsinfekten, wie sie beim Kläger aufgetreten sind, kommen wird, kann nicht eingeschätzt werden. Zu Nebenhodenentzündungen kommt es nur in ca 5 % aller vergleichbarer Fälle. Im Jahr 2000 war nicht absehbar, dass der Kläger bis zu sechs fieberhafte Harnwegsentzündungen im Jahr haben werde und dass mehrere Sphinkterotomien durchgeführt werden müssten.

Bei einer Funktionsstörung wie jener des Klägers kommt es niemals zu einem Endzustand. Es ist nicht abschätzbar, ob die Harnwegsinfekte in Zukunft weniger oder sogar vermehrt auftreten werden, ebenso wenig, ob es in Zukunft wieder zu stärkeren Symptomen der autonomen Dysreflexie kommen wird und ob diese mehr oder weniger schwerwiegend sein werden. Ebenfalls ist nicht abschätzbar, ob der Kläger in Zukunft eine weitere Sphinkterotomie benötigen wird.

Der Kläger begehrte zuletzt ein weiteres Schmerzengeld von 130.000 EUR sA. Die urologischen Beschwerden und die damit im Zusammenhang stehenden Operationen seien zum Zeitpunkt der ursprünglichen Schmerzengeldbemessung nicht vorhersehbar und von der Bereinigungswirkung des Vergleichs nicht umfasst gewesen. Durch das bezahlte Schmerzengeld sollten nur die unfallkausalen Verletzungen und die damals bereits abschätzbaren Spät- und Dauerfolgen auf Basis des damaligen Klagsvorbringens abgegolten sein. Dem Kläger stehe daher ein weiteres Schmerzengeld zu.

Die Beklagte wendete zusammengefasst ein, dass die Parteien bei der Bemessung des letztlich an den Kläger ausbezahlten Gesamtschmerzengeldes nicht im Sinne einer Ermittlung einzelner Schmerzperioden vorgegangen seien, sondern die Schwere der vom Kläger unfallkausal erlittenen Verletzungen samt aller nicht völlig atypischen Folgen insgesamt abgegolten hätten. Das dann vereinbarte und ausbezahlte Schmerzengeld sei knapp unter dem höchsten, damals je zuerkannten Gesamtschmerzengeld gelegen, sodass alle in irgendeiner Weise erwartbaren Folgen, auch wenn sie im Detail nicht absehbar gewesen seien, abgegolten sein sollten. Atypische Verletzungsfolgen seien nicht eingetreten. Die Folgewirkungen, die der Kläger nunmehr zur Grundlage für sein ergänzendes Schmerzengeldbegehren mache, seien durchaus häufige und erwartbare Folgen seiner Verletzung. Die Entscheidung 2 Ob 164/17g des Obersten Gerichtshofs sei nicht heranzuziehen, weil die Beklagte das gesamte vom Kläger damals geforderte Schmerzengeld bezahlt habe und deshalb gar kein Vergleich geschlossen worden sei.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren mit einem Betrag von 26.000 EUR sA statt und wies das auf 104.000 EUR sA lautende Mehrbegehren ab. Die Schmerzengeldzahlungen der Beklagten seien aufgrund einer außergerichtlichen Einigung der Streitteile erfolgt; entscheidend sei daher der übereinstimmend erklärte Parteiwille. Eine ausdrückliche Einigung über eine Globalabfindung sei nicht getroffen worden. Die Schmerzengeldzahlungen seien daher, auch weil eine Ausdehnung des Klagebegehrens ausdrücklich vorbehalten worden sei, lediglich als Teilzahlungen zu werten. Zwar seien Harnwegsinfekte und autonome Dysfunktionen bei Verletzungen, wie sie der Kläger erlitten habe, durchaus häufig und üblich, sodass sie bei einer richterlichen Globalbemessung des Schmerzengeldes an und für sich mitumfasst wären. Weder dem Klagevertreter noch dem Vertreter der Beklagten seien diese Verletzungsfolgen aber bekannt gewesen, was auch für die Notwendigkeit künftiger Operationen gelte. Es sei davon auszugehen, dass sie andernfalls eine entsprechende Mehrabgeltung vereinbart hätten. Der damals bezahlte Schmerzengeldbetrag entspreche wertgesichert heute einem Betrag von 181.355 EUR. Wären die nunmehrigen Beschwerden und Operationen zum Zeitpunkt der Vereinbarung bekannt gewesen, hätte das angemessene Schmerzengeld global 2 Mio ATS betragen, sodass dem Kläger ein weiterer Betrag von 250.000 ATS zugestanden worden wäre. Dies entspreche heute (unter Berücksichtigung des Wertverlusts) einem Betrag von 26.000 EUR, welcher dem Kläger zuzuerkennen sei.

Das von beiden Parteien, von der Beklagten überdies im Kostenpunkt angerufene Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung in der Hauptsache und sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei.

Es verwarf die Mängel- und die Tatsachenrüge des Klägers und gelangte rechtlich zur Ansicht, die seinerzeitige Vereinbarung der Streitteile sei auf Grundlage des prozessualen Vorbringens des Klägers erfolgt, dessen Formulierung den Grundsätzen einer Globalbemessung entspreche. Anhaltspunkte dafür, dass lediglich eine Teilbemessung intendiert gewesen sei, lägen nicht vor. Der ausgehandelte Schmerzengeldbetrag von umgerechnet rund 127.000 EUR liege in einer damals nur selten zuerkannten Höhe. Mit den beim Kläger aufgetretenen Beschwerden sei zwar grundsätzlich zu rechnen gewesen, aber weder deren Intensität noch deren Häufigkeit seien abschätzbar gewesen, was auch weiterhin der Fall sei. Deshalb lägen die Voraussetzungen für einen zusätzlichen Schmerzengeldanspruch vor. Wenn aber – wie hier – kein Grund für die Annahme bestehe, dass der Parteiwille auf ein weit über den von der Rechtsprechung zuerkannten Beträgen liegendes Schmerzengeld gezielt habe, müsse – trotz der Entscheidung 2 Ob 164/17g – der Grundsatz Anwendung finden, dass auch bei Abstellen auf die Umstände des Einzelfalls zur Vermeidung völliger Ungleichmäßigkeit der Rechtsprechung ein objektiver Maßstab anzulegen sei und der von der Judikatur gezogene Rahmen für die Bemessung im Einzelfall nicht gesprengt werden dürfe. In Anwendung dieses Grundsatzes erachte das Berufungsgericht den vom Erstgericht zusätzlich ausgemessenen Schmerzengeldbetrag als nicht korrekturbedürftig.

Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil es von der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs 2 Ob 164/17g abgewichen sei.

Dagegen richten sich die Revisionen beider Parteien. Der Kläger strebt die volle Klagsstattgebung, die Beklagte die vollständige Klagsabweisung an.

In seiner Revisionsbeantwortung beantragt der Kläger, die Revision der Beklagten zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben. Die Beklagte beantragt, der Revision des Klägers nicht Folge zu geben.

Die Revision des Klägers ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, sie ist auch teilweise berechtigt. Die Revision der Beklagten ist mangels Darlegung einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

Rechtliche Beurteilung

Vorbemerkung:

Der Kläger ist seit dem die prozessgegenständlichen Beschwerden verursachenden Unfall vom 5. 12. 1998 ab dem 5. Halswirbel querschnittgelähmt. Über seine Fähigkeit Schmerzen zu empfinden, liegen zwar keine Feststellungen vor. Die Beklagte hat aber, wie schon im Vorprozess, ohnedies nicht eingewandt, dass dieser Aspekt bei der Bemessung eines (aus ihrer Sicht aus anderen Gründen nicht gebührenden) Schmerzengeldes zu berücksichtigen wäre.

Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, wonach derjenige, dem die Erlebnisfähigkeit genommen wurde, einen schadenersatzrechtlich zumindest ebenso bedeutenden Nachteil an seiner Person wie durch eine Störung seines Wohlbefindens durch „Schmerz“ erleidet (vgl 3 Ob 116/05p mwN; 2 Ob 106/10t; RS0031232; ausführlich Danzl, HB Schmerzengeld [2019] Rz 3.15 ff).

Davon abgesehen ergibt sich aus dem Gutachten des Sachverständigen mit eindeutiger Klarheit, dass die Beeinträchtigung des Gesundheitszustands des Klägers, unter deren Symptomen er auf die in den Feststellungen beschriebene Weise leidet, der Beeinträchtigung durch Schmerzen gleichzusetzen ist (Bd I AS 449). In diesem Sinne sind daher nicht nur die Feststellungen des Erstgerichts, sondern auch die nachfolgenden Ausführungen zu verstehen, wenn in ihnen (vereinfacht) von „Schmerzen“ die Rede ist.

I. Zur Revision des Klägers:

I.1 Der Kläger moniert das Abweichen des Berufungsgerichts von der zu einem seiner Ansicht nach vergleichbaren Sachverhalt ergangenen Entscheidung 2 Ob 164/17g. Im vorliegenden Fall sei wie dort bei der Bemessung des Schmerzengeldes nicht auf die während des Vorprozesses getroffene Vereinbarung Bedacht zu nehmen. Doch selbst bei einer Globalbemessung im Sinn des Berufungsgerichts stünde dem Kläger angesichts des bisherigen Höchstzuspruchs von (aufgewertet) rund 311.000 EUR (2 Ob 237/01v) der weitere Schmerzengeldbetrag von 130.000 EUR zu, auch wenn man die Leistung aus dem Vergleich von (aufgewertet) 181.355 EUR berücksichtige. Es sei auch die mittlerweile großzügigere Rechtsprechung zum Schmerzengeld zu bedenken.

Dazu wurde erwogen:

I.2 Beim Schmerzengeld handelt es sich nach ständiger Rechtsprechung grundsätzlich um eine Globalentschädigung (2 Ob 218/17y; 2 Ob 24/19x; RS0031191). Allerdings können die Parteien einvernehmlich, etwa durch Vergleich, auch nur über einen Teil des Schmerzengeldes disponieren (2 Ob 218/17y; 2 Ob 24/19x). Es gelten dann die Grundsätze der Vertrauenstheorie, sodass Vergleiche nach den allgemeinen Regeln auszulegen sind. Entscheidend für das Verständnis der wechselseitigen Erklärungen ist deren objektiver Erklärungswert (2 Ob 150/06g mwN; 2 Ob 24/19x; RS0014696).

Allgemein bilden nur die Verhältnisse zur Zeit des Vergleichsabschlusses den Gegenstand des Vergleichs und damit auch seiner Bereinigungswirkung (vgl RS0032453 [T14]). Diese umfasst grundsätzlich alle zweifelhaften Ansprüche, und zwar selbst dann, wenn keine Generalklausel aufgenommen wurde (2 Ob 70/11z mwN; 2 Ob 24/19x; vgl RS0032589; RS0032429).

I.3 Welche zwischen den Parteien strittigen Punkte von der Bereinigungswirkung des Vergleichs umfasst werden sollen, ist aber keine Frage einer bloß allgemeinen Umschreibung behaupteter Ansprüche, sondern einer individuellen Abgrenzung des Umfangs der Vergleichswirkungen und damit auch einer individuellen Umschreibung der durch die Leistung des Vertragspartners abgegoltenen Ansprüche (2 Ob 70/11z). Entscheidend für den Gegenstand der Streitbereinigung ist daher der übereinstimmend erklärte Parteiwille (2 Ob 218/17y; 2 Ob 24/19x; RS0017954). Es kommt darauf an, was von der Bereinigungswirkung des Vergleichs erfasst sein sollte. Die Bindungswirkung tritt nur für die vom Vergleich umfassten Punkte ein (2 Ob 70/11z).

I.4 Im Vorprozess hat der Kläger Schmerzengeld für die unfallkausalen Verletzungen samt „den bereits abschätzbaren Spät- und Dauerfolgen“ begehrt. Nach Anerkennung eines Teilbetrags haben sich der Klagevertreter und der Sachbearbeiter der Beklagten außergerichtlich auf eine bestimmte, nämlich exakt die vom Kläger damals begehrte Geldsumme geeinigt, ohne nähere Details zu vereinbaren. Bedenkt man, dass von rechtlich versierten Fachleuten ohne Befassung medizinischer Sachverständiger eine Summe in der Nähe der damaligen Höchstzusprüche festgelegt wurde, kann dies nur dahin verstanden werden, dass damit die Verletzungsfolgen des Klägers im Sinne einer Globalbemessung abgegolten werden sollten.

I.5 Ist der Parteiwille auf eine Globalbemessung gerichtet, legen die Parteien also die Höhe der Abfindung im Rahmen ihrer privatautonomen Gestaltungsfreiheit einvernehmlich fest, ist dabei die als feststehend angenommene Vergleichsgrundlage, dass die Unfallfolgen mit der Abfindung ein für allemal abgegolten sind (2 Ob 164/17g). Da das Ergebnis der Einigung nicht dem objektiv angemessenen Schmerzengeld entsprechen muss, sondern für die eine oder andere Seite günstiger sein kann, ist der erkennende Senat in 2 Ob 164/17g zur Überzeugung gelangt (zust Huber, ZVR 2018/208, 371 [378 f]), dass eine Anrechnung einer „Überzahlung“ auf einen nachträglichen Ergänzungsanspruch einen unzulässigen Eingriff in die Dispositionsfreiheit der Parteien bedeuten würde. Weder die Ausführungen des Berufungsgerichts noch jene der Revisionen geben Anlass, diese ausführlich begründete Entscheidung einer neuerlichen Prüfung zu unterziehen.

I.6 Wenn die Parteien privatautonom eine Globalbemessung vorgenommen haben, ist für einen allfälligen weiteren Schmerzengeldzuspruch entscheidend, ob die später eingetretenen Unfallfolgen im Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses bereits vorhersehbar waren. Die Vereinbarung hindert daher nicht die Geltendmachung weiteren Schmerzengeldes bei nachträglichem Eintritt von im Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses nach gewöhnlichem Verlauf der Dinge nicht zu erwartenden und aus der damaligen Sicht nicht abschätzbaren Unfallfolgen. Insoweit deckt sich die Rechtslage mit jener, wie sie auch für die Zulässigkeit einer Schmerzengeldnachforderung nach vorangegangener Globalbemessung in einem gerichtlichen Urteil maßgeblich ist (vgl 6 Ob 185/09p mwN; 2 Ob 164/17g mwN; RS0031056). Die Bereinigungswirkung umfasst in der Regel nur die im Zeitpunkt des Vergleichs bekannten oder die erkennbaren Unfallfolgen, nicht dagegen damals nicht vorhersehbare weitere Beeinträchtigungen (RS0032429 [T2]; RS0031031).

I.7 Für die Beurteilung der Frage, ob die Schmerzen in ihren Auswirkungen schon endgültig überschaubar waren, ist der damalige Kenntnisstand des Verletzten maßgeblich (2 Ob 71/16d mwN; 2 Ob 306/00i; RS0031307 [T14]).

Nach den Feststellungen litt der Kläger bereits vor Abschluss der Vereinbarung im Jahr 2000 an Harnwegsinfekten und Symptomen einer autonomen Dysreflexie. Es war ihm auch bereits mitgeteilt worden, dass als „Alternative für seine Entleerungssituation“ eine Sphinkterotomie vorgenommen werden könnte, was der Kläger (bzw seine gesetzlichen Vertreter) nur dahin verstehen konnte(n), dass erst mit einem solchen Eingriff eine erhebliche Linderung seiner Beschwerden verbunden sein würde. Auch während eines Rehabilitationsaufenthalts Ende des Jahres 1999 wurde ihm zu einer Sphinkterotomie geraten, zu der er sich damals aber noch nicht entschließen konnte. Da sich an seinem diesbezüglichen Kenntnisstand bis zum Vergleichsabschluss im Oktober 2000 nichts geändert hatte (anderslautende Behauptungen oder Feststellungen liegen nicht vor), musste der Kläger daher auch in diesem Zeitpunkt noch damit rechnen, dass sich die mit der autonomen Dysreflexie verbundenen Schmerzen bis zu dieser Operation fortsetzen würden.

Dieser Eingriff erfolgte am 10. 12. 2003. Dadurch wurden die Beschwerden aber nur für einige Zeit beseitigt. Dass sie in der Folge (ab Mai 2006) wieder und in solcher Intensität und Dauer auftreten würden, dass sogar wiederholte Sphinkterotomien notwendig werden würden, war dagegen für den Kläger aus damaliger Sicht (bei Vergleichsabschluss) ebenso wenig absehbar wie der Umstand, dass er fieberhafte Harnwegsentzündungen in einer Häufigkeit von bis zu sechs Fällen pro Jahr haben werde, zumal die durchschnittliche Zahl von Harnwegsinfekten bei Verletzungen wie jener des Klägers nicht einschätzbar war und ist. Das Verfahren erbrachte auch keine Anhaltspunkte dafür, dass das spätere Auftreten von Nebenhodenentzündungen für ihn vorhersehbar war.

I.8 Der Kläger hat daher Anspruch auf ein weiteres Schmerzengeld.

Das Erstgericht hat zu Ausmaß und Intensität der vom Kläger im Zeitraum von Juli 1999 bis Juni 2018 insgesamt erlittenen Schmerzen Feststellungen getroffen. Von diesen Schmerzen sind allerdings jene, die auf die bis zum 25. 10. 2000 erduldeten Harnwegsinfekte und die autonome Dysreflexie während rund 4,5 Jahren bis zur Sphinkterotomie vom 10. 12. 2003 sowie diesen Eingriff selbst entfallen, von der Bereinigungswirkung des Vergleichs umfasst.

Ersatz gebührt hingegen für jene Schmerzen, die der Kläger aufgrund der seit dem Vergleichsabschluss am 25. 10. 2000 immer wieder aufgetretenen fiebrigen Harnwegsinfekte, der vier Nebenhodenentzündungen, der ab Mai 2006 wieder aufgetretenen autonomen Dysreflexie und der weiteren Eingriffe erlitten hat.

I.9 Dabei ist mit Teilbemessung vorzugehen. Zwar ist nach ständiger Rechtsprechung das Schmerzengeld grundsätzlich einmalig auch unter Berücksichtigung zukünftiger Schmerzen global zu bemessen (RS0031307). Eine Globalbemessung ist aber ua dann nicht vorzunehmen, wenn Schmerzen in ihren Auswirkungen für den Verletzten zum Zeitpunkt des Schlusses der Verhandlung erster Instanz noch gar nicht oder nicht endgültig überschaubar erschienen (2 Ob 240/10y mwN; 2 Ob 83/14s). Das ist hier der Fall. Denn nach den Feststellungen ist weiterhin nicht abschätzbar, ob und in welcher Intensität beim Kläger Harnwegsinfekte auftreten werden, er wieder unter den Symptomen der autonomen Dysreflexie leiden wird und ob eine weitere Sphinkterotomie erforderlich sein wird.

Die Teilbemessung wäre auch dann zulässig, wenn der Kläger eine Globalbemessung angestrebt haben sollte (was aus seinem Vorbringen nicht deutlich wird). Sieht sich das Gericht aufgrund der Feststellungen zu einer Globalbemessung nicht in der Lage, steht es ihm nämlich frei, innerhalb des ziffernmäßigen Begehrens mit Teilbemessung vorzugehen (2 Ob 150/06g mwN; 2 Ob 59/17s). Grundlage für die demnach zulässige Teilbemessung des Schmerzengeldes ist daher das vorläufige Gesamtbild (unter Ausklammerung der bereits vom Vergleich umfassten Beschwerden), das sich bei Schluss der mündlichen Verhandlung am 1. 3. 2019 ergab (2 Ob 240/10y mwN; RS0115721 [T3]).

I.10 In der bisherigen Rechtsprechung mussten Verletzungsfolgen, wie sie hier zu beurteilen sind, offenbar noch nie isoliert bewertet werden (die Durchsicht der bei Danzl, Schmerzengeld-Entscheidungen Ausgabe 1/2018 veröffentlichten Judikate blieb erfolglos). Im Hinblick auf die über einen langen Zeitraum hinweg in großer Häufigkeit immer wiederkehrenden Schmerzen und Beschwerden von regelmäßig auch starker Intensität, die mitunter lebensbedrohliche Symptomatik, dem damit verbundenen zusätzlichen Entzug von Daseinsfreuden sowie der Tendenz, den Schmerzengeldanspruch bei gravierenden Dauerfolgen deutlich höher festzusetzen als in früheren Jahren (vgl 2 Ob 218/17y), was auch dann zu gelten hat, wenn nur diese Dauerfolgen Gegenstand der Bemessung des Schmerzengeldes sind, hält der Senat ein ergänzend und ohne Bedachtnahme auf den Vergleich vom 25. 10. 2000 zuzusprechendes Schmerzengeld von 90.000 EUR für angemessen.

II. Zur Revision der Beklagten:

II.1 Die Beklagte verweist darauf, dass im Vorprozess eine Globalbemessung des Schmerzengeldes vorgenommen worden sei. Sie habe sich dem Prozessstandpunkt des Klägers letztlich vollumfänglich unterworfen und das Leistungsbegehren vollständig erfüllt. Im Ergebnis mache es keinen Unterschied, ob ein Anspruch außergerichtlich vollständig beglichen werde oder ob ein Gericht mittels Anerkenntnisurteil entscheide. Die Überlegungen der Entscheidung 2 Ob 164/17g seien nicht maßgeblich, weil kein Vergleichsergebnis vorliege. Es sei eine am damals zuerkannten Höchstbetrag orientierte Leistung erbracht worden. Es sei auch nicht auf das konkrete Wissen der Beteiligten abzustellen, sondern auf die Vorhersehbarkeit, also darauf, womit erfahrungsgemäß gerechnet werden müsse. Ein Abweichen von der bereits erfolgten Globalbemessung sei nicht zulässig, weil schon längst ein Dauer-(End-)Zustand vorliege, die wesentlichen Verletzungsfolgen auch im Hinblick auf ihr Schmerzpotential überschaubar gewesen seien und keine atypischen Verletzungsfolgen vorlägen.

II.2 Mit diesem Vorbringen macht die Beklagte – entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts (§ 508a Abs 1 ZPO) – keine für die Entscheidung erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO geltend:

II.3 Die Ausführungen der Entscheidung 2 Ob 164/17g basieren zentral auf der Respektierung einer privatautonomen Vereinbarung der Parteien über das Schmerzengeld, wie sie auch hier von den Streitteilen im Vorprozess getroffen wurde. Das damals vereinbarte Schmerzengeld war letztlich Ergebnis von Vergleichsverhandlungen, nachdem zuvor ein unstrittiger (hoher) Sockelbetrag bereits anerkannt worden war. Selbst ein sofortiges Anerkenntnis einer Schmerzengeldforderung durch den Schädiger hinderte aber nicht die Geltendmachung einer Abgeltung für später auftretende Schmerzen und Dauerfolgen, wenn dem Verletzten deren verlässliche Abschätzung bei Einbringung der Klage noch nicht möglich gewesen ist (vgl RS0031224 [T2]).

Dass es – entgegen der Behauptung der Beklagten – auf das konkrete Wissen des Geschädigten ankommt, entspricht der bereits in Punkt I.7 zitierten Rechtsprechung. Soweit die Beklagte vorbringt, es lägen nur vorhersehbare Unfallfolgen vor, entfernt sie sich von den Feststellungen, ebenso mit dem Vorbringen zum Vorliegen eines Endzustands.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 43 Abs 2 ZPO, im Rechtsmittelverfahren iVm § 50 Abs 1 ZPO betreffend die Rechtsmittel des Klägers, wobei keine Überklagung vorlag, und betreffend die Rechtsmittel der Beklagten auf §§ 41 Abs 1, 50 Abs 1 ZPO. Da der Kläger in seiner Revisionsbeantwortung auf die Unzulässigkeit der Revision der Beklagten hingewiesen hat, diente sein Schriftsatz der zweckentsprechenden Rechtsverteidigung.

Textnummer

E128892

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:0020OB00181.19K.0629.000

Im RIS seit

26.08.2020

Zuletzt aktualisiert am

24.06.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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