TE OGH 2017/12/18 9Ob72/17d

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Veröffentlicht am 18.12.2017
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, die Hofrätinnen und Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Dehn, Dr. Hargassner, Mag. Korn und Dr. Stefula in der Rechtssache der klagenden Partei K***** M*****, vertreten durch Dr. Johann Kahrer und Dr. Christian Haslinger, Rechtsanwälte in Ried im Innkreis, gegen die beklagte Partei K***** GmbH, *****, vertreten durch Dr. Eckhard Pitzl, Dr. Gerhard W. Huber, LL.M., Anwaltspartnerschaft in Linz, wegen 25.000 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 22. August 2017, GZ 6 R 97/17b-27, mit der der Berufung der beklagten Partei gegen das Zwischenurteil des Landesgerichts Wels vom 5. Mai 2017, GZ 36 Cg 64/16p-23, Folge gegeben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Das Berufungsurteil wird dahin abgeändert, dass das Zwischenurteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Entscheidungsgründe:

Dem Kläger wurde am 4. 9. 2015 im Klinikum ***** operativ ein Hoden entfernt. Die Beklagte ist Rechtsträgerin des Klinikums.

Der Kläger begehrte 25.000 EUR sA an Schmerzengeld. Er brachte vor, sich im September 2015 in das Krankenhaus begeben zu haben. Bei diesem Aufenthalt sollte ein Karzinom am Hoden untersucht werden. Bei Bösartigkeit sollte dieser vereinbarungsgemäß entfernt werden. Tatsächlich sei der Hoden, basierend auf dem Ergebnis des während der Operation durchgeführten Schnellschnittverfahrens, entfernt worden. Im Nachhinein habe sich jedoch herausgestellt, dass der Tumor am Hoden nicht bösartig gewesen sei und daher nicht entfernt werden hätte müssen. Da er aufgrund eines länger zurückliegenden Vorfalles bereits einen Hoden verloren gehabt habe, sei ihm sohin ohne medizinische Notwendigkeit der noch verbliebene Hoden entfernt worden. Er sei insoweit mangelhaft aufgeklärt worden, als er die Aufklärung soweit verstanden habe, dass der Hoden tatsächlich nur dann entfernt werde, wenn der Tumor tatsächlich und sicher bösartig sei. Er sei nun in sexueller Hinsicht entsprechend eingeschränkt, wobei er alle sechs bis acht Wochen eine Testosteronspritze erhalte, die mit zahlreichen unangenehmen Nebenwirkungen verbunden wäre. Der derzeitige Zustand belaste ihn auch psychisch.

Die Beklagte bestritt das Klagebegehren, beantragte Klagsabweisung und wandte zusammengefasst ein, am 4. 9. 2015 sei nach und gemäß der Aufklärung des Klägers eine Hodenexploration mit intraoperativem Schnellschnitt des suspekten Areals erfolgt. Der Schnellschnitt habe ein embryonales Karzinom des rechten Hodens ergeben. Damit sei die Indikation zur Hodenentfernung gegeben gewesen, die in der gleichen Sitzung durchgeführt worden sei. Der endgültige histologische Befund, der bei der histologischen Aufarbeitung nach der Operation erhoben hätte werden können, habe einen gutartigen Leydigzelltumor, der retrospektiv gesehen durch eine Tumorenukleation entfernt hätte werden können, ergeben. Dieser Umstand wäre jedoch intraoperativ nicht bekannt gewesen. Das angewandte intraoperative Diagnostikverfahren hätte international anerkannten Standards entsprochen. Dieses diene der intraoperativen Risikominimierung. Werde es nicht angewandt, wäre der Patient dem Risiko der Tumoraussaat ausgesetzt. Beim Kläger sei – in keiner Weise vorhersehbar – ein extrem seltener Tumor mit einer weiteren Besonderheit, nämlich der Bildung mehrerer Herde, vorgelegen. Da die Befundung des intraoperativen Schnellschnitts eine bösartige Tumorerkrankung ausgewiesen habe, sei die einzig richtige Vorgangsweise die Hodenentfernung gewesen. Dass die ursprünglich korrekte Diagnose bei weiterer Überprüfung eine Diagnoseänderung ergeben hätte, ändere nichts an der Richtigkeit der eingehaltenen Vorgangsweise.

Das Erstgericht sprach mit Zwischenurteil aus, dass das Klagebegehren dem Grunde nach zu Recht bestehe. Es stellte folgenden Sachverhalt fest:

„Der linke Hoden des Klägers wurde im Jahr 1976 im Rahmen einer chronischen Hodenentzündung bzw. Nebenhodenentfernung und Abszess-Entwicklung operiert, wobei lediglich ein kleiner Hodenrest verblieben war, der praktisch funktionslos ist.

Nachdem er im Rahmen einer Untersuchung bei seinem Urologen die Diagnose eines Hodentumors im rechten Hoden erhalten hat, wandte sich der Kläger noch am selben Tag an das Krankenhaus *****. Dort führte er ein Gespräch mit dem Primar, der ihm mitteilte, dass bei der durchzuführenden Operation zunächst der Hoden angesehen werde, dann werde ein Schnellschnittverfahren angewandt und eine Biopsie gemacht; für den Fall, dass der Tumor gutartig ist, werde der Tumor herausgekratzt, falls er bösartig ist, sollte der Hoden entfernt werden. Dies wurde ihm auch noch vom Oberarzt bestätigt und mitgeteilt, dass seine Heilungschancen bei 96 % liegen würden und für den Fall, dass der Tumor bösartig wäre, eine Chemotherapie folgen würde.

Am 3. 9. 2015, dem Tag vor der Operation, wurde der Kläger erneut über den vorzunehmenden Eingriff aufgeklärt. Insbesondere wurde er auf die Indikation und die damit verbundenen Risiken hingewiesen, insbesondere einen möglichen Hodenverlust, Blutungen sowie eine mögliche Infektion.

Am 4. 9. 2015 wurde der Kläger operiert. Bei einem derartigen Operationsverfahren wird zunächst der Hoden mit einer weichen Klemme abgeklemmt, was für maximal zwei Stunden gemacht werden kann. Danach wird biopsiert und dem Pathologen die entnommene Zellprobe zur Verfügung gestellt. Bei diesem Verfahren kann kein aufwändiges Untersuchungsverfahren durchgeführt werden, insbesondere keine Färbeverfahren, welche bei der Einordnung des Gewebes helfen. Vielmehr werden die Gewebeproben tiefgefroren, geschnitten und unter dem Mikroskop begutachtet.

Diese Vorgehensweise wurde auch beim Kläger so eingehalten. Intraoperativ wurde im Zuge des Schnellschnittverfahrens ein embryonales Karzinom befundet, woraufhin der rechte Hoden des Klägers entfernt wurde. Ein embryonales Karzinom steht im Gegensatz zum Seminom und ist im Vergleich dazu bösartiger. Diese Diagnose ließ keine andere Therapieoption als die Entfernung des gesamten Hodens übrig.

Bei der anschließenden histologischen Aufarbeitung des Präparates wurde der Tumor dann doch als gutartiger Tumor eingestuft, und zwar laut Histologiebefund vom 4. 9. 2015 als Leydigzelltumor, in einer späteren Nachbefundung vom 12. 10. 2015 letztendlich als Sertolizelltumor.

Hodentumore sind in etwa zu 90 % bösartig. Ausnahmen dazu sind Leydigzelltumore und Sertolizelltumore. Aber auch diese Tumore können einen bösartigen Verlauf nehmen, wobei die Wahrscheinlichkeit der Bösartigkeit bei Sertolizelltumoren 20 %, bei Leydigzelltumoren 10 % beträgt. Wäre im gegenständlichen Fall der Befund im Schnellschnittverfahren so gewesen, dass lediglich Leydigzellen oder nur Sertolizellen diagnostiziert worden wären, dann hätte man den Hoden sicherlich belassen und hätte einen allfälligen bösartigen Verlauf riskiert. Aber auch im Fall der Diagnose dieser beiden Zellarten im Zuge des Schnellschnittverfahrens wäre es nicht möglich gewesen, die Gut- bzw. Bösartigkeit dieser Zellen abzuklären.

Die Schnellschnittuntersuchung operativ, so wie sie beim Kläger durchgeführt wurde, ist in den Leitlinien der Europäischen Gesellschaft für Urologie nicht als zwingend vorgeschrieben, da man auf der einen Seite oft falsche (falschpositive, falschnegative) histologische Erstbefunde erhält, wobei deren Wahrscheinlichkeit jedoch nicht festgestellt werden kann, und andererseits lediglich die endgültige Aufarbeitung des Präparates die Diagnose eines Hodentumors zulässt. Die Schnellschnittuntersuchung kann somit nicht zu 100 % zwischen bösartigen und gutartigen Tumoren unterscheiden. Sie ist aber das beste, derzeit zur Verfügung stehende Verfahren. Nach den Richtlinien der Europäischen urologischen Gesellschaft wäre der Hoden sofort zu entfernen gewesen. Im gegenständlichen Verfahren wurde dieses Verfahren angewendet, weil die Wahrscheinlichkeit eines Hodenerhalts dennoch größer ist als ohne Anwendung dieses Verfahrens. Wendet man es nicht an, so ist der Hoden ohne Alternative zu entfernen. Die Operation des Klägers am 4. 9. 2015 erfolgte lege artis.

Allen Hodenkrebsarten ist gemein, dass sich die Krebszellen sehr schnell teilen; dies bedingt einerseits ein schnelles Wachstum dieser Tumore, andererseits aber auch die Möglichkeit des Greifens von Chemotherapien. Dieses schnelle Wachstum erfordert ein schnelles Handeln. Daher ist es eigentlich nie der Fall, dass man bei Hodentumoren Biopsien durchführt ohne sofortige Entscheidung über eine allfällige Entfernung des Hodens. Entfernt man nämlich nach der Operation die Hodenklemme und wird der Hoden bei einer allfälligen Bösartigkeit des Tumors wieder durchblutet, besteht die Gefahr der Streuung der Krebszellen. Die Tumorzellstreuung wäre dann so, dass diese mit der Lymphe und dem Blutkreislauf voranschreiten würde bis zu den Lymphknoten in der Leistengegend und auch weiter bis zur Niere bzw. der Lunge, wobei das letztgenannte Organ das meistens am nächsten Betroffene ist. Eine derartige Gefahr geht niemand ein, daher gibt es auch keine aussagekräftigen Zahlen zur Frage, ob es nicht möglich wäre, nach der Biopsie ein oder zwei Nächte zuzuwarten und für den Fall der endgültigen Diagnose der Bösartigkeit des Tumors eine neuerliche Operation durchzuführen.

Im Zuge der Aufklärungsgespräche wurde der Kläger nie darüber aufgeklärt, dass das Ergebnis des Schnellschnittverfahrens fehlerhaft sein könnte. Wäre er darüber aufgeklärt worden, hätte er das auch noch mit seiner Frau besprochen, sich noch andere Meinungen eingeholt und nicht sofort einer Operation zugestimmt.

Vor der Operation hatte der Kläger keine Probleme sexueller Natur. Im Gegenteil, er war zuvor sexuell eher aktiv und hatte ein hohes Verlangen. Derzeit erhält er Testosteronspritzen im Abstand von etwa 8–10 Wochen verabreicht. 4–5 Tage nach Verabreichung einer derartigen Spritze steigt das Verlangen auf ein Hoch an und flacht dann langsam wieder ab.

Bei der Annahme, dass die Testosteronersatztherapie lebenslänglich mit 5 Injektionen pro Jahr durchgeführt wird, so ist gerechnet auf die nächsten 30 Jahre und gerechnet auf 24 Stunden von insgesamt 15 Tagen leichten Schmerzen auszugehen.“

In rechtlicher Hinsicht verwies das Erstgericht auf das Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Es sei wohl eine ausreichende Aufklärung über die Art des Eingriffes, nicht aber darüber erfolgt, dass das Ergebnis des Schnellschnittverfahrens falsch (falschnegativ oder falschpositiv) sein könne. Eine derartige Aufklärung sei aber erforderlich, um dem Patienten eine ausreichende sachgerechte Grundlage für die Entscheidung über den Eingriff zu ermöglichen. Es sei daher davon auszugehen, dass mangels entsprechender Aufklärung der Eingriff rechtswidrig gewesen sei. Für den Fall der Verletzung der Aufklärungspflicht treffe den Arzt bzw den Krankenhausträger die Beweislast dafür, dass der Patient auch bei ausreichender Aufklärung die Zustimmung zu der ärztlichen Maßnahme erteilt hätte. Eine derartige Behauptung sei von der Beklagten nicht aufgestellt worden.

Das Berufungsgericht gab der dagegen erhobenen Berufung der Beklagten Folge und wies das Klagebegehren ab. Der Umfang der Aufklärungspflicht sei in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des Wohles des Patienten abzugrenzen und erst in zweiter Linie auch unter Bedachtnahme auf sein Selbstbestimmungsrecht. Dem Kläger sei keine adäquate Alternative zur Verfügung gestanden. Lege artis sei aufgrund der erhobenen Diagnose die sofortige Entfernung des Hodens geboten gewesen. Darüber hinaus sei zu beachten, dass Hodentumore etwa zu 90 % bösartig seien und auch der letztlich beim Kläger nachbefundete Sertolizelltumor zu 20 % einen bösartigen Verlauf nehmen könne. Die Krebszellen könnten sich sehr schnell teilen. Bereits bei der Entfernung der Hodenklemme bestehe die Gefahr der Streuung der Krebszellen bis hin zur Lunge. Es sei daher nie der Fall, dass man bei Hodentumoren ohne sofortige Entscheidung über eine allfällige Entfernung des Hodens Biopsien durchführe. Das für den Fall einer umfangreicheren Aufklärung festgestellte Vorhaben des Klägers sei im vorliegenden Fall daher gerade keine adäquate Alternative. Vor diesem Hintergrund wäre selbst eine Aufklärung über die möglicherweise gegebene Unrichtigkeit der Diagnose im Schnellschnittverfahren nicht geeignet gewesen, die Entscheidung eines vernünftigen Patienten zu beeinflussen. Im Grunde gehe es um die Abwägung eines selbstbestimmten Sexuallebens bei womöglich nur mehr kurzer Lebensspanne einerseits mit einem infolge Hodenverlust eingeschränkten Sexualleben bei gleichzeitig sehr hoher Überlebenschance der Diagnose Krebs andererseits. Vor dem Hintergrund des diagnostizierten Hodentumors, der bereits dadurch gegebenen Indikation für die Hodenentfernung und der durch das Schnellschnittverfahren zusätzlich gegebenen Möglichkeit, den Hoden vielleicht doch noch retten zu können, habe eine Aufklärung über die Fehlerhaftigkeit der beim Schnellschnittverfahren durchgeführten Biopsie unterbleiben können; das uneingeschränkte Selbstbestimmungsrecht hätte möglicherweise zu einer ernsten Gefährdung des Lebens des Klägers geführt. Bereits die festgestellte – wenngleich bekämpfte – Absicht des Klägers, möglicherweise mit der Entfernung des Hodens zuzuwarten, also zwangsläufig die Öffnung der Hodenklemme zuzulassen, brächte aufgrund der Aggressivität des Tumors und der schon grundsätzlichen Bösartigkeit eines Hodentumors eine wesentliche Gefahr der Weiterverbreitung der Tumorzellen und damit die Gefährdung des Lebens mit sich. Die Ärzte der Beklagten hätten den Kläger daher nicht über die mögliche Unsicherheit des Ergebnisses der Biopsie beim Schnellschnittverfahren aufzuklären gehabt.

Die Revision sei zulässig, weil zum Gewicht des Selbstbestimmungsrechts des Patienten bei der ärztlichen Aufklärungspflicht und dem Patientenwohl unterschiedliche Rechtsprechungslinien existierten.

Der Kläger beantragt in seiner dagegen gerichteten Revision die Abänderung des Berufungsurteils im Sinne einer Wiederherstellung des Ersturteils.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen, in eventu, ihr keine Folge zu geben.

Die Revision ist zulässig und berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

1. Der mit dem Arzt oder dem Träger eines Krankenhauses abgeschlossene Behandlungsvertrag umfasst auch die Pflicht, den Patienten über die möglichen Gefahren und schädlichen Folgen der Behandlung zu unterrichten (RIS-Justiz RS0038176). Der Patient kann nur dann wirksam seine Einwilligung geben, wenn er über die Bedeutung des vorgesehenen Eingriffs und seine möglichen Folgen hinreichend aufgeklärt wurde (RIS-Justiz RS0026499). Hat die ohne Einwilligung oder ohne ausreichende Aufklärung des Patienten vorgenommene eigenmächtige Behandlung des Patienten nachteilige Folgen, haftet der Arzt, wenn der Patient ansonsten in die Behandlung nicht eingewilligt hätte, für diese Folgen selbst dann, wenn ihm bei der Behandlung kein Kunstfehler unterlaufen ist (RIS-Justiz RS0026783). Für den Fall der Verletzung der Aufklärungspflicht trifft den Arzt bzw den Krankenhausträger die Beweislast dafür, dass der Patient auch bei ausreichender Aufklärung die Zustimmung zu der ärztlichen Maßnahme erteilt hätte, geht es doch darum, dass der Arzt bzw Krankenhausträger das Vorliegen eines die Rechtswidrigkeit des Eingriffe ausschließenden Rechtfertigungsgrundes zu behaupten und zu beweisen hat (RIS-Justiz RS0108185; RS0111528 [T1, T8]).

2. Grundlage für eine Haftung des Arztes oder des Krankenhausträgers wegen einer Verletzung der Aufklärungspflicht ist in erster Linie das Selbstbestimmungsrecht des Patienten, in dessen körperliche Integrität durch den ärztlichen Eingriff eingegriffen wird (RIS-Justiz RS0118355). Die Aufklärung des Patienten ist somit nicht Selbstzweck. Vielmehr ist für den Umfang der ärztlichen Aufklärung entscheidend, dass der Patient als Aufklärungsadressat die für seine Entscheidung (Zustimmung zum Eingriff) maßgebenden Umstände erfährt, sodass er über eine ausreichende Entscheidungsgrundlage verfügt. Der Patient soll durch die ärztliche Aufklärung in die Lage versetzt werden, die Tragweite seiner Entscheidung zu überschauen und eine sachgerechte Entscheidung zu treffen (RIS-Justiz RS0118355 [T5, T8]; RS0026426 [T7]).

Das Berufungsgericht hat für seine Beurteilung den Rechtssatz RIS-Justiz RS0026362 ins Treffen geführt, nach dem der Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des Wohles des Patienten und erst in zweiter Linie auch unter Bedachtnahme auf sein Selbstbestimmungsrecht abzugrenzen ist. Aus keiner der dazu angeführten Entscheidungen der letzten Jahre geht jedoch ein Verständnis dieses Rechtssatzes dahin hervor, dass das Selbstbestimmungsrecht des Patienten – und damit einhergehend die Pflicht zu seiner Aufklärung – gegenüber dem Patientenwohl von sekundärer Bedeutung und zu reduzieren wäre, wenn eine Behandlungsmethode ohnedies dem Wohl des Patienten dient (die Entscheidungen 9 Ob 55/16b und 6 Ob 214/14k betrafen jeweils Fälle, in denen diagnostisch keine Anhaltspunkte für das Risiko, das sich später verwirklichte, gegeben waren; die Entscheidung 3 Ob 94/14s stützt sich nicht auf den Rechtssatz als solchen; die – die Frage der Aufklärung über Behandlungsalternativen betreffende – Entscheidung 4 Ob 241/12p führt „in erster Linie das Selbstbestimmungsrecht“ des Patienten an, ohne dies als Widerspruch zum „Wohl des Patienten“ zu erachten; die Entscheidung 8 Ob 140/06f respektierte einen trotz Zeitdruck erklärten selbstbestimmten Patientenwunsch nach einer Eingriffserweiterung [Sterilisation], wenn die zentrale Information vorab erteilt wurde). Den Entscheidungen ist auch nicht zu entnehmen, dass die Aufklärung über ein typisches behandlungsimmanentes Risiko (s dazu Pkt 3.) entfallen kann, wenn es keine gleichwertigen alternativen Behandlungsmethoden gibt, muss es einem Patienten doch auch freistehen, eine Behandlung in Ansehung eines solchen typischen Risikos generell oder auch nur vor Einholung einer weiteren Meinung abzulehnen. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten von der Rechtsprechung von vornherein ein „Nachrang“ nach einer – hier – scheinbar im Patientenwohl liegenden Behandlung zugesonnen würde.

3. Für die Reichweite der ärztlichen Aufklärungspflicht ist damit die ständige Rechtsprechung maßgeblich, wonach die ärztliche Aufklärungspflicht umso weiter reicht, je weniger der Eingriff aus der Sicht eines vernünftigen Patienten vordringlich oder geboten ist. Dann ist die ärztliche Aufklärungspflicht im Einzelfall selbst dann zu bejahen, wenn erhebliche nachteilige Folgen wenig wahrscheinlich sind (RIS-Justiz RS0026313). Ist der Eingriff zwar medizinisch empfohlen, aber nicht eilig, so ist eine umfassende Aufklärung notwendig (RIS-Justiz RS0026772 [T6]).

Grundsätzlich muss der Arzt aber nicht auf alle nur denkbaren Folgen einer Behandlung hinweisen (RIS-Justiz RS0026529). Bei Vorliegen sogenannter typischer Gefahren ist die ärztliche Aufklärungspflicht verschärft (RIS-Justiz RS0026340; RS0026581 [T2]). Die Typizität ergibt sich nicht aus der Komplikationshäufigkeit, sondern daraus, dass das Risiko speziell dem geplanten Eingriff anhaftet und auch bei Anwendung allergrößter Sorgfalt und fehlerfreier Durchführung nicht sicher zu vermeiden ist; der uninformierte Patient wird überrascht, weil er nicht mit der aufgetretenen Komplikation rechnete (RIS-Justiz RS0026340 [T5]). Diese typischen Risiken müssen erhebliche Risiken sein, die geeignet sind, die Entscheidung des Patienten zu beeinflussen, ohne dass dabei nur auf die Häufigkeit der Verwirklichung dieses Risikos abzustellen wäre (RIS-Justiz RS0026581 [T6, T14]; RS0026340 [T10]).

4. Im vorliegenden Fall lagen keine unvorhersehbaren Umstände vor, über die der Kläger nicht aufgeklärt wurde. Vielmehr steht fest, dass die ihm dargelegte Operationsmethode mit intraoperativer Schnellschnitt-untersuchung – mag sie auch das beste derzeit zur Verfügung stehende Verfahren sein – von vornherein nicht mit Sicherheit zwischen bös- und gutartigen Tumoren unterscheiden kann und man „oft falsche (falschpositive, falschnegative) histologische Erstbefunde erhält“ und erst „die endgültige Aufarbeitung des Präparates die Diagnose eines Hodentumors zulässt“. Damit haftete dem Eingriff schon seiner Art nach ein auch bei Anwendung allergrößter Sorgfalt und fehlerfreier Durchführung nicht sicher zu vermeidendes Risiko an (Typizität der Gefahr), nämlich die unter Umständen überflüssige Totalentfernung eines Hodens selbst bei gutartigem Tumor wie umgekehrt das mit dem Streurisiko verbundene Belassen eines Hodens selbst bei bösartigem Tumor. Dieses Risiko aus einem möglicherweise falschen Testergebnis wurde dem Kläger nicht vermittelt. Er erhielt die Information, dass bei der durchzuführenden Operation zunächst der Hoden angesehen werde, dann ein Schnellschnittverfahren angewandt und eine Biopsie gemacht werde und für den Fall, dass der Tumor gutartig sei, der Tumor herausgekratzt und falls er bösartig sein, der Hoden entfernt werde. Damit wurde dem Kläger die Sicherheit suggeriert, dass der Hoden nur dann entfernt wird, wenn der Tumor tatsächlich bösartig ist. Anderes konnte auch nicht daraus abgeleitet werden, dass es sich um ein Schnellverfahren handelt, weil ein Patient daraus nicht auf oft falsche histologische Testergebnisse schließen muss. Der Kläger hat seine Einwilligung zum geplanten Eingriff damit auf der Grundlage einer Information erteilt, die nicht dem typischen Risiko des Eingriffs entsprach. Unter Aspekten der Dringlichkeit des Eingriffs sind auch keine Gründe dafür ersichtlich, warum es nicht möglich gewesen wäre, den Kläger im Zuge der Aufklärungsgespräche darauf hinzuweisen, dass es nach Maßgabe der Ergebnisse des Schnelltests selbst bei gutartigem Tumor zu einem Hodenverlust kommen kann. Dies wiegt hier umso schwerer, als sich der Kläger insofern in einer Sondersituation befand, als er bereits einen Hoden verloren hatte und damit sein Sexualleben auf dem Spiel stand. Dafür, dass sich der Kläger auch in Kenntnis des Risikos jener Operation unterzogen hätte, wäre nach den dargelegten Grundsätzen die Beklagte behauptungs- und beweispflichtig gewesen. Dazu wurde von ihr jedoch kein Vorbringen erstattet.

5. Wie bereits das Erstgericht ausführte, wäre hier daher im Ergebnis eine Aufklärung darüber, dass das Ergebnis des Schnellschnittverfahrens falsch sein kann, erforderlich gewesen, um dem Kläger eine ausreichende Informationsgrundlage für seine Entscheidung über den Eingriff zu schaffen. Da diese pflichtwidrig unterblieb, ist eine Haftung der Beklagten zu bejahen.

Der Revision war danach Folge zu geben und das Ersturteil wiederherzustellen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 393 Abs 4 ZPO.

Textnummer

E120654

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2017:0090OB00072.17D.1218.000

Im RIS seit

19.02.2018

Zuletzt aktualisiert am

25.01.2019
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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