TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/10 W128 2009308-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 10.08.2021
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Entscheidungsdatum

10.08.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §7 Abs1 Z1
AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W128 2009308-2/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Michael FUCHS-ROBETIN über die Beschwerde des afghanischen Staatsangehörigen XXXX , geboren am XXXX , vertreten durch RA Dr. Mario ZÜGER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 28.03.2019, Zl. 821759408-161556066/BMI-BFA_SBG_AST_01 zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG stattgegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 02.12.2012 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Als seine Fluchtgründe führte er im Wesentlichen an, für Großbritannien und die USA als Dolmetscher gearbeitet und nunmehr Probleme mit den Taliban zu haben.

2. Mit Bescheid vom 15.05.2014 wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vollumfänglich ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung, gewährte ihm eine vierzehntägige freiwillige Ausreisefrist und erließ ein auf fünf Jahre befristetes Einreiseverbot.

3. Der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 09.02.2016, rechtskräftig seit 11.02.2016, vollumfänglich statt und erkannte dem Beschwerdeführer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG den Status des Asylberechtigen zu.

Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht zusammengefasst aus, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan zwischen 2007 und 2012 als Dolmetscher für britische und US-amerikanische Soldaten tätig gewesen sei. Im Oktober 2010 sei der Beschwerdeführer von den Taliban entführt worden, habe jedoch nach zwei Tagen fliehen können. Sein Vater habe daraufhin einen Drohbrief und mehrere Drohanrufe erhalten. Dem Beschwerdeführer drohe bei einer Rückkehr nach Afghanistan die Verfolgung und Tötung durch die Taliban. Auch könne der afghanische Staat den Beschwerdeführer aufgrund fehlender Schutzmechanismen (kein funktionierender Polizei- und Justizapparat) nicht schützen.

4. Mit Strafurteil des Landesgerichts Salzburg vom 27.03.2017, rechtskräftig seit 31.03.2017, zu AZ 33 Hv 93/16y wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtmitteln nach §§ 27 Abs. 1 Z 1 1., 2. und 8. Fall i.V.m. § 27 Abs. 2 SMG zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je € 4,- verurteilt.

5. Mit Strafurteil des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 18.01.2019, rechtskräftig seit 22.01.2019, zu AZ 43 Hv 24/18g wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der Nötigung nach §§ 15, 105 StGB zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten, welche unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde, verurteilt.

6. Mit Schreiben vom 05.03.2019 setzte das BFA den Beschwerdeführer darüber in Kenntnis, dass die Absicht bestehe, den zuerkannten Status als Asylberechtigter aufgrund der Verurteilung wegen §§ 15, 105 StGB abzuerkennen.

7. Im Rahmen seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 19.03.2019 gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, unter anderem in seiner Heimatregion XXXX Dolmetscher gewesen zu sein. Er sei in der ganzen Provinz Kunar bekannt, da er dort auch für das Radio gearbeitet habe. Er habe Angst, da die Taliban in seinem Heimatdorf an der Macht wären.

8. In seiner schriftlichen Stellungnahme vom 13.03.2019 gab der Beschwerdeführer an, dass er aufgrund seiner geständigen Verantwortung sowie der Tatsache, dass es bei der Nötigung nur beim Versuch geblieben sei, nur zu einer geringen Freiheitsstrafe, die zudem gänzlich bedingt nachgesehen wurde, verurteilt worden sei. Auch sei er derzeit auf Vollzeitbasis beschäftig und verfüge über Deutschkenntnisse auf Sprachniveau B1. Er versuche sich demnach in der österreichischen Gesellschaft zu integrieren.

9. Mit dem (hier) angefochtenen Bescheid erkannte das BFA dem Beschwerdeführer den mit BVwG-Erkenntnis vom 09.02.2016, Zl. W169 2009308-1/18E zuerkannten Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG ab und stellte gemäß § 7 Abs. 4 AsylG fest, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Weiters erkannte es dem Beschwerdeführer den Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG nicht zu (Spruchpunkt II.), erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und setzte die Frist für die freiwillige Ausreise mit zwei Wochen fest (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass für den Beschwerdeführer mittlerweile innerstaatliche Schutzalternativen existieren würden und dieser in Österreich straffällig geworden sei. Auch sei der vom Beschwerdeführer geschilderte Ausreisegrund nicht mehr aktuell, da er sich bereits seit sieben Jahren nicht mehr in Afghanistan aufhalten würde. So liege im Fall des Beschwerdeführers keine wohlbegründete Furcht vor einer Verfolgung (in ganz Afghanistan) vor.

10. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde, in welcher er zusammengefasst vorbrachte, es liege kein Asylausschlussgrund gemäß § 6 AsylG vor. So sei der Beschwerdeführer weder eine Gefahr für die Sicherheit der Republik Österreich, noch liege das Erfordernis der Verurteilung wegen eines besonders schweren Verbrechens vor. Auch drohe dem Beschwerdeführer als ehemaliger Dolmetscher nach wie vor Verfolgung durch die Taliban in ganz Afghanistan. So könnten ihn die Taliban-Geheimdienste bei einer Rückkehr aufspüren und der afghanische Staat würde ihm keinen ausreichenden Schutz vor ihnen bieten. Weiters habe die Behörde keinerlei Feststellung zu der erforderlichen erheblichen und dauerhaften Änderung (Verbesserung) der Umstände, welche zur ursprünglichen Schutzentscheidung geführt hätten, getroffen. So hätten sich weder die individuelle Situation des Beschwerdeführers noch die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan wesentlich geändert.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Zum Beschwerdeführer

1.1.1. Der am XXXX im Dorf XXXX , Distrikt XXXX , Provinz Kunar, geborene Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben und gehört der Volksgruppe der Paschtunen an. Er spricht Paschtu, Englisch und passables Deutsch und ist ledig und kinderlos.

Zwischen 2007 und 2012 war der Beschwerdeführer in den Provinzen Kunar, Nangarhar, Helmand und Ghazni als Dolmetscher und Logistikmitarbeiter für die britischen und US-amerikanischen Truppen tätig. Im Oktober 2010 wurde er gemeinsam mit einem seiner Brüder von den Taliban gefangen genommen, konnte jedoch nach zwei Tagen fliehen. Sein Vater erhielt mehrere Drohanrufe sowie einen Drohbrief von den Taliban, welche ihn aufforderten, den Beschwerdeführer an sie zu übergeben. Dennoch setzte der Beschwerdeführer seine Dolmetschertätigkeit für die britischen und US-amerikanischen Truppen bis August 2012 fort.

Im August 2012 verließ er Afghanistan und reiste nach Österreich ein, wo er am 02.12.2012 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

1.1.2. Mit Strafurteil des Landesgerichts Salzburg vom 27.03.2017, rechtskräftig seit 31.03.2017, zu AZ 33 Hv 93/16y wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtmitteln nach §§ 27 Abs. 1 Z 1 1., 2. und 8. Fall i.V.m. § 27 Abs. 2 SMG zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je € 4,- verurteilt.

Mit Strafurteil des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 18.01.2019, rechtskräftig seit 22.01.2019, zu AZ 43 Hv 24/18g wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der Nötigung nach §§ 15, 105 StGB zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten, welche unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde, verurteilt.

1.1.3. Für den Beschwerdeführer besteht bei einer Rückkehr nach Afghanistan nach wie vor eine landesweite lebensbedrohliche Verfolgungsgefahr durch die Taliban.

1.2. Zur hier relevanten Situation in Afghanistan

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 11.06.2021

-        Kurzinformation der Staatendokumentation: Entwicklung der Sicherheitslage in Afghanistan vom 02.08.2021

-        Landinfo Report zu Afghanistan vom 23.08.2017: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne

1.2.1. Allgemeine Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde.

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht.

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch Tausender Gefangener verhandelt. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt, was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte.

Die Sicherheitslage im Jahr 2021

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu. Im Mai 2021 übernahmen die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Dawlat Shah in der ostafghanischen Provinz Laghman und den Distrikt Nerkh in der Provinz (Maidan) Wardak, einen strategischen Distrikt etwa 40 Kilometer von Kabul entfernt. Spezialkräfte wurden in dem Gebiet eingesetzt, um den Distrikt Nerkh zurückzuerobern, nachdem Truppen einen „taktischen Rückzug“ angetreten hatten.

Aufgrund der sich intensivierenden Kämpfe zwischen den Taliban und der Regierung an unterschiedlichsten Fronten in mindestens fünf Provinzen (Baghlan, Kunduz, Helmand, Kandahar und Laghman) sind im Mai 2021 bis zu 8.000 Familien vertrieben worden. Berichten zufolge haben die Vertriebenen keinen Zugang zu Unterkunft, Verpflegung, Schulen oder medizinischer Versorgung.

Ende Mai/Anfang Juni übernahmen die Taliban die Kontrolle über mehrere Distrikte. Die Taliban haben den Druck in allen Regionen des Landes verstärkt, auch in Laghman, Logar und Wardak, drei wichtigen Provinzen, die an Kabul grenzen. Damit haben die Taliban seit Beginn des Truppenabzugs am 1.5.2021 bis Anfang Juni mindestens zwölf Distrikte erobert.

Die Sicherheitslage im Jahr 2020

Die Sicherheitslage verschlechterte sich im Jahr 2020, in dem die Vereinten Nationen 25.180 sicherheitsrelevante Vorfälle registrierten, ein Anstieg von 10 % gegenüber den 22.832 Vorfällen im Jahr 2019. Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29.2.2020 haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, sodass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt. Während die Zahl der Luftangriffe im Jahr 2020 um 43,6 % zurückging, stieg die Zahl der bewaffneten Zusammenstöße um 18,4 %.

Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43 Prozent aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen. Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60 % gegenüber dem ersten Quartal und um 18 % gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu. Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) der Taliban eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu.

In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten.

Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat, scheint es in der ersten Hälfte 2020 eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand. Die Taliban hielten jedoch den Druck auf wichtige Verkehrsachsen und städtische Zentren aufrecht, einschließlich gefährdeter Provinzhauptstädte wie in den Provinzen Farah, Kunduz, Helmand und Kandahar. Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen durch, um wichtige Autobahnen zu sichern und die Gewinne der Taliban rückgängig zu machen, insbesondere im Süden nach den jüngsten Offensiven der Taliban auf die Städte Lashkar Gah und Kandahar.

Zivile Opfer

Zwischen dem 1.1.2021 und dem 31.3.2021 dokumentierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 1.783 zivile Opfer (573 Tote und 1.210 Verletzte). Der Anstieg der zivilen Opfer im Vergleich zum ersten Quartal 2020 war hauptsächlich auf dieselben Trends zurückzuführen, die auch im letzten Quartal des vergangenen Jahres zu einem Anstieg der zivilen Opfer geführt hatten - Bodenkämpfe, improvisierte Sprengsätze (IEDs) und gezielte Tötungen hatten auch in diesem vergleichsweise warmen Winter extreme Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung.

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15 % (21 % laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013.

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen.

Obwohl ein Rückgang der durch regierungsfeindliche Elemente verletzten Zivilisten im Jahr 2020, der hauptsächlich auf den Mangel an zivilen Opfern durch wahlbezogene Gewalt und den starken Rückgang der zivilen Opfer durch Selbstmordattentate im Vergleich zu 2019 zurückzuführen ist, festgestellt werden konnte, so gab es einen Anstieg ziviler Opfer durch gezielte Tötungen, durch wahllos von Opfern aktivierte Druckplatten-IEDs und durch fahrzeuggetragene Nicht-Selbstmord-IEDs.

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26 % aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben aufständische Gruppen in Afghanistan ihre gezielten Tötungen von Frauen und religiösen Minderheiten erhöht.

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe.

Im April 2021 meldete UNAMA für das erste Quartal 2021 einen Anstieg der zivilen Opfer um 29 % im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Aufständische waren für zwei Drittel der Opfer verantwortlich, Regierungstruppen für ein Drittel. Seit Beginn der Friedensverhandlungen in Doha Ende 2020 wurde für die letzten sechs Monate ein Anstieg von insgesamt 38 % verzeichnet.

Während des gesamten Jahres 2020 dokumentierte UNAMA Schwankungen in der Zahl der zivilen Opfer parallel zu den sich entwickelnden politischen Ereignissen. Die „Woche der Gewaltreduzierung“ vor der Unterzeichnung des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban in Doha am 29.2.2020 zeigte, dass die Konfliktparteien die Macht haben, Schaden an der Zivilbevölkerung zu verhindern und zu begrenzen, wenn sie sich dazu entschließen, dies zu tun. Ab März wuchs dann die Besorgnis über ein steigendes Maß an Gewalt, da UNAMA zu Beginn des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie eine steigende Zahl von zivilen Opfern und Angriffen auf Gesundheitspersonal und -einrichtungen dokumentierte. Regierungsfeindliche Elemente verursachten mit 62 % weiterhin die Mehrzahl der zivilen Opfer im Jahr 2020. Während UNAMA weniger zivile Opfer dem Islamischen Staat im Irak und in der Levante - Provinz Khorasan (ISIL-KP, ISKP) und den Taliban zuschrieb, hat sich die Zahl der zivilen Opfer, die durch nicht näher bestimmte regierungsfeindliche Elemente verursacht wurden (diejenigen, die UNAMA keiner bestimmten regierungsfeindlichen Gruppe zuordnen konnte), im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt. Pro-Regierungskräfte verursachten ein Viertel der getöteten und verletzten Zivilisten im Jahr 2020. Nach den Erkenntnissen der AIHRC sind von allen zivilen Opfern in Afghanistan im Jahr 2020 die Taliban für 53 % verantwortlich, regierungsnahe und verbündete internationale Kräfte für 15 % und ISKP (ISIS) für fünf Prozent. Bei 25 % der zivilen Opfer sind die Täter unbekannt und 2 % der zivilen Opfer wurden durch pakistanischen Raketenbeschuss in Kunar, Khost, Paktika und Kandahar verursacht.

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen. Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17), landesweit betrug die Zahl 88.

Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet. Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt. Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein.

High-profile Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente werden landesweit fortgesetzt, insbesondere in der Stadt Kabul. Zwischen dem 13.11.2020 und dem 11.2.2021 wurden 35 Selbstmordattentate dokumentiert, im Vergleich zu 42 im vorherigen Berichtszeitraum. Darüber hinaus wurden 88 Anschläge mit magnetischen improvisierten Sprengsätzen verübt, 43 davon in Kabul, darunter auch gegen prominente Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Gezielte Attentate, oft ohne Bekennerschreiben, nahmen weiter zu.

Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen. Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt.

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt. Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien. Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt. Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge.

Opiumproduktion und die Sicherheitslage

Afghanistan ist das Land, in dem weltweit das meiste Opium produziert wird. In den letzten fünf Jahren entfielen etwa 84 % der globalen Opiumproduktion auf Afghanistan. Im Jahr 2019 ging die Anbaufläche für Schlafmohn zurück, während der Ernteertrag in etwa dem des Jahres 2018 entsprach. Der größte Teil des Schlafmohns in Afghanistan wird im Großraum Kandahar (d.h. Kandahar und Helmand) im Südwesten des Landes angebaut. Opium ist eine Einnahmequelle für Aufständische sowie eine Quelle der Korruption innerhalb der afghanischen Regierung; der Opiumanbau gedeiht unter Bedingungen der Staatenlosigkeit und Gesetzlosigkeit wie in Afghanistan.

(Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 11. Juni 2021, S. 34 ff)

1.2.2. Aktuelle Entwicklung der Sicherheitslage

In Afghanistan ist die Zahl der konfliktbedingten Todesopfer derzeit so hoch wie nie zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNHCR, mit durchschnittlich 500-600 Sicherheitsvorfällen pro Woche. Berichten zufolge liegt die Gebietskontrolle der Regierung auf dem niedrigsten Stand seit 2001.

Nach Angaben des Long War Journals (LWJ) kontrollieren die Taliban 223 der 407 Distrikte Afghanistan. Die Regierungstruppen kämpfen aktuell (Ende Juli / Anfang August 2021) gegen Angriffe der Taliban auf größere Städte, darunter Herat, Lashkar Gah und Kandahar, dessen Flughafen von den Taliban bombardiert wurde. Seit 1.8.2021 gibt es keine Flüge mehr zu und von dem Flughafen. Von den 17 Distrikten Herats sind nur Guzara und die Stadt Herat unter Kontrolle der Regierung. Die übrigen Bezirke werden von den Taliban gehalten, die versuchen, in das Zentrum der Stadt vorzudringen. Die afghanische Regierung entsendet mehr Truppen nach Herat, da die Kämpfe mit den Taliban zunehmen.

Zivile Opfer und Fluchtbewegungen

Zwischen 1.1.2021 und 30.6.2021 dokumentierte UNAMA 5.183 zivile Opfer und fast eine Verdreifachung der zivilen Opfer durch den Einsatz von improvisierten Sprengsätzen (IEDs) durch regierungsfeindliche Kräfte. Zwischen Mai und Juni 2021 gab es nach Angaben von UNAMA fast soviele zivile Opfer wie in den vier Monate davor. Nach Angaben von Human Rights Watch (HRW) halten die Taliban hunderte Einwohner der Provinz Kandarhar fest, denen sie vorwerfen mit der Regierung in Verbindung zu stehen. Berichten zufolge haben die Taliban einige Gefangene getötet, darunter Angehörige von Beamten der Provinzregierung sowie Mitglieder der Polizei und der Armee. UNOCHA zufolge wurden zwischen 1.1.2021 und 18.7.2021 294.703 Menschen in Afghanistan durch den Konflikt vertrieben. Noch kann keine Massenflucht afghanischer Staatsbürger in den Iran festgestellt werden, jedoch hat die Zahl der Neuankömmlinge zugenommen. Der Notstandsplan wurde bislang noch nicht aktiviert. Sollte er aktiviert werden, rechnet die iranische Regierung mit einem Zustrom vom 500.000 Menschen innerhalb von sechs Monaten, wobei davon ausgegangen wird, dass ihr Aufenthalt nur vorübergehend sein wird. UNHCR rechnet mit 150.000 Menschen innerhalb von drei Monaten.

(Kurzinformation der Staatendokumentation: Entwicklung der Sicherheitslage in Afghanistan, 02.08.2021, S. 2 f)

1.2.3. Zur Lage in der Provinz Kunar

Kunar liegt im Osten Afghanistans, an der afghanisch-pakistanischen Grenze. Die Provinz grenzt im Norden an Nuristan, im Osten an Pakistan (Provinz Khyber Pakhtunkhwa), im Süden an Nangarhar und im Westen an Laghman. Neben der Provinzhauptstadt Asad Abad ist die Provinz in die folgenden Distrikte unterteilt: Bar Kunar (auch Asmar), Chapa Dara, Sawkay (auch Chawkay), Dangam, Dara-e-Pech (auch Manogi), Ghazi Abad, Khas Kunar, Marawara, Narang wa Badil, Nari, Noorgal, Sar Kani, Shigal, Watapoor und Sheltan. Sheltan ist als „temporärer Distrikt“ definiert, was bedeutet, dass seine Schaffung nach dem Inkrafttreten der Verfassung von 2004 aufgrund von Sicherheitsbedenken oder anderen Gründen vom Präsidenten beschlossen wurde, aber sein Status als Distrikt vom afghanischen Parlament noch nicht genehmigt wurde.

Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Kunar im Zeitraum 2020-21 auf 499.393? Personen. Kunar wird hauptsächlich von Paschtunen bewohnt, gefolgt von Pashai und Nuristani.

Eine Straße erster Ordnung verbindet Asad Abad mit Jalalabad im Südwesten sowie mit einem Grenzübergang zu Pakistan im Nordosten. Zusätzlich führt eine Nebenstraße von Asad Abad nach Osten zur pakistanischen Grenze. Eine weitere Straße verbindet Kunar mit Nuristan. Inoffizielle, befahrbare Grenzübergänge zwischen Pakistan und Kunar gibt es in den Distrikten Sar Kani, Marawara und Nari. Die Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan wurde im 19. Jahrhundert von den Briten gezogen, wodurch die paschtunischen Stämme gespalten wurden. Die aufeinander folgenden afghanischen Regierungen haben die Legitimität dieser Teilung als offizielle Grenze, die als Durand-Linie bekannt ist, infrage gestellt. Die Bemühungen der pakistanischen Regierung, befestigte Zäune und Kontrollpunkte entlang der Grenze zu bauen, haben afghanische Regierungsvertreter und Gemeinden in der Region verärgert. Der Zaun trennt Familien, die auf verschiedenen Seiten der Grenze leben. Scharmützel und grenzüberschreitender Beschuss zwischen afghanischen und pakistanischen Streitkräften wurden im Jahr 2020 und davor gemeldet. Im Juli 2020 starben sechs Zivilisten bei einem solchen Ereignis.

In einigen Distrikten von Kunar werden illegal Edelsteine abgebaut. Die mit diesen Steinen erzielten Gewinne tragen Berichten zufolge zur Fortsetzung des Konflikts bei.

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteuren

Kunar gehört zu den volatilen Provinzen im Osten Afghanistans, in denen Militante des Islamischen Staates Provinz Khorasan (ISKP) sowie Aufständische von Gruppen wie den Taliban und Al Qaida in einigen seiner unruhigen Distrikte eine beträchtliche Präsenz haben. Nach Einschätzungen des Long War Journal (LWJ) befand sich der Distrikt Chapa Dara mit Mai 2021 unter Talibankontrolle, während die übrigen Distrikte mit Ausnahme der Provinzhauptstadt, welche unter Regierungskontrolle stand, als umkämpft galten. Eine andere Quelle berichtet, dass sich ein Großteil des Distrikts Marawara seit neun Jahren unter Talibankontrolle befindet.

Nach der Niederlage des ISKP in Nangarhar wurde Kunar zur verbleibenden Bastion eines geschwächten Islamischen Staats in Afghanistan, obwohl er auch in dieser Provinz weiterhin Verluste zu verzeichnen hat. Schätzungen zur Stärke des ISKP in Kunar schwankten in der ersten Hälfte des Jahres 2020 zwischen 1.000 und 2.100 Kämpfern. Al Qaida ist in Kunar verdeckt aktiv. Tehrik-e-Taliban Pakistan (TTP), Jaish-i-Mohammed und Lashkar-e-Tayyiba sind ebenfalls in der Provinz präsent.

Auf Regierungsseite befindet sich Kunar im Verantwortungsbereich des 201. Afghan National Army (ANA) "Silab" Corps, das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - East (TAAC-E) untersteht, welche von US-amerikanischen und polnischen Streitkräften geleitet wird.

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 170 zivile Opfer (28 Tote und 142 Verletzte) in der Provinz Kunar. Dies entspricht einem Rückgang von 34% gegenüber 2019. Die Hauptursachen für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und nicht explodierten Kampfmitteln (unexploded ordnance, UXO) sowie Landminen.

Taliban- und ISKP-Mitglieder kämpfen in Kunar sowohl gegeneinander als auch gegen die Regierungstruppen. Die Taliban starteten im Frühjahr 2020 eine Offensive gegen den ISKP und auch die US-amerikanischen sowie afghanischen Regierungstruppen führten Operationen gegen den Islamischen Staat in Kunar durch. Anonymen Militärvertretern zufolge halfen die US-Streitkräfte den gegen den ISKP kämpfenden Taliban, indem sie Taliban-Einheiten, die in Kämpfe gegen den ISKP verwickelt waren, nicht angriffen und strategische Luftangriffe gegen Stellungen des ISKP im Vorfeld von Angriffen der Taliban gegen diese Stellungen durchführten. Im April 2021 wurden bis zu 16 Zivilisten bei einem Raketenanschlag auf das Gebäude des Gouverneurs von Kunar in der Stadt Asadabad verletzt.

Es kommt zu Kämpfen zwischen Regierungstruppen und den Taliban bzw. Angriffen der Taliban auf Regierungsposten in Kunar. Darüber hinaus kommt es in der Provinz zu Detonationen von Sprengfallen am Straßenrand sowie eines an einem Fahrzeug angebrachten improvisierten Sprengkörpers (vehicle-borne improvised explosive device, VBIED) und zu Entführungen.

(Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 11. Juni 2021, S. 137 ff)

1.2.4. Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität.

Für die meisten zivilen Opfer im Jahr 2020 waren weiterhin regierungsfeindliche Elemente verantwortlich, 62 % wurden ihnen zugeschrieben. Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 schrieb UNAMA 5.459 zivile Opfer (1.885 Tote und 3.574 Verletzte) regierungsfeindlichen Elementen zu. Dies bedeutete einen Gesamtrückgang um 15 % im Vergleich zu 2019. Die Zahl der von regierungsfeindlichen Elementen getöteten Zivilisten stieg jedoch um 13 %.

Taliban

Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde; nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt. Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten.

Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen „Werte“ betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik einer eventuellen Regierung der Machtteilung, die die Taliban einschließt, zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab. Sie sehen sich nicht als bloße Rebellengruppe, sondern als eine Regierung im Wartestand und bezeichnen sich selbst als „Islamisches Emirat Afghanistan“, der Name, den sie benutzten, als sie von 1996 bis zu ihrem Sturz nach den Anschlägen vom 11.9.2001 an der Macht waren.

(Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 11. Juni 2021, S. 239 f)

Jüngste Entwicklungen und aktuelle Ereignisse

Während die Taliban behaupten, nicht mehr dieselbe brutale Gruppe zu sein, die Afghanistan in den 1990er Jahren beherrschte, und versuchen inmitten der internationalen Bemühungen um eine Friedensregelung zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban ein versöhnlicheres Image zu vermitteln, sagen Afghanen, die derzeit unter der Kontrolle der Taliban leben, dass die militante Gruppe weiterhin in ihrer extremistischen Auslegung des Islam verwurzelt ist und mit Angst und Barbarei regiert, wobei sich viele innerhalb der Taliban erhoffen, ihr „Emirat“ wiederherstellen zu können. Einem lokalen Vertreter der Taliban zufolge sind die Taliban von früher und die Taliban von heute dieselben.

Die Taliban haben sich offenbar absichtlich vage darüber geäußert, was sie mit der „islamischen Regierung“ meinen, die sie schaffen wollen. Einige Analysten sehen darin einen bewussten Versuch, interne Reibereien zwischen Hardlinern und gemäßigteren Elementen zu vermeiden.

Es gibt Anzeichen für einen wirklichen Politikwandel in bestimmten Bereichen (z.B. bei der Nutzung der Medien, im Bildungssektor, eine größere Akzeptanz von NGOs und die Einsicht, dass ein zukünftiges politisches System zumindest einige ihrer politischen Rivalen aufnehmen muss), doch scheinen ihre politischen Anpassungen eher von politischen Notwendigkeiten als von grundlegenden Veränderungen in der Ideologie getrieben zu sein. In den letzten Jahren haben sich die Taliban dazu bekannt, Frauen ihre Rechte zu gewähren und ihnen zu erlauben, zu arbeiten und zur Schule zu gehen, wenn sie nicht gegen den Islam oder die afghanischen Werte verstoßen, aber laut einer großen Zahl von Afghanen, die unter der Herrschaft der Taliban leben, hat sich die Politik der militanten Gruppe in Bezug auf die Bildung von Mädchen seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht geändert. In einigen von den Taliban kontrollierten Gebieten sind Schulen für Mädchen komplett verboten. In anderen Regionen gibt es Beschränkungen. Die Gruppe deutete auch an, dass sie die kürzlich gewonnenen Freiheiten der Frauen beschneiden will, die ihrer Meinung nach „Unmoral“ und „Unanständigkeit“ fördern.

Angesichts ihres anhaltenden dominierenden Verhaltens, ihrer Intoleranz gegenüber politisch Andersdenkenden und ihrer Unterdrückung (insbesondere von Mädchen und Frauen) in den von ihnen kontrollierten Gebieten besteht die berechtigte Sorge, dass sie zu den Praktiken von vor dem Herbst 2001 zurückkehren könnten, wenn der politische Druck nach einem eventuellen Friedensabkommen und einem Truppenabzug nachlässt. Die Veränderungen in der Rhetorik und den Positionen der Taliban werfen jedoch ein Licht auf das, was sie in einer politischen Ordnung nach dem Friedensschluss in Afghanistan, in der sie sich mit anderen afghanischen Machtgruppen und Interessen zu einem Modus Vivendi zusammenfinden müssen, möglicherweise zu akzeptieren bereit sind. Ob einige Änderungen in der Herangehensweise aufrechterhalten werden, hängt von der Fähigkeit der afghanischen Gemeinschaft und politischen Gruppen ab, den Druck auf die Taliban aufrechtzuerhalten. Dies wiederum hängt von der anhaltenden internationalen Aufmerksamkeit gegenüber Afghanistan ab, insbesondere wenn es zu einer politischen Einigung und einer Machtteilung kommt und nachdem die ausländischen Soldaten abgezogen sind.

Die Taliban glauben, dass der Sieg ihnen gehört. Die Entscheidung von US-Präsident Joe Biden, den Abzug der verbleibenden US-Truppen auf September zu verschieben, was bedeutet, dass sie über den im letzten Jahr vereinbarten Termin 1.5.2021 hinaus im Land bleiben werden, hat eine scharfe Reaktion der politischen Führung der Taliban ausgelöst. Nichtsdestotrotz scheint das Momentum auf Seiten der Militanten zu sein. Im vergangenen Jahr gab es einen offensichtlichen Widerspruch im „Jihad“ der Taliban. Nach der Unterzeichnung eines Abkommens mit den USA stellten sie Angriffe auf internationale Truppen ein, kämpften aber weiter gegen die afghanische Regierung. Ein Taliban-Sprecher besteht jedoch darauf, dass es keinen Widerspruch gibt. Für die Taliban ist die Errichtung einer „islamischen Struktur“ eine Priorität. Die Taliban sind noch nicht ins Detail gegangen, wie diese aussehen würde. Ähnliche Bedenken werden im Hinblick auf die Auslegung der Scharia und die Rechte der Frauen geäußert.

Die Luftwaffe, vor allem die der Amerikaner, hat in den vergangenen Jahren entscheidend dazu beigetragen, den Vormarsch der Taliban aufzuhalten. Die USA haben ihre Militäroperationen bereits drastisch zurückgefahren, nachdem sie im vergangenen Jahr ein Abkommen mit den Taliban unterzeichnet hatten, und viele befürchten, dass die Taliban nach ihrem Abzug in der Lage sein werden, eine militärische Übernahme des Landes zu starten.

Im Jahr 2020 verursachten die Taliban weiterhin die meisten zivilen Opfer von allen Parteien des bewaffneten Konflikts. Nach Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) gingen die durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 40 % zurück - nach Angaben der UNAMA war es ein Rückgang um 19 %. Der Hauptgrund für diesen Rückgang könnte ein Mangel an komplexen und Selbstmordattentaten in den großen Städten des Landes sein. Im Jahr 2020 wurden in Afghanistan insgesamt 4.567 Zivilisten durch Taliban-Angriffe getötet oder verletzt, während im gleichen Zeitraum 2019 die Gesamtzahl der durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer bei 7.727 lag. UNAMA schrieb den Taliban 3.960 zivile Opfer (1.470 Tote und 2.490 Verletzte) zu. Dieser Rückgang bezieht sich jedoch nur auf die verletzten Zivilisten, da ein Anstieg von getöteten Zivilisten um 13 % dokumentiert wurde.

Selbstmord- und Nicht-Selbstmord-IEDs verursachten mehr als die Hälfte der den Taliban zugeschriebenen zivilen Opfer, wobei Nicht-Selbstmord-IEDs fünfmal mehr zivile Opfer verursachten als Selbstmord-IEDs. Bodenkämpfe, einschließlich des Einsatzes von Mörsern und Raketen, waren für fast ein Viertel der von den Taliban verursachten zivilen Opfer verantwortlich. UNAMA schrieb den Taliban 6 % mehr getötete Zivilisten aus Bodenkämpfen und 15 % weniger verletzte Zivilisten im Vergleich zu 2019 zu. Dieser Rückgang war hauptsächlich auf das Ausbleiben wahlbezogener Gewalt im Jahr 2020 zurückzuführen, wurde jedoch teilweise durch eine höhere Zahl von zivilen Opfern aufgrund der anhaltend hohen Zahl von Bodenkämpfen mit zivilen Opfern während des gesamten Jahres ausgeglichen.

Die UNAMA verzeichnete außerdem einen Anstieg der Zahl der durch gezielte Tötungen der Taliban, zu denen auch „Attentate“ gehören, die bewusst auf Zivilisten abzielen, getöteten und verletzten Zivilisten um 22 % und einen Anstieg der zivilen Opfer bei Entführungen von Zivilisten durch die Taliban um 169 %.

(Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 11. Juni 2021, S. 245 ff)

Der Nachrichtendienst der Taliban

Die Regierungsbeamten sind überzeugt, dass die Taliban über alles unterrichtet sind, was geschieht, selbst in Gegenden, in denen sie nur schwach vertreten sind. Natürlich behaupten die Taliban, dass ihre Nachrichtendienste in allen afghanischen Provinzen vertreten sind. Wenngleich dies bis zu einem gewissen Maß zutrifft, unterschiedet sich diese Präsenz nach Intensität und Qualität außerordentlich stark, denn einige Provinzen sind fast völlig unter der Kontrolle der Taliban und andere kaum betroffen. In den Gebieten, in denen die Taliban kaum oder gar nicht vertreten sind, können sie sich nicht der Informationen aus dem Netz von Mitgliedern oder Sympathisanten bedienen. Es gibt dort offensichtlich keine Mitglieder, aber selbst ein einsamer Sympathisant, hätte es schwer, Informationen an die Taliban weiterzuleiten. In den Gebieten mit starker Präsenz, kommen die Talibanpatrouillen regelmäßig in die Dörfer und schöpfen alle Informationen ab, die ihnen die Sympathisanten mitteilen wollen, dort, wo sie schwach sind, ist das nicht möglich.

Identifizierung von Zielpersonen

Insbesondere die Einschüchterung und Identifizierung von Zielpersonen durch die Taliban hängt stark von den Resultaten ihrer nachrichtendienstlichen Tätigkeit ab. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass Einschüchterung und Verfolgung nur eine von vielen Aufgaben der Nachrichtendienste sind. Sie untersuchen auch verdächtige Kollaborateure der Regierung und wählen die Zielpersonen aus der schwarzen Liste aus, die auf die Abschussliste gesetzt werden sollen (dies ist eine Teilmenge der schwarzen Liste, mit denjenigen, die zur Tötung frei gegeben wurden). Eine Ausnahme bildet hier der Nachrichtendienst von Quetta, der nicht zu einer Militär-Kommission gehört und soweit berichtet wurde, keine Zielpersonen auswählt. Außerdem sollen die Dienste ein Auge auf Taliban haben, die sich „daneben benehmen“, wenn es also zu Übergriffen gegen die Bevölkerung und Korruption kommt.

Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach „fehlverhalten“:

a)       Politische Feinde: die Anführer und wichtigsten Mitglieder der Parteien und Gruppen, die den Taliban feindlich gesinnt sind

b)       Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer 'feindlicher' Regierungen - alle Zivilisten, die für die Regierung oder für westliche diplomatische Vertretungen und andere Einrichtungen arbeiten;

c)       Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges;

d)       Personen, von denen angenommen wird, dass sie die Taliban für die Regierung ausspionieren oder Informationen über sie liefern;

e)       Personen, die gegen die Shari'a (entsprechend der Auslegung der Taliban) und die Regeln der Taliban verstoßen;

f)       Kollaborateure der afghanischen Regierung – praktisch jeder, der der Regierung in irgendeiner Weise hilft;

g)       Kollaborateure des ausländischen Militärs – praktisch jeder, der den ausländischen Streitkräften in irgendeiner Weise hilft;

h)       Auftragnehmer der afghanischen Regierung;

i)       Auftragnehmer anderer Länder, die gegen die Taliban sind;

j)       Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten;

k)       Personen jeder Art, die die Taliban in irgendeiner Weise für nützlich oder notwendig für ihre Kriegsführung erachten, die die Zusammenarbeit verweigern.

Diese Kategorien von Zielpersonen beinhalten eine Reihe von Gruppen, die sich nur schwer genau quantifizieren lassen, aber es dürften mit aller Wahrscheinlichkeit insgesamt mehr als eine Million Menschen sein (die Sicherheitskräfte sind zirka 400.000 bis 450.000 Mann stark, ferner hat die Regierung über 500.000 zivile Mitarbeiter, dazu kommen noch zehntausende von Auftragnehmern).

Außer den Personen in den oben genannten Kategorien a), d), e) und k) bieten die Taliban allen Personen, die sich 'fehlverhalten' die Chance, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Personen in den Kategorien a), d), e) und k) haben allein schon durch die Zugehörigkeit zu dieser Kategorie, Verbrechen begangen, im Gegensatz zu einer Tätigkeit als Auftragnehmer. Dies sehen die Taliban nur dann als Verbrechen an, wenn der Auftragnehmer die Warnungen der Taliban in den Wind schlägt. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperation an die Taliban zu binden. Die Personen der Kategorien b), c), f), g), h), i) und j) können einer ‘Verurteilung’ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlichen ‘feindseligen’ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen.

Im Grunde genommen steht jeder auf der schwarzen Liste, der (aus Sicht der Taliban) ein 'Übeltäter' ist und dessen Identität und Anschrift die Taliban ausfindig machen können. Diese Details sind wesentlich, denn nach den Regeln der Taliban, muss ein Kollaborateur gewarnt werden und Gelegenheit erhalten, auf den richtigen Weg zurückzukehren, bevor er auf die schwarze Liste gesetzt wird. Damit die Einschüchterungstaktiken der Taliban funktionieren, hängen sie also davon ab, dass ihre Informanten Angaben zu den potenziellen Zielpersonen liefern. Die Taliban behaupten jedoch, dass sie, dank ihrer Spione bei der Grenzpolizei am Flughafen Kabul und auch an vielen anderen Stellen, überwachen können, wer in das Land einreist. Sie geben an, dass sie regelmäßig Berichte darüber erhalten, wer neu ins Land einreist.

Die Regeln der Taliban

In dem Maße, in dem das System der Taliban Gestalt annahm und ihre Verhaltenskodizes ausgefeilter wurden, wurden auch Regeln eingeführt, die vorschrieben, dass die Taliban Kollaborateure mindestens zweimal warnen mussten, bevor sie gegen sie vorgingen. Dieses Verfahren galt wohl ab 2009 oder 2010. Von der Regel ausgenommen sind lediglich "schlimme Kriminelle", wie führende Persönlichkeiten in der Regierung. Daher gilt folgendes Verfahren für das Vorgehen gegen einen bestimmten Kollaborateur:

1. Person identifizieren;

2. Kontaktdaten herausfinden (Adresse oder Telefonnummer);

3. Person mindestens zweimal warnen;

4. verhören und vor Taliban-Gerichte stellen;

5. Person auf die schwarze Liste setzen, wenn sie sich weigert, den Anordnungen der Taliban Folge zu leisten;

6. Günstige Gelegenheit abwarten, um zuzuschlagen.

Die praktische Durchführung von Abschnitt 6 (s.o.) hängt normalerweise von den Fähigkeiten des lokalen Verfolgungsteams ab, dessen Arbeitsauslastung und dem mit der Vollstreckung des ’Urteils' verbundenen Risiko. Eine geschützte Zielperson bzw. eine in einem Gebiet, das von den Behörden stark bewacht wird, könnte zwar für die Taliban wichtig sein, bei ihrer Liquidierung bestünde aber andererseits auch ein hohes Risiko, dass das Mordkommando die Operation nicht überlebt. Eine weniger wichtige Zielperson, die in einem leicht zugänglichen Gebiet mit guten Fluchtmöglichkeiten wohnt, könnte von den Taliban eher liquidiert werden, als eine bedeutendere, die besser geschützt ist.

Gelegentlich werden auch Familienangehörige zu Zielpersonen; es scheint, dass die Taliban diese Aktionen eingeschränkt haben, nachdem die Polizei und die Miliz als Vergeltungsmaßnahme die Familienangehörigen der Taliban verfolgten.

Die Taliban beobachten alle Fremden, die in den Dörfern und Kleinstädten unter ihrer Kontrolle ankommen genau, genauso wie die Dorfbewohner, die in Gebiete unter Regierungskontrolle reisen. Sie fürchten offensichtlich, ausspioniert zu werden und versuchen, die Rekrutierung von Informanten durch die Regierung zu beschränken. Wer in die Taliban-Gebiete ein- oder ausreist sollte die Reise überzeugend begründen können, möglichst belegt mit Nachweisen über Geschäftsabschlüsse, medizinische Behandlung etc. Wenn die Taliban einen Schuldigen suchen, der für die Regierung spioniert haben soll, ist jeder, der verdächtigt wird, sich an die Behörden gewandt zu haben, in großer Gefahr.
(Landinfo Report zu Afghanistan vom 23.08.2017: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne)

2. Beweiswürdigung

Der festgestellte Sachverhalt stützt sich auf die im Rahmen der Feststellungen jeweils in Klammern angeführten Beweismittel und im Übrigen auf nachstehende Beweiswürdigung:

2.1. Die wesentlichen biografischen Feststellungen zum Beschwerdeführer, zu seiner Tätigkeit als Dolmetscher in Afghanistan sowie der Entführung und Bedrohung durch die Taliban beruhen auf dem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG 09.02.2016, W169 2009308-1/18E).

2.2. Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer bei seiner Rückkehr nach Afghanistan einer lebensbedrohlichen Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt wäre, gründet sich auf die Feststellungen unter Punkt 1.2.4., wonach die Taliban Personen, die sich auf der schwarzen Liste befinden, nach einer Vorwarnung auf die Abschussliste setzen.

Entgegen der Ansicht des BFA, dass dem Beschwerdeführer nach sieben (nunmehr neun) Jahren jedenfalls keine Verfolgung mehr drohe, ergibt sich aus den festgestellten Länderinformationen, dass der Beschwerdeführer, da er seine Dolmetschertätigkeit trotz erfolgter Vorwarnungen nicht einstellte, mit großer Wahrscheinlichkeit auf der Abschussliste der Taliban steht. Zudem ist aus den Länderberichten nicht ersichtlich, dass die Taliban Personen nach einer bestimmten Zeit von ihrer Abschussliste nehmen. Somit hat der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach wie vor mit einer landesweiten Verfolgung zu rechnen, da die Taliban in der Lage sind, die Einreise von Personen nach Afghanistan zu überwachen und somit auch den Beschwerdeführer bei seiner Rückkehr zu identifizieren.

2.3. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan beruhen auf den unter Punkt 1.2. genannten Quellen. Angesichts der Seriosität dieser Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen besteht für das Bundesverwaltungsgericht kein Grund, an deren Richtigkeit zu zweifeln.

3. Rechtliche Beurteilung

3.1 Zu Spruchpunkt A) Stattgabe der Beschwerde

3.1.1. Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG ist einem Fremden der Status des Asylberechtigten abzuerkennen, wenn ein Ausschlussgrund nach § 6 AsylG vorliegt. Demnach, wenn der Fremde Schutz nach Art. 1 Abschnitt D Genfer Flüchtlings Konvention (GFK) genießt (Z 1), einen Ausschlussgrund nach Art. 1 Abschnitt F GFK gesetzt hat (Z 2), angenommen werden kann, dass er eine Gefahr für die Sicherheit der Republik Österreich darstellt (Z 3) oder er von einem (inländischen) Gericht wegen eines besonders schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt worden ist und er aufgrund dieses strafbaren Verhaltens eine Gefahr für die Gemeinschaft darstellt (Z 4).

3.1.2. Gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG ist einem Fremden der Status des Asylberechtigten abzuerkennen, wenn einer der in Art. 1 Abschnitt C GFK angeführten Endigungsgründe eingetreten ist. Nach Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK liegt ein Endigungsgrund unter anderem dann vor, wenn die Umstände, aufgrund derer dem Fremden Asyl zuerkannt worden ist, nicht mehr bestehen und der Fremde es daher nicht weiterhin ablehnen kann, sich unter den Schutz seines Heimatlandes zu stellen.

Eine wesentliche Änderung der Umstände kann sowohl aufgrund von (objektiven) Veränderungen im Heimatstaat des Asylberechtigten als auch aufgrund von (bloß) in der Person des Asylberechtigten gelegenen Umständen vorliegen, sofern sich diese Umstände derart erheblich und nicht nur vorübergehend verändert haben, dass für den Asylberechtigten in seinem Heimatstaat keine Verfolgungsgefahr mehr besteht (vgl. zum Ganzen VwGH 29.06.2020, Ro 2019/01/0014; siehe auch VwGH 27.08.2020, Ro 2020/14/0014).

Voraussetzung ist allerdings, dass die Schutzbedürftigkeit nicht mehr gegeben ist. Ist zwar die ursprüngliche asylrelevante Verfolgungsgefahr weggefallen, ist jedoch zwischenzeitlich eine andere Gefahr im Sinne der GFK entstanden, so ist eine Aberkennung nicht möglich (RV 1803 XXIX. GP [Abs. 3]).

3.1.3. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung i.S.d. Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.

Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG ist der Antrag abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) offensteht oder er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG) gesetzt hat.

Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage, oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.

Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.1.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde (vgl. VwGH 19.12.2007, 2006/20/0771). Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob der Antragsteller tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

Verfolgung ist gemäß § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG jede Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Statusrichtlinie. Nach Art. 9 der Statusrichtlinie muss eine Verfolgungshandlung im Sinne der GFK aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sein, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend sind, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist.

3.1.4. Aberkennung gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG:

Aus dem bisherigen Verfahren ist nicht ersichtlich, dass der Beschwerdeführer den Schutz
oder Beistand einer Organisation oder Institution der Vereinten Nationen genießt (Z 1) oder dass er ein Verbrechen bzw. eine Handlung im Sinne des Art. 1 Abschnitt F GFK gesetzt hat (Z 2). Auch ist nicht erkennbar, dass der Beschwerdeführer eine Gefahr für Sicherheit der Republik Österreich darstellt (Z 3).

Voraussetzung für den Aberkennungsgrund nach § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG ist das Vorliegen zumindest eines Verbrechens im Sinne des § 17 StGB (vgl. VwGH 16.06.2021, Ro 2021/01/0013). Gemäß § 17 StGB sind Verbrechen vorsätzliche Handlungen, die mit lebenslanger oder mit mehr als dreijähriger Freiheitsstrafe bedroht sind. Eine Nötigung nach § 105 StGB ist jedoch (bloß) mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bedroht. Ebenso stellt der unerlaubte Umgang mit Suchtmitteln nach § 27 SMG kein Verbrechen im Sinne des § 17 StGB dar. Der Beschwerdeführer hat somit kein Verbrechen im Sinne des § 17 StGB begangen.

Demnach liegt kein Aberkennungsgrund gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG vor.

3.1.5. Aberkennung nach § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG:

Das Bundesverwaltungsgericht begründete mit Erkenntnis vom 09.02.2016 die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten im Wesentlichen damit, dass dem Beschwerdeführer aufgrund seiner Dolmetschertätigkeit in Afghanistan asylrelevante Verfolgung durch die Taliban drohe.

Obwohl die Dolmetschertätigkeit des Beschwerdeführers (nunmehr) bereits neun Jahre zurückliegt, besteht nach wie vor Verfolgungsgefahr durch die Taliban:

Da der Beschwerdeführer seine Dolmetschertätigkeit auch nach eindringlichen Warnungen durch die Taliban (Entführung und Drohungen) nicht einstellte, ist mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er auf der Abschussliste der Taliban steht. Wie sich aus den Länderberichten ergibt, werden Personen, die auf die Abschussliste der Taliban gesetzt werden, in der Folge gezielt getötet. Da die Taliban ihn zudem bereits entführt und somit gewarnt haben, ist nach wie vor von einer akuten Verfolgungsgefahr – vor allem in Anbetracht der derzeitigen politischen Lage in Afghanistan – auszugehen.

Zwar handelt es sich bei den Taliban um keine staatliche bzw. von der afghanischen Regierung ausgehende Verfolgung, jedoch kann auch eine von privaten Personen und Gruppierungen – somit auch von den Taliban – ausgehende Verfolgung asylrechtliche Relevanz zukommen, sofern der Staat nicht in der Lage oder gewillt ist, Schutz gewähren. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt bestehen in Afghanistan weder ein ausreichend funktionierender Polizei-, noch ein funktionierender Justizapparat bzw. sind staatliche Akteure aller drei Gewalten häufig nicht in der Lage, vor Bedrohungen durch die Taliban zu schützen, weshalb für den Beschwerdeführer auch keine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 11 AsylG besteht.

3.1.6. Da d

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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