TE Vwgh Erkenntnis 2008/1/16 2006/19/0182

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 16.01.2008
beobachten
merken

Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

AsylG 1997 §7;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Höß sowie den Hofrat Mag. Nedwed, die Hofrätin Dr. Pollak und die Hofräte Dr. N. Bachler und MMag. Maislinger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. S. Giendl, über die Beschwerde der N, vertreten durch Dr. Gerhard Holzinger, Rechtsanwalt in 5280 Braunau am Inn, Stadtplatz 36, gegen den am 2. September 2004 verkündeten und am 13. September 2004 schriftlich ausgefertigten Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenats, Zl. 250.607/7-II/04/04, betreffend § 7 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige von Afghanistan, gelangte im November 1999 - gemeinsam mit ihrem Ehemann (vgl. hiezu den hg. Beschluss vom 12. Dezember 2007, Zl. 2006/19/0240) - in das Bundesgebiet. Zunächst stellte sie einen Asylerstreckungsantrag (bezogen auf den Asylantrag ihres Ehemannes). Am 24. November 2003 beantragte sie Asyl. Bei ihrer Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 30. April 2004 gab sie an, der tadschikischen Volksgruppe anzugehören und in Kabul gelebt zu haben. Ihr Vater habe ihr (etwa fünf Monate vor der Einvernahme) mitgeteilt, ihre Schwester habe mit einem Kommandanten verehelicht werden sollen. Kurz danach sei ihre Schwester verschollen. Der Kommandant habe daraufhin ihren Vater geschlagen; wenn er seine Tochter nicht finde, werde der Kommandant die zweite (14-jährige) Schwester der Beschwerdeführerin mitnehmen. Der Kommandant habe gedroht, die gesamte Familie werde Schwierigkeiten bekommen. In Afghanistan hätten Frauen keine Rechte und keine Freiheit, es gebe keine Sicherheit. Sie sei mit der islamischen fundamentalistischen Führung nicht einverstanden.

Das Bundesasylamt wies den Asylantrag der Beschwerdeführerin mit Bescheid vom 21. Mai 2004 gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab (Spruchpunkt I.), erklärte aber ihre Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 AsylG für nicht zulässig (Spruchpunkt II.) und erteilte ihr gemäß § 8 Abs. 3 iVm § 15 Abs. 2 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung. Die Beschwerdeführerin sei offensichtlich nach wie vor Hausfrau, habe sich keiner weiteren Berufsausbildung unterzogen, sei nicht exilpolitisch tätig und könne in Afghanistan nicht als exponiert betrachtet werden. Die Beschwerdeführerin habe in ihrem Antrag Möglichkeiten geschildert, welche in Österreich Frauen offen stünden. Es deute aber nichts darauf hin, dass sie diese Möglichkeiten - abgesehen von einzelnen Punkten, wie etwa die Art sich zu kleiden - in Österreich bis dato extensiv in Anspruch genommen habe. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin hinsichtlich des Kommandanten könne - in Bezug auf die Beschwerdeführerin - nicht nachvollzogen werden, da die Beschwerdeführerin durch ihre Hochzeit aus dem Familienverband ihres "Gatten" (gemeint wohl: ihres Vaters) ausscheide und in den Familienverband des Ehemannes übertrete.

In der gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhobenen Berufung führte die Beschwerdeführerin ua. aus, das Bundesasylamt habe es unterlassen, ihr Fragen zu ihrem jetzigen Lebensstil zu stellen. Der entscheidende Beamte sei nicht bei ihrer Einvernahme anwesend gewesen. Hätte das Bundesasylamt gefragt, hätte die Beschwerdeführerin darlegen können, wie sie sich der westlichen Kultur angepasst habe und wie sehr sie darunter leiden würde, ihre jetzige Lebensart so zu verändern, wie eine Rückkehr nach Afghanistan es erfordern würde. Sie sei eine moderne, liberale, westlich orientierte Frau. Nicht nur ihre Kleidung signalisiere ihre jetzige Einstellung, sondern auch ihre Art und Weise zu denken und zu handeln. Sie habe verstanden und "adaptiert", dass auch sie als Frau etwas zu sagen habe, sie sich in Österreich ihrem Mann nicht unterordnen müsse und kein Verwandter ihre Bestrafung verlangen könne, wenn sie sich nicht in allem ihrem Mann füge. Hier dürften Frauen ohne Weiteres arbeiten. Hier könne sie ohne Angst und ohne männliche Begleitung "auf den Straßen gehen". Diese Lebensweise habe sie über fünf Jahre in Anspruch genommen. Es wäre für sie undenkbar, wieder in eine Gesellschaft zurückversetzt zu werden, wo ihr dies verweigert werde. In ihrer Familie habe sie das Recht mitzubestimmen. Ihre jetzige Lebens- und Denkweise habe sich verfestigt und sei ein wesentlicher Bestandteil ihrer Identität geworden, sodass es für sie eine schwere psychische Belastung wäre, in das jetzige Gesellschaftssystem Afghanistans zurückkehren zu müssen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan würde sie weiterhin Hosen und Blusen tragen, was auch in Kabul nicht akzeptiert werde. In Zeiten der Taliban sei eine Frau, die sich ohne Bedeckung und männliche Begleitung auf den Straßen gezeigt habe, ausgepeitscht worden. Jetzt würden Frauen nicht ausgepeitscht, sondern vergewaltigt werden. Sie würde in ihrer Heimat arbeiten und sich auf den Straßen frei bewegen wollen. Sie würde sich nicht den Männern fügen, sondern ihre Meinung aussprechen. Sie sei der Meinung, dass alle Menschen gleich viel Wert seien und dieselben Rechte ausüben dürften. Ihr Mann sei in Afghanistan für sie verantwortlich. Wenn die Beschwerdeführerin auffällig werde, werde ihr Mann sie bestrafen müssen, um nicht selbst bestraft zu werden. Wenn ihr Mann die Sittenbrüche der Beschwerdeführerin durch Schläge bestrafe, könne sie sich aus traditionellen Gründen nicht an die Gerichte wenden. Eine derartige Handlung wäre von den geistlichen Gerichten Afghanistans als Handlung gegen die Familie einzustufen. Sie habe in Kabul keine Verwandten mehr und könne nach Kabul nicht zurückkehren. Die Beschwerdeführerin und ihre Familie würden in Kabul von einem Kommandanten verfolgt werden. Unter Berücksichtigung der herrschenden Sicherheitslage in Kabul wäre es für den Kommandanten leicht, ihren Ehemann zu töten. Der Kommandant könnte auch ihre 9-jährige Tochter verlangen. Sie befürchte weiters, dass ihr und ihren Kindern in Afghanistan die medizinische Versorgung verwehrt bleibe. Es komme immer noch vor, dass Frauen im Krankenhaus nicht behandelt würden, da es zu wenige Ärztinnen gebe.

Über die Berufung der Beschwerdeführerin verhandelte die belangte Behörde unter Beiziehung des Sachverständigen Univ.-Doz. Dr. Max Klimburg am 1. und 2. September 2004. In dieser Verhandlung erklärte die Beschwerdeführerin - vom Verhandlungsleiter aufgefordert, ihre aktuelle Gefährdungssituation vollständig darzulegen -, abgesehen von (nach den Darlegungen des Verhandlungsleiters bereits durch die Gewährung von Refoulementschutz abgedeckten) Bedenken hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage führe sie die allgemeine Situation der Frauen in Afghanistan an, die durch eine Reihe von einengenden Vorschriften (etwa auch das Gebot des Tragens einer Burka) gekennzeichnet sei, weiters auch eine mögliche Gefährdung durch Racheakte des vor dem Bundesasylamt genannten Kommandanten.

In der Folge erstattete der Sachverständige sein Gutachten. Am Schluss der Verhandlung verkündete die belangte Behörde den angefochtenen Bescheid, mit dem sie die Berufung gemäß § 7 AsylG abwies.

Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

Die belangte Behörde hat ihrer Entscheidung "in sachverhaltsmäßiger Hinsicht ... hinsichtlich der konkreten Lebensumstände der (Beschwerdeführerin) deren Vorbringen, soweit es mit der Beurteilung des zugezogenen Sachverständigen im Einklang steht", zugrundegelegt. Hinsichtlich des "komplementären Teils" folge sie hingegen den "diesbezüglichen, schlüssigen und nachvollziehbaren, auf dieses Vorbringen konkret Bedacht genommen habenden Darlegungen des Sachverständigen, denen die (Beschwerdeführerin) nicht auf gleicher fachlicher Ebene entgegengetreten" sei.

Der Sachverständige hatte in seinem Gutachten auf die Lebensumstände der Beschwerdeführerin nur insofern Bezug genommen, als er - ohne nähere Begründung - ausführte, sie lasse "keinerlei Ambition zu öffentlichen Auftritten erkennen" und habe "in der Zeit, als ihr das in Kabul noch möglich gewesen wäre, dh. vor dem September 1996, der Einnahme Kabuls durch die Taliban, keine außerhäusliche Berufstätigkeit ausgeübt." Eine Auseinandersetzung mit den in der Berufung behaupteten Änderungen in der Lebenseinstellung und -führung der Beschwerdeführerin seit ihrem Aufenthalt in Österreich enthielt das Gutachten nicht. Die Beschwerdeführerin hatte dieses Vorbringen auch nicht zurückgezogen. In der Berufungsverhandlung hatte sie zwar nur das Tragen einer Burka ausdrücklich angesprochen, dies aber nur als ein Beispiel einer "Reihe von einengenden Vorschriften" genannt.

Demnach ist davon auszugehen, dass die belangte Behörde ihrer Entscheidung auch die in der Berufung behaupteten (geänderten) Lebensumstände der Beschwerdeführerin als wahr zugrundegelegt hat.

In ihren Rechtsausführungen hielt die belangte Behörde fest, der Sachverständige habe die bereits vom Bundesasylamt getroffene Beurteilung gestützt. Auch die belangte Behörde gehe davon aus, dass die Gefahr eines stellvertretenden Racheaktes des von einer Schwester der Beschwerdeführerin verschmähten Kommandanten in Ansehung der verheirateten Beschwerdeführerin nicht bestehe. Die "allgemeine Situation der Frauen in Afghanistan" sei, den fundierten Darlegungen des Sachverständigen zufolge, jedenfalls in der Heimat der Berufungswerberin (Kabul) nicht mehr so beschaffen, dass von einer Fortgeltung der anhand der Situation unter dem Taliban-Regime getroffenen Beurteilungen ausgegangen werden könne. Vielmehr hätten sich nicht nur die gesellschaftlichen Restriktionen in einer Weise gelockert, dass nunmehr nicht nur das Tragen einer Burka nicht mehr obligatorisch sei, sondern auch Studium und Berufstätigkeit einer Frau wieder möglich seien. Die Beschwerdeführerin habe auch keine Ambition zu öffentlichem Auftreten politischer oder dissident-religiöser Art zu erkennen gegeben, sodass keine Anhaltspunkte für eine ihr drohende "Verfolgung" aus dem Grunde ihrer Geschlechtszugehörigkeit erkannt werden könnten.

Diesen Ausführungen der belangten Behörde ist eine Auseinandersetzung mit dem umfangreichen Vorbringen der Beschwerdeführerin in der Berufung zu ihrer nunmehrigen Handlungs- und Denkweise und zu sich daraus bei einer Rückkehr nach Afghanistan allenfalls ergebenden Gefahren nicht zu entnehmen.

Hiezu ist aber auf die - im erstinstanzlichen Bescheid erwähnte - Stellungnahme des UNHCR (vom Juli 2003) zu verweisen, wonach unter anderem afghanische Frauen, von denen angenommen werde, dass sie soziale Normen verletzen (oder die dies tatsächlich tun), bei einer Rückkehr nach Afghanistan als gefährdet angesehen werden sollten. Diese Kategorie könnte Frauen einschließen, die westliches Verhalten oder westliche Lebensführung angenommen haben, was als Verletzung der sozialen Normen angesehen werde und ein solch wesentlicher Bestandteil der Identität dieser Frauen geworden sei, dass es für diese eine Verfolgung bedeuten würde, dieses Verhalten unterdrücken zu müssen (zur Indizwirkung entsprechender Empfehlungen internationaler Organisationen vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 20. April 2006, Zl. 2005/01/0556 mwN; zur gebotenen Heranziehung weiterer Erkenntnisquellen auch bei Einholung eines Gutachtens vgl. hg. Erkenntnis vom 1. April 2004, Zl. 2002/20/0440). Im Gegensatz zu den Darlegungen des Sachverständigen geht diese Stellungnahme also nicht nur bei "Ambition zu öffentlichem Auftreten" von einer Gefährdung aus, sondern bereits dann, wenn lediglich angenommen werde, eine Frau verletze soziale Normen. Eine Auseinandersetzung mit dieser Stellungnahme kann weder dem angefochtenen Bescheid noch den Ausführungen des Sachverständigen entnommen werden.

Im Übrigen steht die Einschätzung des Sachverständigen, vor allem in Kabul könnten Frauen "studieren, im öffentlichen Leben auftreten, sich artikulieren und allen denkbaren Berufen nachgehen", in einem nicht aufgeklärten Widerspruch zu seinen nur wenige Monate früher gemachten gutachterlichen Ausführungen. So hatte er in der Berufungsverhandlung vom 24. Juni 2004 (zur Zl. 226.963 der belangten Behörde) ausgeführt, die allgemeine menschenrechtliche Lage und spezifisch jene der Frauen in Afghanistan sei als schlecht bis sehr schlecht einzustufen, wobei "eigentlich nur Kabul als Großstadt den Frauen Möglichkeiten bietet, vorsichtig und unauffällig ein selbstgewähltes Berufsleben zu führen". Diese Einschränkung ("vorsichtig und unauffällig") findet sich im vorliegenden Gutachten - ohne nähere Begründung - nicht mehr und sie wurde auch in den Feststellungen der belangten Behörde zur Frage der Asylgewährung nicht berücksichtigt.

Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass eine nähere Prüfung und Erörterung der nunmehrigen Lebensweise der Beschwerdeführerin und der sich daraus bei einer Rückkehr nach Afghanistan allenfalls ergebenden Gefahren in Verbindung mit einer Auseinandersetzung mit weiteren Erkenntnisquellen zu einem anderen Verfahrensergebnis geführt hätte.

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003, BGBl. II Nr. 333. Ein gesonderter Zuspruch der in der Beschwerde verzeichneten Umsatzsteuer findet in diesen Bestimmungen keine Deckung, weshalb das diesbezügliche Mehrbegehren abzuweisen war.

Wien, am 16. Jänner 2008

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2008:2006190182.X00

Im RIS seit

25.02.2008

Zuletzt aktualisiert am

14.12.2011
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten