TE Bvwg Beschluss 2018/8/1 W263 2193498-1

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Veröffentlicht am 01.08.2018
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Entscheidungsdatum

01.08.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art.133 Abs4
VwGVG §28 Abs3
VwGVG §31

Spruch

W263 2193498-1/4E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht fasst durch die Richterin Mag. Christina KERSCHBAUMER als Einzelrichterin über die Beschwerde der XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.04.2018, Zl. 1166188702-171236115, den Beschluss:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben, der angefochtene Spruchpunkt I. des Bescheides gemäß §§ 31, 28 Abs. 3 VwGVG behoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

BEGRÜNDUNG:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin (in der Folge: "BF"), eine afghanische Staatsangehörige, reiste in das österreichische Bundesgebiet ein, wo sie am 02.11.2017 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

2. Im Rahmen der am selben Tag erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab die BF an, sie sei am 27.10.2017 mit dem Flugzeug legal und im Besitz eines österreichischen Visums von Islamabad, Pakistan nach Wien/Schwechat gereist. Sie habe keine eigenen Fluchtgründe. Sie stelle den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz deswegen, weil ihr Ehemann in Österreich den Status des subsidiär Schutzberechtigten erlangt habe und sie in Österreich denselben Schutz wie ihr Ehemann beantrage. Sie sei mit einer Entscheidung des Bundesamtes auf Basis dieser Angaben einverstanden und würde auf eine weitere Einvernahme verzichten.

3. Mit Bescheid vom 04.04.2018 wies das BFA den Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), erkannte der BF den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 11.10.2018 (Spruchpunkt III.).

4. Mit Verfahrensanordnung vom 04.04.2018 wurde der BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig der Verein Menschenrechte Österreich als Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Seite gestellt.

5. Gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des BFA richtet sich die am 23.04.2018 fristgerecht erhobene Beschwerde.

Mit Schreiben vom 23.04.2018 wurde ein histologischer Befund vom 22.01.2018 und eine Arztbestätigung über die Schwangerschaft der BF (errechneter Geburtstermin: 17.09.2018) nachgereicht.

6. Die gegenständliche Beschwerde und die bezugshabenden Verwaltungsakte wurden dem Bundesverwaltungsgericht mit Schreiben vom 24.04.2018 seitens des BFA vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die BF führt den Namen XXXX , geb. am XXXX , und ist Staatsangehörige der Islamischen Republik Afghanistan.

Ihrem Ehemann, XXXX , geb. am XXXX , wurde bereits mit Bescheid des BFA vom XXXX , Zl. XXXX , der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.

Die BF ist nach ihren Angaben in XXXX , Afghanistan geboren.

Die BF reiste legal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 02.11.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am selben Tag wurde die BF zu ihrer Person durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einvernommen. Dabei gab sie an, dass sie keine eigenen Fluchtgründe habe. Sie stelle den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz deswegen, weil ihr Ehemann in Österreich den Status des subsidiär Schutzberechtigten erlangt habe und sie in Österreich denselben Schutz wie ihr Ehemann beantrage. Sie sei mit einer Entscheidung des Bundesamtes auf Basis dieser Angaben einverstanden und würde auf eine weitere Einvernahme verzichten.

Eine Einvernahme der BF durch das BFA fand nicht statt.

2. Beweiswürdigung:

Der festgestellte Sachverhalt ergibt sich eindeutig und unzweifelhaft aus den vorliegenden Akteninhalten und wurde auch nicht substantiiert bestritten. Die Niederschrift der Erstbefragung liegt wie der Bescheid vom 04.04.2018 im Akt ein.

Die Feststellungen zur Identität (Name und Geburtsdatum) der BF ergeben sich aus ihren Angaben in der Erstbefragung und dem dabei offenbar in Vorlage gebrachten Reisepass. Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit und Herkunft stützen sich weiters auf die diesbezüglich glaubhaften Angaben der BF sowie auf die Kenntnis und Verwendung der Sprache Dari.

Die Feststellungen zur Einreise nach Österreich und das Datum der Asylantragstellung ergeben sich aus den Angaben der BF in der Erstbefragung in Zusammenhalt mit den weiteren Akteninhalten (z.B. AS 31 ff). Die Feststellungen zum Ehemann der BF ergeben sich aus dem Bescheid der belangten Behörde, welchem diesbezüglich nicht entgegengetreten wurde.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

Gemäß § 28 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (in der Folge kurz "VwGVG") hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG erfolgen die Entscheidungen und Anordnungen durch Beschluss, soweit nicht ein Erkenntnis zu fällen ist.

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn 1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder 2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist. Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat das Verwaltungsgericht gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hierbei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

§ 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, wenn "die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen" hat. Zur Anwendung des § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG durch die Verwaltungsgerichte hat der Verwaltungsgerichtshof ausgehend von einem prinzipiellen Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht durch das Verwaltungsgericht präzisierend wie folgt festgehalten (VwGH 06.07.2016, Ra 2015/01/0123):

"In § 28 VwGVG 2014 ist ein prinzipieller Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte normiert, weswegen die in § 28 Abs. 3 zweiter Satz leg cit vorgesehene Möglichkeit der Kassation eines verwaltungsbehördlichen Bescheides streng auf ihren gesetzlich zugewiesenen Raum zu beschränken ist (Hinweis E vom 17. Dezember 2014, Ro 2014/03/0066, mwN). Von der Möglichkeit der Zurückverweisung kann nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden (Hinweis E vom 27. Jänner 2015, Ra 2014/22/0087, mwN). Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher nur dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (Hinweis E vom 12. November 2014, Ra 2014/20/0029, mwN)."

Ebenso hat der Verfassungsgerichtshof in ständiger Judikatur ausgesprochen, dass willkürliches Verhalten einer Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, dann anzunehmen ist, wenn in einem entscheidenden Punkt jegliche Ermittlungstätigkeit unterlassen wird oder ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren gar nicht stattfindet, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteienvorbringens oder dem Außer- Acht-Lassen des konkreten Sachverhaltes (vgl. VfSlg. 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001). Ein willkürliches Vorgehen liegt insbesondere dann vor, wenn die Behörde den Bescheid mit Ausführungen begründet, denen jeglicher Begründungswert fehlt (vgl. VfSlg. 13.302/1992 m. w. N., 14.421/1996, 15.743/2000).

Vor diesem Hintergrund muss zusätzlich berücksichtigt werden, dass sich nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes beweiswürdigende Überlegungen zur Stichhaltigkeit einer Fluchtgeschichte regelmäßig nicht auf das Vorbringen eines Asylwerbers beschränken dürfen. Vielmehr bedarf es auch einer Betrachtung der konkreten Lage im Herkunftsstaat des Betreffenden, weil seine Angaben letztlich nur vor diesem Hintergrund einer Plausibilitätskontrolle zugänglich sind (VwGH 18.04.2002, 2001/01/0023).

Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes ist der oben dargelegte Maßstab betreffend die Anwendung von § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG im vorliegenden Fall erfüllt, weil - wie aus den im Folgenden dargestellten Umständen ersichtlich - davon auszugehen ist, dass die belangte Behörde maßgebende Ermittlungsschritte unterlassen hat:

Im vorliegenden Fall war es die Aufgabe der belangten Behörde zu klären, ob die BF eine asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen habe können und auch, ob darüber hinaus menschen- bzw. asylrechtliche Gründe einer Rücküberstellung bzw. Ausweisung in ihren Herkunftsstaat entgegenstehen würden und ihr der Status der subsidiär Schutzberechtigte zuzuerkennen sei. Das BFA hat aufgrund des "Antrags im Familienverfahren" und aufgrund der von der BF bei der Erstbefragung abgegebenen Erklärungen, keine eigenen Fluchtgründe zu haben, mit der Entscheidung des BFA auf Basis ihrer Angaben einverstanden zu sein und auf eine weitere Einvernahme verzichten zu wollen, von einer Einvernahme der BF abgesehen und eine Entscheidung derart getroffen, dass der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status der Asylberechtigten abgewiesen, jedoch der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden ist.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem ähnlich gelagerten Fall ein Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, mit dem die Beschwerde gegen einen Bescheid des BFA abgewiesen worden war, aufgehoben (VwGH 24.03.2015, Ra 2014/19/0063) und in der Begründung unter anderem ausgeführt:

"[...] Im vorliegenden Fall hat nun das Bundesasylamt aus der Formulierung des Antrags, dass ‚derselbe Schutz gewährt wird, wie meiner Familie' unzutreffend abgeleitet, dass für die Revisionswerberin (nur) derselbe Schutz, also bloß - bereits ihren Eltern gewährter - subsidiärer Schutz begehrt werde. Davon ausgehend hat das Bundesasylamt weitere Erhebungen, wie insbesondere eine Einvernahme der Eltern der Revisionswerberin zu dem im vorliegenden Verfahren maßgeblichen Sachverhalt unterlassen.

[...]

Aus dem Hinweis in den für die Revisionswerberin gestellten Anträgen auf ‚denselben Schutz' war jedoch - wie sich § 34 AsylG 2005 entnehmen lässt und oben dargelegt wurde - nicht abzuleiten, dass der Revisionswerberin - bei Vorliegen eigener Gründe - nicht auch der Status der Asylberechtigten zu gewähren gewesen wäre. Auch wenn eigene Fluchtgründe in den von den Eltern der Revisionswerberin für diese gestellten Anträgen (noch) nicht enthalten waren, hätte das Bundesasylamt - unter Mitwirkung der Eltern der Revisionswerberin - das allfällige Vorliegen solcher Gründe zu prüfen gehabt. [...]"

Das Bundesverwaltungsgericht geht nicht davon aus, dass die BF auf ihren Antrag auf internationalen Schutz verzichten habe wollen, als diese bei der Erstbefragung auf ihren Ehemann verwies und die Gewährung desselben Schutzes wie ihr Ehemann beantragte. Es ist in diesem Zusammenhang nicht davon auszugehen, dass der BF die volle rechtliche Tragweite der Bedeutung der beiden juristischen Begriffe "Asylberechtigter" bzw. "subsidiär Schutzberechtigter" in vollem Umfang bekannt gewesen ist und sie ihren Antrag auf internationalen Schutz auf die Gewährung von subsidiärem Schutz, wie er ihrem Ehemann zukommt, einschränken wollte bzw. auf ihren Antrag auf internationalen Schutz verzichten wollte.

Im vorliegenden Fall wäre es daher die Aufgabe der belangten Behörde gewesen, zu prüfen, ob nicht der Status der Asylberechtigten zu gewähren gewesen wäre und zumindest eine Einvernahme der BF vor Erlassung des Bescheides durchzuführen.

Hinsichtlich der von der BF abgegebenen (Verzichts-)Erklärungen zu ihren Fluchtgründen und ihrer Einvernahme ist festzuhalten, dass es sich dabei offensichtlich um bereits vorformulierte Angaben handelt, weshalb im konkreten Fall nicht davon ausgegangen werden kann, dass diese Angaben die belangte Behörde von der amtswegigen Ermittlung eventueller Schutzgründe von vornherein zu befreien in der Lage sind. Entsprechende Belehrungen, Hinweise bzw. Erklärungen lassen sich weder der Niederschrift noch den sonstigen vorgelegten Aktenteilen entnehmen.

Die BF wurde nicht nach § 19 Abs. 2 AsylG 2005 einvernommen. Nach § 19 Abs. 2 AsylG 2005 ist ein Asylwerber vielmehr vom Bundesamt, soweit er nicht auf Grund von in seiner Person gelegenen Umständen in der Lage ist, durch Aussagen des zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes beizutragen, zumindest einmal im Zulassungsverfahren und - soweit nicht bereits im Zulassungsverfahren über den Antrag entschieden wurde - zumindest einmal nach Zulassung des Verfahrens einzuvernehmen. Eine Einvernahme kann unterbleiben, wenn dem Asylwerber ein faktischer Abschiebeschutz nicht zukommt (§ 12a Abs. 1 oder 3). Weiters kann die Einvernahme im Zulassungsverfahren unterbleiben, wenn das Verfahren zugelassen wird.

Da keine dieser Umstände im gegenständlichen Fall vorgelegen ist, wäre die BF jedenfalls zur Abklärung des tatsächlichen Vorliegens individueller Fluchtvorbringen vom BFA einzuvernehmen gewesen. Aus § 19 Abs. 1 AsylG 2005 geht klar hervorgeht, dass sich die Erstbefragung insbesondere der Ermittlung der Identität und der Reiseroute des Fremden und nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat, sodass im gegenständlichen Fall eine ausführliche Befragung der BF zu den Fluchtgründen von Seiten des BFA aussteht. Dies wiederum wird im gegenständlichen Fall allerdings als für notwendig erachtet, um die entsprechende Relevanz nach § 3 AsylG 2005 abschließend beurteilen zu können.

Die persönliche Einvernahme erscheint daher unerlässlich, als der Bescheid entsprechende gravierende Ermittlungslücken enthält. Der maßgebliche Sachverhalt stellt sich mangels entsprechender Ermittlungen - auch in Verbindung mit der Beschwerde - als ungeklärt dar. Das Verfahren vor dem BFA ist - wie oben dargestellt - mit massiven Mängeln behaftet. Zentrale Ermittlungsschritte, welche grundsätzlich von der belangten Behörde durchzuführen sind, wären demnach erstmals durch das Verwaltungsgericht zu tätigen. Eine ernsthafte Prüfung des Antrags soll aber nicht erst beim Bundesverwaltungsgericht beginnen und zugleich enden. Indem das BFA keine Einvernahme der BF durchgeführt hat, um sich einen persönlichen Eindruck der BF zu verschaffen und nötige Ermittlungen betreffend die BF sowie die Situation in der Herkunftsregion der BF nicht unternommen hat, erweist sich das Ermittlungsverfahren als völlig unzureichend. Unter Zugrundelegung des bisher Ausgeführten konnte in Summe nur der Eindruck entstehen, dass das Bundesamt völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt bzw. bloß ansatzweise ermittelt hat, sodass vom Vorliegen besonders gravierender Ermittlungslücken auszugehen ist.

Besondere Gesichtspunkte, die aus der Sicht des Verwaltungsgerichtes gegen eine Kassation des angefochtenen Bescheides sprechen würden, sind im vorliegenden Fall nicht erkennbar. Die Durchführung des verwaltungsbehördlichen Verfahrens kann durch die belangte Behörde als (gerichtsnotorisch bekannte) Spezialbehörde (VwGH 03.04.2018, Ra 2017/01/0433) rascher und kostengünstiger als durch das erkennende Gericht durchgeführt werden. Die belangte Behörde ist als Spezialbehörde u. a. im Rahmen der Staatendokumentation gemäß § 5 BFA-Einrichtungsgesetz für die Sammlung relevanter Tatsachen zur Situation in den betreffenden Staaten samt den Quellen zuständig.

Unter Zugrundelegung des im Detail Ausgeführten wird das BFA insbesondere eine Einvernahme der BF vor Erlassung des Bescheides durchzuführen haben, um sich einerseits den nötigen persönlichen Eindruck hinsichtlich der Fluchtgründe der BF zu verschaffen.

Es stellen sich beim Studium der vorgelegten Aktenteile insbesondere die Fragen, welcher Volksgruppe und Religionsgemeinschaft die BF angehört, wo ihre Herkunftsregion tatsächlich liegt, warum die BF ihr Heimatland verlassen hat und überhaupt, welche Lebensumstände bzw. Gefährdungslagen bei der BF im Hinblick auf ihre Herkunftsregion vorliegen.

Insbesondere wird eine Befragung der BF im Hinblick auf eine allenfalls vorliegende Gefährdung bezüglich einer geschlechtsspezifischen Verfolgung, die bereits aufgrund der notorischen Situation in Afghanistan von Amts wegen vorzunehmen und unabdingbar ist, erforderlich sein:

So hat auch der Verfassungsgerichtshof zuletzt mit Erkenntnis VfSlg. 19.646/2012 ausgeführt, die Prüfung einer asylrelevanten geschlechtsspezifischen Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der afghanischen Frauen habe auch dann zu erfolgen, wenn kein diesbezügliches Vorbringen erstattet worden ist. Der Entscheidung des VfGH zugrundeliegenden Verfahrens wurde aber der Mutter des Beschwerdeführers in der Einvernahme vor dem Bundesamt keinerlei Gelegenheit gegeben, ein diesbezügliches Vorbringen zu erstatten, zu der gesamten Thematik an sich wurden seitens der Behörde keine Fragen gestellt, die allenfalls zu einer Beurteilung ihrer Haltung führen hätte können.

Zur "westlichen Gesinnung" hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner Entscheidung vom 16.01.2008, 2006/19/0182, ausgeführt: "Nach der Stellungnahme des UNHCR vom Juli 2003 sollten unter anderem afghanische Frauen, von denen angenommen werde, dass sie soziale Normen verletzen (oder die dies tatsächlich tun), bei einer Rückkehr nach Afghanistan als gefährdet angesehen werden. Diese Kategorie könnte Frauen einschließen, die westliches Verhalten oder westliche Lebensführung angenommen haben, was als Verletzung der sozialen Normen angesehen werde und ein solch wesentlicher Bestandteil der Identität dieser Frauen geworden sei, dass es für diese eine Verfolgung bedeuten würde, dieses Verhalten unterdrücken zu müssen (zur Indizwirkung entsprechender Empfehlungen internationaler Organisationen vgl. das hg. E vom 20. April 2006, Zl. 2005/01/0556, mwN; zur gebotenen Heranziehung weiterer Erkenntnisquellen auch bei Einholung eines Gutachtens vgl. das hg. E vom 1. April 2004, Zl. 2002/20/0440). Diese Stellungnahme geht also nicht nur bei Ambition zu öffentlichem Auftreten von einer Gefährdung aus, sondern bereits dann, wenn lediglich angenommen werde, eine Frau verletze soziale Normen."

Der Verwaltungsgerichtshof hat sich unlängst wieder mit der bisherigen höchstgerichtlichen Rechtsprechung zur "westlichen Orientierung" auseinandergesetzt und diese wie folgt zusammengefasst (VwGH 22.03.2017, Ra 2016/18/0388):

"8. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes können Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund eines gelebten ,westlich' orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden (vgl. etwa VwGH vom 28. Mai 2014, Ra 2014/20/0017- 0018, mwN). Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass diese Verfolgung vom Heimatstaat ausgeht. Auch eine private Verfolgung kann insoweit maßgeblich sein, als der Heimatstaat nicht gewillt oder in der Lage ist, Schutz vor solcher Verfolgung zu gewähren. Es sind daher konkrete Feststellungen zur Lebensweise der Asylwerberin im Entscheidungszeitpunkt zu treffen und ist ihr diesbezügliches Vorbringen einer Prüfung zu unterziehen.

9. Wenn das BVwG in seinem angefochtenen Erkenntnis einen ,westlichen Lebensstil' der Revisionswerberin bloß aufgrund ihres Erscheinens zur mündlichen Verhandlung mit einem Kopftuch und traditioneller Bekleidung verneint, verkennt es, dass allein dieser Umstand nicht gegen eine Lebensweise der Revisionswerberin im oben genannten Sinn spricht. Das BVwG hätte sich vielmehr damit auseinandersetzen müssen, wie es der Revisionswerberin erginge, wenn sie in der relevanten Herkunftsregion den im Entscheidungszeitpunkt gelebten Lebensstil führen würde (vgl. VwGH vom 15. Dezember 2015, Ra 2014/18/0118-0119). Das BVwG hätte somit, wie es die Revision zutreffend aufzeigt, auf Basis konkreter Feststellungen zur aktuellen Lebensweise der Revisionswerberin - unter Heranziehung aktueller Länderberichte - die zu erwartenden Reaktionen auf die von ihr weiterhin angestrebte Lebensweise in ihrer Heimatregion in Afghanistan prüfen müssen, um das Vorliegen eines Konventionsgrundes beurteilen zu können."

Weiters präzisierte der Verwaltungsgerichtshof jüngst (VwGH 23.01.2018, Ra 2017/18/0301):

"Um davon ausgehen zu können, dass der Asylwerberin bei Rückkehr nach Afghanistan Verfolgung wegen ihres von den dort herrschenden politischen und/oder religiösen Normen abweichenden Lebensstils droht, bedarf es selbstverständlich einer Abkehr der Asylwerberin von eben diesen herrschenden politischen und/oder religiösen Normen. Dass diese Abkehr deutlich und nachhaltig sein muss, wurde in der höchstgerichtlichen Rechtsprechung zwar nicht gefordert, steht mit dieser aber auch nicht im Widerspruch: Nicht jede Änderung der Lebensführung einer Asylwerberin während ihres Aufenthalts in Österreich, die im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mehr aufrecht erhalten werden könnte, führt dazu, dass der Asylwerberin deshalb internationaler Schutz gewährt werden muss. Aus diesem Grund ist etwa das Revisionsvorbringen, die Revisionswerberin könne im Falle einer Rückkehr nach Kabul - ohne männliche Begleitung - nicht mehr den Freizeitsport Nordic Walking ausüben, für sich betrachtet jedenfalls kein Grund, ihr asylrechtlichen Schutz zu gewähren. Entscheidend ist vielmehr eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung der Asylwerberin, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, die zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist, und die bei Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte (vgl. idS VwGH 22.3.2017, Ra 2016/18/0388)."

Es musste der belangten Behörde aufgrund der Judikatur des Bundesverwaltungsgerichts bzw. der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts bekannt sein, dass die Situation der Frauen in Afghanistan unter den genannten Umständen asylrelevant sein kann und nach § 18 AsylG 2005 diesbezügliche Ermittlungen zu tätigen sind. Gerade in Hinblick auf diese als hinreichend bekannt vorauszusetzende Judikatur ist es evident, dass die belangte Behörde es unterlassen hat, sich mit den frauenspezifischen Problemen in Afghanistan zu beschäftigen bzw. die oben dargelegten spezifischen Ermittlungen durchzuführen.

Die BF wird daher insbesondere zu ihrer Lebensführung in Afghanistan und Österreich vor dem Hintergrund relevanten Länderberichtsmaterials zu befragen sein.

Im gegebenen Zusammenhang liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel vor, der mit besonders gravierenden Ermittlungslücken einhergeht, deren Behebung nur durch Befragung der BF und einer Nachholung der verabsäumten Ermittlungen zu bewirken ist. Auch vor dem Hintergrund verwaltungsökonomischer Überlegungen und den Effizienzkriterien des § 39 Abs. 2 AVG macht das Bundesverwaltungsgericht von dem ihm in § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG eingeräumten Ermessen Gebrauch.

Der angefochtene Bescheid ist daher gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zu beheben und die Angelegenheit an das BFA zurückzuverweisen.

Es ist daher spruchgemäß zu entscheiden.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden, noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen.

Die oben in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist zwar zum Teil zu früheren Rechtslagen ergangen, sie ist jedoch nach Ansicht des erkennenden Gerichts auf die inhaltlich weitestgehend gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.

Schlagworte

aktuelle Länderfeststellungen, Behebung der Entscheidung,
Ermittlungspflicht, Kassation, mangelnde Sachverhaltsfeststellung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2018:W263.2193498.1.00

Zuletzt aktualisiert am

07.09.2018
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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