TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/23 W283 2235689-13

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Veröffentlicht am 23.08.2021
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Entscheidungsdatum

23.08.2021

Norm

BFA-VG §22a Abs4
B-VG Art133 Abs4
FPG §76
FPG §77
FPG §80

Spruch


W283 2235689-13/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Stefanie OMENITSCH im amtswegig eingeleiteten Verfahren zur Zahl XXXX , über die weitere Anhaltung von XXXX , geboren am XXXX , StA. TUNESIEN, in Schubhaft zu Recht:

A)

Gemäß § 22a Abs. 4 BFA-VG wird festgestellt, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorliegen und dass die Aufrechterhaltung der Schubhaft im Zeitpunkt der Entscheidung verhältnismäßig ist.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer (BF) reiste illegal unter Umgehung der Grenzkontrolle in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 08.04.2016 unter Angabe einer nachweislich falschen Identität und einer falschen Staatsangehörigkeit (Syrien) einen Antrag auf internationalen Schutz. Während des Asylverfahrens wurde festgestellt, dass der BF im Jahr 2014 bei der Schweizer Botschaft in Tunis mit einem tunesischen Reisepass einen Antrag auf Touristenvisum stellte, jedoch dieser abgelehnt wurde. Auch wurde der BF bereits am 30.04.2015 von Frankreich nach Tunesien abgeschoben.

Am 11.06.2017 wurde der BF wegen des Verdachts einer gerichtlich strafbaren Handlung nach § 201 StGB in Untersuchungshaft eingeliefert.

Der BF wurde am 21.03.2018 durch ein Landesgericht rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren wegen Vergewaltigung gemäß § 201 Abs. 1 StGB verurteilt.

Der Antrag des BF auf internationalen Schutz wurde am 17.08.2018 gemäß §§ 3 und 8 AsylG abgewiesen. Gleichzeitig wurde eine Rückkehrentscheidung, verbunden mit einem 10jährigen Einreiseverbot, erlassen.

Am 11.09.2019 wurden – noch während der Anhaltung in Strafhaft – für die Länder Tunesien, Algerien und Marokko Verfahren zur Ausstellung eines HRZ eingeleitet und laufend urgiert.

Am 10.06.2020, um 08:00 Uhr wurde der BF aus einer Justizanstalt entlassen und gleichzeitig der Festnahmeauftrag vollzogen. Anschließend wurde der BF in ein Polizeianhaltezentrum eingeliefert. Am 10.06.2020, um 20:15 Uhr wurde dem BF der Schubhaftbescheid persönlich zugestellt. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) stützte die Schubhaft damals insbesondere auf die falschen Identitätsangaben des BF sowie die fast gänzlich fehlende soziale Verankerung im Bundesgebiet. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung wurde die Verurteilung des BF berücksichtigt.

Am 17.07.2020 stellte der BF einen Asylfolgeantrag. Mit einem Aktenvermerk gemäß § 76 Abs. 6 FPG wurde vom BFA festgestellt, dass die weitere Anhaltung in Schubhaft aufrecht bleibt, da die Voraussetzungen hierfür weiterhin vorliegen.

Während der Anhaltung in Schubhaft wurden vom Bundesamt jeweils am 12.06.2020, 28.08.2020 sowie am 30.09.2020 Urgenzen an die Tunesische Botschaft für die Ausstellung eines HRZ übermittelt.

Es wurde auch bei der Marokkanischen Botschaft am 15.06.2020, 29.06.2020, 17.07.2020, 20.08.2020 und 15.09.2020 die Ausstellung eines Heimreisezertifikates urgiert. Am 15.01.2021 wurde von der Marokkanischen Botschaft festgestellt, dass der BF nicht marokkanischer Staatsbürger ist.

Weiters wurde vom BFA am 16.06.2020, 03.08.2020 und am 24.08.2020 bei der Algerischen Botschaft wegen eines Heimreisezertifikates urgiert. Am 18.09.2020 wurde der BF der algerischen Delegation vorgeführt. Diese erklärte, dass der BF vermutlich ein tunesischer Staatsangehöriger ist, jedoch werde trotzdem die Identität bei den Behörden in Algerien geprüft. Danach wurde vom Bundesamt auch am 03.12.2020, am 18.02.2021 und zuletzt am 28.04.2021 bei der Algerischen Botschaft urgiert.

Am 30.12.2020, 29.01.2021, 25.02.2021, 24.03.2021, 13.04.2021 sowie am 12.05.2021 wurde vom Bundesamt jeweils neuerlich bei der Tunesischen Botschaft die Ausstellung eines Heimreisezertifikates urgiert.

Am 13.08.2020 wurde der Folgeantrag gemäß § 68 AVG zurückgewiesen. Diese Entscheidung erwuchs in Rechtskraft.

Am 16.03.2021 übermittelte das Bundesamt die Niederschriften der zwei Einvernahmen des BF vom selben Tag. In dieser gab der BF zusammengefasst an, dass er zu Unrecht strafrechtlich verurteilt worden wäre. Es sei nicht unrecht gewesen, „diese Frau“ zu vergewaltigen, es habe sich um eine „schmutzige Frau“ und nicht eine „normale Frau“ gehandelt. Er habe einen Meldezettel und, da er seine Identität offengelegt habe, wolle er aus der Schubhaft entlassen werden. Er komme aus Tunesien, eine Delegation aus Algerien und Tunesien sei schon „hier gewesen“. Er hätte eine Arbeitsgenehmigung, der „Chef“ hätte gesagt, dass er diese bekomme. Er werde zurückkehren, er werde aber nicht freiwillig zurückkehren. Er sei aus Frankreich freiwillig mit einem Laissez-passer ausgereist. Befragt wo sich seine Dokumente befinden würden gab er an, dass diese nicht mehr gültig seien und „in der Schweiz sollten sie sie haben“. Auf die Nachfrage „ist der Reisepass in der Schweiz?“ gab er - während er die Beamten angrinste - an: „Die sind nicht mehr gültig. …Die sind zuhause in Tunesien“. Der BF wurde anlässlich dieser Einvernahme erneut über die Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise informiert.

Mit E-Mail vom 16.03.2021 teilte das Bundesamt überdies zusammengefasst mit, dass bei dringlichen Verfahren (Schub- und Strafhaftfälle) bis dato eine derartige Verfahrensdauer zur Identifizierung von vermeintlichen tunesischen bzw. algerischen Staatsangehörigen noch nicht aktenkundig sei. Bis dato seien aber auch noch nicht 12 Urgenzen bei der tunesischen Botschaft gestellt worden. Jedoch könne aus Erfahrung der nicht dringenden Fälle mitgeteilt werden, dass hier bis zu 10 - 15 Urgenzen üblich seien um eine positive oder negative Antwort aus Tunis zu erhalten. Üblicherweise seien bei ca. fünf Personen 10 bis 15 Urgenzen notwendig. Aufgrund der COVID - Situation habe der BF erst am 18.09.2020 der algerischen Delegation vorgeführt werden können. Die Verzögerungen der Interviewtermine, welche grundsätzlich alle 2 Monate stattfänden, seien leider COVID bedingt und auch habe es im Jahr 2020 und auch im Jahr 2021 Coronafälle in der Botschaft gegeben, was auch dazu geführt habe, dass die Botschaft die Urgenzen verzögert an Algier weitergeleitet habe.

Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) stellte mit Erkenntnissen vom 08.10.2020, W278 2235689-1/16E, vom 04.11.2020 (W150 2235689-2), vom 02.12.2020 (W137 2235689-3), vom 29.12.2020 (W137 2235689-4), 25.01.2021 (W281 2235689-5), 19.02.2021 (W171 2235689-6), 19.03.2021 (W281 2235689-7), 13.04.2021 (W282 2235689-8), 11.05.2021 (W171 2235689-9). 08.06.2021 (W150 2235689-10/7E) und (W140 2235689-11/5E) am 02.07.2021 und zuletzt (W278 2235689-12/5E) am 29.07.2021 jeweils fest, dass die Voraussetzungen für die Fortsetzung der Schubhaft vorliegen und diese auch verhältnismäßig ist.

Die Verwaltungsbehörde übermittelte am 19.08.2021 zum Zwecke der Überprüfung der Schubhaft im Sinne des § 22a Abs. 4 BFA-VG die Verwaltungsakten und führte zusammengefasst, nach Widergabe des Verfahrensganges im Wesentlichen aus, dass mit 23.06.2021 der BF als tunesischer Staatsbürger identifiziert werden konnte und einer HRZ-Ausstellung seitens Tunesien zugestimmt worden sei. Zwischenzeitlich liege bereits für 28.08.2021 die Flugbuchung für die begleitete Abschiebung des BF vor. Der BF wurde über den Termin für die Abschiebung bereits in Kenntnis gesetzt.

Die Stellungnahme des Bundesamtes wurde dem BF zum Parteiengehör in das Polizeianhaltezentrum übermittelt. Die Frist zur Abgabe einer Stellungnahme ist bis dato fruchtlos verstrichen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Zum bisherigen Verfahren:

Die Verhängung der Schubhaft erfolgte mit Mandatsbescheid des BFA vom 10.06.2020 gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG zum Zwecke der Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme, der Sicherung der Abschiebung.

Zum Zeitpunkt der Anordnung der Schubhaft bestand bereits eine rechtskräftige und durchsetzbare Rückkehrentscheidung.

Am 17.07.2020 stellte der BF im Stande der Schubhaft einen Asylfolgeantrag – ohne Angabe von neuen Fluchtgründen – zum Zweck der Verzögerung der Vollstreckung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme. Das Bundesamt hielt die Schubhaft mittels Aktenvermerk nach § 76 Abs. 6 FPG aufrecht. Gegenständlicher Aktenvermerk wurde dem BF am 17.07.2020 nachweislich zugestellt. Das Bundesamt führte am 23.07.2020 die Einvernahme im zweiten Asylverfahren durch. Am 29.07.2020 wurde der Folgeantrag des BF auf internationalen Schutz wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Dieser Bescheid erwuchs unbekämpft in Rechtskraft.

Gegen den BF liegt eine rechtskräftige und durchsetzbare Rückkehrentscheidung iVm einem 10jährigen Einreiseverbot vor.

Zur Person des BF:

Der volljährige BF ist nicht österreichischer Staatsbürger und weder Asylberechtigter noch subsidiär Schutzberechtigter.

Der BF war im Verfahren zur Erlangung eines Heimreisezertifikates unkooperativ. Der BF verfügte über keine Personal- oder Reisedokumente bzw. hat diese im Verfahren nicht vorgelegt. In seinem (ersten) Asylverfahren hat er sich bewusst tatsachenwidrig als Staatsangehöriger von Syrien ausgegeben. Der BF bemühte sich auch nicht um eine freiwillige Rückkehr.

Mit 23.06.2021 konnte der BF als tunesischer Staatsbürger identifiziert werden und wurde der-Ausstellung eines Heimreisezertifikates zugestimmt.

Der BF wird seit 10.06.2020 in Schubhaft angehalten. Zuvor befand er sich seit 11.06.2017 in Untersuchungs- und Strafhaft.

Der BF ist haftfähig. Der BF hat in der Schubhaft Zugang zu allenfalls benötigter medizinischer Versorgung.

Zum Sicherungsbedarf, zur Fluchtgefahr und zur Verhältnismäßigkeit:

Es liegt eine rechtskräftige, durchsetzbare und durchführbare aufenthaltsbeendende Maßnahme vor.

Der BF ist nicht vertrauenswürdig und war auch nicht kooperativ. Der BF wurde in Österreich am 21.03.2018 durch ein Landesgericht rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren wegen Vergewaltigung gemäß § 201 Abs. 1 StGB verurteilt.

Er ist in Österreich in keiner Form sozial integriert, spricht kaum Deutsch und verfügt über keine familiären oder substanziellen sozialen Anknüpfungspunkte in Österreich. Er ging in Österreich keiner legalen Beschäftigung nach und ist mittellos. Er ist ledig und hat keine Kinder. Er verfügt über keinen gesicherten Wohnsitz. Er wird im Falle seiner Entlassung aus der Schubhaft mit maßgeblicher, hoher Wahrscheinlichkeit untertauchen.

Der BF hat nach seiner Einreise in das Bundesgebiet bewusst tatsachenwidrige Angaben zu seiner Identität gemacht und keinen substanziellen aktiven Beitrag zu deren Feststellung und zur Erlangung eines (Ersatz-)Reisedokumentes geleistet.

Seitens des Bundesamtes wurde das Identifizierungsverfahren mit den relevanten Botschaften intensiv betrieben und auch laufend urgiert. Die Verfahren zur Identifizierung mit der Tunesischen, Algerischen sowie Marokkanischen Botschaft wurden am 11.09.2019 eingeleitet.

Am 15.01.2021 wurde von der Marokkanischen Botschaft festgestellt, dass der BF nicht marokkanischer Staatsbürger ist. Bei der Tunesischen Botschaft wurde am 03.01.2020, 31.01.2020, 16.04.2020, 12.06.2020, 28.08.2020, 30.09.2020, 29.10.2020, 26.11.2020, 30.12.2020, 29.01.2021, 25.02.2021, 24.03.2021, 13.04.2021 sowie zuletzt am 12.05.2021 urgiert. Bei der Algerischen Botschaft wurde am 12.11.2019, 09.12.2019, 30.01.2020, 26.03.2020, 08.05.2020, 16.06.2020, 03.08.2020, 24.08.2020 urgiert. Am 18.09.2020 wurde der BF der Algerischen Delegation vorgeführt, diese stellte auch fest, dass der BF vermutlich ein tunesischer Staatsangehöriger ist, jedoch wurde trotzdem die Identität bei den Behörden in Algerien geprüft. Weitere Urgenzen bei der Algerischen Botschaft folgten am 03.12.2020, am 18.02.2021, am 15.03.2021 und am 28.04.2021.

Am 23.06.2021 konnte der BF als tunesischer Staatsbürger identifiziert werden und wurde der Ausstellung eines Heimreisezertifikates zugestimmt. Eine Flugbuchung für die Abschiebung am 28.08.2021 liegt vor. Somit kann auch die Abschiebung innerhalb weniger Tage und somit innerhalb der gesetzlich zulässigen Schubhafthöchstdauer erfolgen.

Das Bundesamt konnte durch angemessene Bemühungen, auch ohne substanzielle Mitwirkung des BF ein Heimreisezertifikat erwirken.

Eine relevante Änderung der Umstände seit der letzten Feststellung des Vorliegens der maßgeblichen Voraussetzungen und der Verhältnismäßigkeit der Schubhaft liegt nicht vor.

2. Beweiswürdigung:

Beweis wurde erhoben durch Einsichtnahme in den Verwaltungs- und Gerichtsakt, in die Akte des BVwG die bisherigen Schubhaftverfahren des BF betreffend (W278 2235689-1, W150 2235689-2, W137 2235689-3, W137 2235689-4, W281 2235689-5, W171 2235689-6, W281 2235689-7, W282 2235689-8, W171 2235689-9, W150 2235689-10/7E und W140 2235689-11 und W278 2235689-12), in das Grundversorgungs-Informationssystem, in das Strafregister, in das Zentrale Fremdenregister, in das Zentrale Melderegister sowie in die Anhaltedatei des Bundesministeriums für Inneres.

Der Verfahrensgang ergibt sich aus dem vorliegenden Gerichtsakt sowie den Akten des BFA und des BVwG die Asylverfahren sowie das Schubhaftverfahren des BF betreffend.

Die Feststellungen zum Schubhaftbescheid und der rechtskräftigen Rückkehrentscheidung ergeben sich widerspruchsfrei aus dem Verwaltungsakt.

Aus der Einsichtnahme in das Strafregister ergibt sich die strafrechtliche Verurteilung des BF.

Der Zeitpunkt, seit dem der BF in Schubhaft angehalten wird, ergibt sich aus dem Verwaltungsakt und den damit übereinstimmenden Angaben in der Anhaltedatei.

Die Feststellung, dass der BF haftfähig ist ergibt sich aus der Anhaltedatei des Bundesministeriums für Inneres. Dass der BF Zugang zu allenfalls benötigter medizinischer Behandlung hat, ist unzweifelhaft.

Die Feststellungen, dass der BF über keine familiären, beruflichen oder sonstigen sozialen Kontakte in Österreich verfügt und in keiner Weise selbsterhaltungsfähig ist, ergeben sich aus der Aktenlage.

Dass der BF in Österreich über keinen eigenen gesicherten Wohnsitz verfügt, ergibt sich aus dem Zentralen Melderegister. Aus den in der Anhaltedatei vermerkten finanziellen Mitteln des BF ergibt sich, dass der BF über keine eigenen finanziellen Mittel zur Existenzsicherung verfügt.

Die Feststellungen zu den Bemühungen des Bundesamtes zur Erlangung eines Heimreisezertifikates sowie zur bevorstehenden Abschiebung nach Tunesien ergeben sich aus der Stellungnahme des Bundesamtes.

Im gerichtlichen Verfahren sind keine Anhaltspunkte dafür hervorgekommen, dass es für den BF nicht möglich wäre, innerhalb der dafür gesetzlich vorgesehenen zeitlichen Grenzen auch tatsächlich in sein Heimatland verbracht zu werden.

Weitere Beweise waren wegen Entscheidungsreife nicht aufzunehmen.

Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A) Fortsetzungsausspruch

§§ 76 und 77 Fremdenpolizeigesetz (FPG), § 22a Abs 4 Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Verfahrensgesetz (BFA-VG) lauten auszugsweise:

Schubhaft (FPG)

„§ 76 (1) Fremde können festgenommen und angehalten werden (Schubhaft), sofern der Zweck der Schubhaft nicht durch ein gelinderes Mittel (§ 77) erreicht werden kann. Unmündige Minderjährige dürfen nicht in Schubhaft angehalten werden.

(2) Die Schubhaft darf nur angeordnet werden, wenn
1.         dies zur Sicherung des Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme notwendig ist, sofern der Aufenthalt des Fremden die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gemäß § 67 gefährdet, Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist, oder
2.         dies zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme nach dem 8. Hauptstück oder der Abschiebung notwendig ist, sofern jeweils Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist, oder
3.         die Voraussetzungen des Art. 28 Abs. 1 und 2 Dublin-Verordnung vorliegen. 

Bedarf es der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme deshalb nicht, weil bereits eine aufrechte rechtskräftige Rückkehrentscheidung vorliegt (§ 59 Abs. 5), so steht dies der Anwendung der Z 1 nicht entgegen. In den Fällen des § 40 Abs. 5 BFA-VG gilt Z 1 mit der Maßgabe, dass die Anordnung der Schubhaft eine vom Aufenthalt des Fremden ausgehende Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit nicht voraussetzt

(2a) Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung (Abs. 2 und Art. 28 Abs. 1 und 2 Dublin-Verordnung) ist auch ein allfälliges strafrechtlich relevantes Fehlverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen, insbesondere ob unter Berücksichtigung der Schwere der Straftaten das öffentliche Interesse an einer baldigen Durchsetzung einer Abschiebung den Schutz der persönlichen Freiheit des Fremden überwiegt.

(3) Eine Fluchtgefahr im Sinne des Abs. 2 Z 1 oder 2 oder im Sinne des Art. 2 lit n Dublin-Verordnung liegt vor, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich der Fremde dem Verfahren oder der Abschiebung entziehen wird oder dass der Fremde die Abschiebung wesentlich erschweren wird. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen,
1.         ob der Fremde an dem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme mitwirkt oder die Rückkehr oder Abschiebung umgeht oder behindert;
1a.         ob der Fremde eine Verpflichtung gemäß § 46 Abs. 2 oder 2a verletzt hat, insbesondere, wenn ihm diese Verpflichtung mit Bescheid gemäß § 46 Abs. 2b auferlegt worden ist, er diesem Bescheid nicht Folge geleistet hat und deshalb gegen ihn Zwangsstrafen (§ 3 Abs. 3 BFA-VG) angeordnet worden sind;
2.         ob der Fremde entgegen einem aufrechten Einreiseverbot, einem aufrechten Aufenthaltsverbot oder während einer aufrechten Anordnung zur Außerlandesbringung neuerlich in das Bundesgebiet eingereist ist;
3.         ob eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme besteht oder der Fremde sich dem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme oder über einen Antrag auf internationalen Schutz bereits entzogen hat;
4.         ob der faktische Abschiebeschutz bei einem Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23 AsylG 2005) aufgehoben wurde oder dieser dem Fremden nicht zukommt;
5.         ob gegen den Fremden zum Zeitpunkt der Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme bestand, insbesondere, wenn er sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Schubhaft befand oder aufgrund § 34 Abs. 3 Z 1 bis 3 BFA-VG angehalten wurde;
6.         ob aufgrund des Ergebnisses der Befragung, der Durchsuchung oder der erkennungsdienstlichen Behandlung anzunehmen ist, dass ein anderer Mitgliedstaat nach der Dublin-Verordnung zuständig ist, insbesondere sofern
a.         der Fremde bereits mehrere Anträge auf internationalen Schutz in den Mitgliedstaaten gestellt hat oder der Fremde falsche Angaben hierüber gemacht hat,
b.         der Fremde versucht hat, in einen dritten Mitgliedstaat weiterzureisen, oder
c.         es aufgrund der Ergebnisse der Befragung, der Durchsuchung, der erkennungsdienstlichen Behandlung oder des bisherigen Verhaltens des Fremden wahrscheinlich ist, dass der Fremde die Weiterreise in einen dritten Mitgliedstaat beabsichtigt;
7.         ob der Fremde seiner Verpflichtung aus dem gelinderen Mittel nicht nachkommt;
8.         ob Auflagen, Mitwirkungspflichten, Gebiets-beschränkungen, Meldeverpflichtungen oder Anordnungen der Unterkunftnahme gemäß §§ 52a, 56, 57 oder 71 FPG, § 38b SPG, § 13 Abs. 2 BFA-VG oder §§ 15a oder 15b AsylG 2005 verletzt wurden, insbesondere bei Vorliegen einer aktuell oder zum Zeitpunkt der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutzes durchsetzbaren aufenthaltsbeendenden Maßnahme;
9.         der Grad der sozialen Verankerung in Österreich, insbesondere das Bestehen familiärer Beziehungen, das Ausüben einer legalen Erwerbstätigkeit beziehungsweise das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel sowie die Existenz eines gesicherten Wohnsitzes.

(4) Die Schubhaft ist schriftlich mit Bescheid anzuordnen; dieser ist gemäß § 57 AVG zu erlassen, es sei denn, der Fremde befände sich bei Einleitung des Verfahrens zu seiner Erlassung aus anderem Grund nicht bloß kurzfristig in Haft. Nicht vollstreckte Schubhaftbescheide gemäß § 57 AVG gelten 14 Tage nach ihrer Erlassung als widerrufen.

(5) Wird eine aufenthaltsbeendende Maßnahme durchsetzbar und erscheint die Überwachung der Ausreise des Fremden notwendig, so gilt die zur Sicherung des Verfahrens angeordnete Schubhaft ab diesem Zeitpunkt als zur Sicherung der Abschiebung verhängt.

(6) Stellt ein Fremder während einer Anhaltung in Schubhaft einen Antrag auf internationalen Schutz, so kann diese aufrechterhalten werden, wenn Gründe zur Annahme bestehen, dass der Antrag zur Verzögerung der Vollstreckung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gestellt wurde. Das Vorliegen der Voraussetzungen ist mit Aktenvermerk festzuhalten; dieser ist dem Fremden zur Kenntnis zu bringen. § 11 Abs. 8 und § 12 Abs. 1 BFA-VG gelten sinngemäß.“

Gelinderes Mittel (FPG)

§ 77 (1) Das Bundesamt hat bei Vorliegen der in § 76 genannten Gründe gelindere Mittel anzuordnen, wenn es Grund zur Annahme hat, dass der Zweck der Schubhaft durch Anwendung des gelinderen Mittels erreicht werden kann. Gegen mündige Minderjährige hat das Bundesamt gelindere Mittel anzuwenden, es sei denn bestimmte Tatsachen rechtfertigen die Annahme, dass der Zweck der Schubhaft damit nicht erreicht werden kann; diesfalls gilt § 80 Abs. 2 Z 1.

(2) Voraussetzung für die Anordnung gelinderer Mittel ist, dass der Fremde seiner erkennungsdienstlichen Behandlung zustimmt, es sei denn, diese wäre bereits aus dem Grunde des § 24 Abs. 1 Z 4 BFA-VG von Amts wegen erfolgt.

(3) Gelindere Mittel sind insbesondere die Anordnung,
1.         in vom Bundesamt bestimmten Räumen Unterkunft zu nehmen,
2.         sich in periodischen Abständen bei einer Dienststelle einer Landespolizeidirektion zu melden oder
2.         eine angemessene finanzielle Sicherheit beim Bundesamt zu hinterlegen;

(4) Kommt der Fremde seinen Verpflichtungen nach Abs. 3 nicht nach oder leistet er ohne ausreichende Entschuldigung einer ihm zugegangenen Ladung zum Bundesamt, in der auf diese Konsequenz hingewiesen wurde, nicht Folge, ist die Schubhaft anzuordnen. Für die in der Unterkunft verbrachte Zeit gilt § 80 mit der Maßgabe, dass die Dauer der Zulässigkeit verdoppelt wird

(5) Die Anwendung eines gelinderen Mittels steht der für die Durchsetzung der Abschiebung erforderlichen Ausübung von Befehls- und Zwangsgewalt nicht entgegen. Soweit dies zur Abwicklung dieser Maßnahmen erforderlich ist, kann den Betroffenen aufgetragen werden, sich für insgesamt 72 Stunden nicht übersteigende Zeiträume an bestimmten Orten aufzuhalten.

(6) Zur Erfüllung der Meldeverpflichtung gemäß Abs. 3 Z 2 hat sich der Fremde in periodischen, 24 Stunden nicht unterschreitenden Abständen bei einer zu bestimmenden Dienststelle einer Landespolizeidirektion zu melden. Die dafür notwendigen Angaben, wie insbesondere die zuständige Dienststelle einer Landespolizeidirektion sowie Zeitraum und Zeitpunkt der Meldung, sind dem Fremden vom Bundesamt mit Verfahrensanordnung (§ 7 Abs. 1 VwGVG) mitzuteilen. Eine Verletzung der Meldeverpflichtung liegt nicht vor, wenn deren Erfüllung für den Fremden nachweislich nicht möglich oder nicht zumutbar war.

(7) Die näheren Bestimmungen, welche die Hinterlegung einer finanziellen Sicherheit gemäß Abs. 3 Z 3 regeln, kann der Bundesminister für Inneres durch Verordnung festlegen.

(8) Das gelindere Mittel ist mit Bescheid anzuordnen; dieser ist gemäß § 57 AVG zu erlassen, es sei denn, der Fremde befände sich bei Einleitung des Verfahrens zu seiner Erlassung aus anderem Grund nicht bloß kurzfristig in Haft. Nicht vollstreckte Bescheide gemäß § 57 AVG gelten 14 Tage nach ihrer Erlassung als widerrufen.

(9) Die Landespolizeidirektionen können betreffend die Räumlichkeiten zur Unterkunftnahme gemäß Abs. 3 Z 1 Vorsorge treffen.

Dauer der Schubhaft (FPG)

§ 80. (1) Das Bundesamt ist verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass die Schubhaft so kurz wie möglich dauert. Die Schubhaft darf so lange aufrechterhalten werden, bis der Grund für ihre Anordnung weggefallen ist oder ihr Ziel nicht mehr erreicht werden kann.
(2) Die Schubhaftdauer darf, vorbehaltlich des Abs. 5 und der Dublin-Verordnung, grundsätzlich,
1.         drei Monate nicht überschreiten, wenn die Schubhaft gegen einen mündigen Minderjährigen angeordnet wird;
2.         sechs Monate nicht überschreiten, wenn die Schubhaft gegen einen Fremden, der das 18. Lebensjahr vollendet hat, angeordnet wird und kein Fall der Abs. 3 und 4 vorliegt

(3) Darf ein Fremder deshalb nicht abgeschoben werden, weil über einen Antrag gemäß § 51 noch nicht rechtskräftig entschieden ist, kann die Schubhaft bis zum Ablauf der vierten Woche nach rechtskräftiger Entscheidung, insgesamt jedoch nicht länger als sechs Monate aufrecht erhalten werden.

(4) Kann ein Fremder deshalb nicht abgeschoben werden, weil,
1.         die Feststellung seiner Identität und der Staatsangehörigkeit, insbesondere zum Zweck der Erlangung eines Ersatzreisedokumentes, nicht möglich ist,
2.         eine für die Ein- oder Durchreise erforderliche Bewilligung eines anderen Staates nicht vorliegt,
3.         der Fremde die Abschiebung dadurch vereitelt, dass er sich der Zwangsgewalt (§ 13) widersetzt, oder
4.         die Abschiebung dadurch, dass der Fremde sich bereits einmal dem Verfahren entzogen oder ein Abschiebungshindernis auf sonstige Weise zu vertreten hat, gefährdet erscheint

kann die Schubhaft wegen desselben Sachverhalts abweichend von Abs. 2 Z 2 und Abs. 3 höchstens 18 Monate aufrechterhalten werden.

Rechtsschutz bei Festnahme, Anhaltung und Schubhaft (BFA-VG)

§ 22a (4) Soll ein Fremder länger als vier Monate durchgehend in Schubhaft angehalten werden, so ist die Verhältnismäßigkeit der Anhaltung nach dem Tag, an dem das vierte Monat überschritten wurde, und danach alle vier Wochen vom Bundesverwaltungsgericht zu überprüfen. Das Bundesamt hat die Verwaltungsakten so rechtzeitig vorzulegen, dass dem Bundesverwaltungsgericht eine Woche zur Entscheidung vor den gegenständlichen Terminen bleibt. Mit Vorlage der Verwaltungsakten gilt die Beschwerde als für den in Schubhaft befindlichen Fremden eingebracht. Das Bundesamt hat darzulegen, warum die Aufrechterhaltung der Schubhaft notwendig und verhältnismäßig ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat jedenfalls festzustellen, ob zum Zeitpunkt seiner Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorliegen und ob die Aufrechterhaltung der Schubhaft verhältnismäßig ist. Diese Überprüfung hat zu entfallen, soweit eine Beschwerde gemäß Abs. 1 bereits eingebracht wurde

Anwendungsbereich (Rückführungsrichtlinie)

Art 2. (1) Diese Richtlinie findet Anwendung auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige.

Inhaftnahme (Rückführungsrichtlinie)

Art 15. (1) Sofern in dem konkreten Fall keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können, dürfen die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist, nur in Haft nehmen, um deren Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen, (…)

(5) Die Haft wird so lange aufrechterhalten, wie die in Absatz 1 dargelegten Umstände gegeben sind und wie dies erforderlich ist, um den erfolgreichen Vollzug der Abschiebung zu gewährleisten. Jeder Mitgliedstaat legt eine Höchsthaftdauer fest, die sechs Monate nicht überschreiten darf. 

(6) Die Mitgliedstaaten dürfen den in Absatz 5 genannten Zeitraum nicht verlängern; lediglich in den Fällen, in denen die Abschiebungsmaßnahme trotz ihrer angemessenen Bemühungen aufgrund der nachstehend genannten Faktoren wahrscheinlich länger dauern wird, dürfen sie diesen Zeitraum im Einklang mit dem einzelstaatlichen Recht um höchstens zwölf Monate verlängern:
a.         mangelnde Kooperationsbereitschaft seitens der betroffenen Drittstaatsangehörigen oder,
b.         Verzögerung bei der Übermittlung der erforderlichen Unterlagen durch Drittstaaten.

Zur Judikatur:

Die Anhaltung in Schubhaft ist nach Maßgabe der grundrechtlichen Garantien des Art. 2 Abs. 1 Z 7 PersFrBVG und des Art. 5 Abs. 1 lit. f EMRK nur dann zulässig, wenn der Anordnung der Schubhaft ein konkreter Sicherungsbedarf zugrunde liegt und die Schubhaft unter Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls verhältnismäßig ist. Dabei sind das öffentliche Interesse an der Sicherung der Aufenthaltsbeendigung und das Interesse des Betroffenen an der Schonung seiner persönlichen Freiheit abzuwägen. Kann der Sicherungszweck auf eine andere, die Rechte des Betroffenen schonendere Weise, wie etwa durch die Anordnung eines gelinderen Mittels nach § 77 FPG, erreicht werden (§ 76 Abs. 1 FPG), ist die Anordnung der Schubhaft nicht zulässig (VfGH 03.10.2012, VfSlg. 19.675/2012; VwGH 22.01.2009, Zl. 2008/21/0647; 30.08.2007, Zl. 2007/21/0043).

Ein Sicherungsbedarf ist in der Regel dann gegeben, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich der Fremde dem Verfahren oder der Abschiebung entziehen oder diese zumindest wesentlich erschweren werde (§ 76 Abs. 3 FPG). Das Bestehen einer durchsetzbaren aufenthaltsbeendenden Maßnahme per se vermag zwar keinen Tatbestand zu verwirklichen, der in tauglicher Weise "Fluchtgefahr" zum Ausdruck bringt. Der Existenz einer solchen Maßnahme kommt jedoch im Rahmen der gebotenen einzelfallbezogenen Bewertung der Größe der auf Grund der Verwirklichung eines anderen tauglichen Tatbestandes des § 76 Abs. 3 FPG grundsätzlich anzunehmenden Fluchtgefahr Bedeutung zu (vgl. VwGH vom 11.05.2017, Ro 2016/21/0021). In einem schon fortgeschrittenen Verfahrensstadium reichen grundsätzlich weniger ausgeprägte Hinweise auf eine Vereitelung oder Erschwerung der Aufenthaltsbeendigung aus, weil hier die Gefahr des Untertauchens eines Fremden erhöht ist (VwGH vom 20.02.2014, 2013/21/0178).

Die Entscheidung über die Anwendung gelinderer Mittel iSd § 77 Abs 1 FPG ist eine Ermessensentscheidung. Auch die Anwendung gelinderer Mittel setzt das Vorliegen eines Sicherungsbedürfnisses voraus. Der Behörde kommt aber dann kein Ermessen zu, wenn der Sicherungsbedarf im Verhältnis zum Eingriff in die persönliche Freiheit nicht groß genug ist, um die Verhängung von Schubhaft zu rechtfertigen. Das ergibt sich schon daraus, dass Schubhaft immer ultima ratio sein muss (Hinweis E 17.03.2009, 2007/21/0542; E 30.08.2007, 2007/21/0043).

Gemäß § 80 Abs. 4 FPG darf die Anhaltung in Schubhaft nur bei Vorliegen der dort in den Z 1 bis 4 genannten alternativen Voraussetzungen höchstens achtzehn Monate dauern. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, so beträgt die Schubhaftdauer - wie in § 80 Abs. 2 Z 2 FPG als Grundsatz normiert - nur sechs Monate. Mit § 80 Abs 4 FPG soll Art. 15 Abs. 6 RückführungsRL umgesetzt werden, sodass die Bestimmung richtlinienkonform auszulegen ist. In diesem Sinn ist auch der Verlängerungstatbestand des § 80 Abs. 4 Z 4 FPG dahingehend auszulegen, dass der Verlängerungstatbestand nur dann vorliegt, wenn das Verhalten des BF kausal für die längere (mehr als sechsmonatige) Anhaltung ist. Wenn kein Kausalzusammenhang zwischen dem Verhalten des Drittstaatsangehörigen und der Verzögerung der Abschiebung festgestellt werden kann, liegen die Voraussetzungen für die Anhaltung in Schubhaft gemäß § 80 Abs 4 Z 4 FPG über die Dauer von sechs Monaten nicht vor (VwGH vom 15.12.2020, Ra 2020/21/0404).

In seinem Erkenntnis zur Zahl Ra 2020/21/0070 vom 26.11.2020 hielt der VwGH fest, dass die Frage der rechtzeitigen Erlangbarkeit eines Heimreisezertifikates bei länger andauernden Schubhaften, die gemäß § 22a Abs. 4 BFA-VG überprüft werden, für die weitere Verhältnismäßigkeit der Anhaltung (typischerweise) entscheidend ist. Dabei ist insbesondere relevant, ob die Bemühungen der Behörde mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erfolgsversprechend sind. Bei der Ermittlung des gefordertes Grades dieser Wahrscheinlichkeit können auch die bisherige Anhaltedauer und die Schwere der Gründe für ihre Verhängung und Aufrechterhaltung eine Rolle spielen. Bisherige Erfahrungswerte mit der jeweiligen Vertretungsbehörde können – sofern diese nachvollziehbar festgestellt und nicht bloß behauptet würden – wesentliche Anhaltspunkte für die Beurteilung bieten (vgl. VwGH Ra 2020/21/0070 vom 26.11.2020 Ra 2020/21/0174 vom 22.12.2020, mwN).

Zu den allgemeinen Voraussetzungen:

Der BF besitzt nicht die österreichische Staatsbürgerschaft und ist daher Fremder im Sinne des § 2 Abs. 4 Z 1 FPG. Er ist volljährig und weder Asylberechtigter noch subsidiär Schutzberechtigter, weshalb die Anordnung der Schubhaft grundsätzlich – bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen (Vorliegen eines Sicherungsbedarfes, das Bestehen von Fluchtgefahr sowie die Verhältnismäßigkeit der angeordneten Schubhaft) – möglich ist. Im vorliegenden Fall liegt eine rechtskräftige, durchsetzbare und durchführbare Rückkehrentscheidung vor.

Zur Fluchtgefahr und zum Sicherungsbedarf:

Es liegt beim BF fortgesetzt Fluchtgefahr und Sicherungsbedarf iSd § 76 Abs. 3 FPG vor. Die Gründe, aus denen das Bundesamt die Schubhaft angeordnet hat (Ziffern 1, 3 und 9 des § 76 Abs. 3 FPG) sowie das Bundesverwaltungsgericht diese in den Vorverfahren fortsetzt hat (zusätzlich Ziffer 5 des § 76 Abs. 3 FPG), haben sich seither nicht geändert und sind – hinsichtlich der Ziffern 1 (Behinderung der Rückkehr/Abschiebung durch falsche Angaben zur Identität), 3 sowie 5 auch zweifelsfrei durch den Verfahrensgang und das Verhalten des BF belegt.

Der BF verfügt über keine substanziellen sozialen Beziehungen im Bundesgebiet. Er hat in Österreich keinen Wohnsitz. Er geht in Österreich keiner legalen Erwerbstätigkeit nach, hat kein Einkommen und verfügt über kein zur Sicherung seiner Existenz ausreichendes Vermögen. Eine vom BF im Vorfeld des Vorverfahrens zu W281 2235689-8 behauptete Wohnungsmöglichkeit wurde bereits im Erkenntnis vom 19.03.2021, W281 2235689-8/15E, als unglaubwürdig und unzutreffend verworfen. § 76 Abs. 3 Z 9 FPG ist daher ebenfalls fortgesetzt erfüllt.

Bei der Beurteilung des Sicherungsbedarfes ist das gesamte Verhalten des BF vor Verhängung der Schubhaft sowie seine familiäre, soziale und berufliche Verankerung im Inland in einer Gesamtbetrachtung zu berücksichtigen. Diese Beurteilung hat ergeben, dass mehrere Kriterien für das Bestehen eines Sicherungsbedarfes sprechen. Es war daher eine konkrete Einzelfallbeurteilung vorzunehmen welche ergeben hat, dass sowohl das Vorverhalten als auch die vorzunehmende Verhaltensprognose einen Sicherungsbedarf ergeben haben, da im Fall des BF ein beträchtliches Risiko des Untertauchens gegeben ist.

Der BF behinderte / verzögerte das Verfahren zur HRZ-Ausstellung. Gegen den BF besteht eine aufenthaltsbeendende Maßnahme; seinen zweiten Asylantrag stellte er rein in Verzögerungsabsicht. Er verfügt über keine aufrechte Meldeadresse und ist in Österreich sozial nicht verankert. Der BF ist zudem mittellos. Gegen den BF bestand zum Zeitpunkt der Stellung seines zweiten Antrages auf internationalen Schutz bereits eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme. Weiters ist die strafrechtliche Verurteilung des BF zu erwähnen. Der BF ist nicht vertrauenswürdig.

Sowohl das Vorverhalten als auch die vorzunehmende Verhaltensprognose haben bei dem BF ein sehr hohes Risiko des Untertauchens sowie einen fortgesetzten Sicherungsbedarf ergeben. Der BF hat seine in diesem Fall besonders ausgeprägte Vertrauensunwürdigkeit durch sein unkooperatives Verhalten unter Beweis gestellt.

Es liegt daher weiterhin Fluchtgefahr im Sinne des § 76 Abs. 3 Z 1, 3, 5 und 9 FPG vor und ist auch Sicherungsbedarf gegeben.

Zur Verhältnismäßigkeit:

Als weitere Voraussetzung ist die Verhältnismäßigkeit der angeordneten Schubhaft zu prüfen. Dabei sind das öffentliche Interesse an der Sicherung der Aufenthaltsbeendigung und das Interesse des Betroffenen an der Schonung seiner persönlichen Freiheit abzuwägen.

Betrachtet man das Interesse des BF am Recht auf persönliche Freiheit in Bezug auf seine familiären und sozialen Verhältnisse in Österreich zeigt sich, dass der BF keine familiären Bindungen sowie keine Berufstätigkeit vorweisen kann. Der Grad seiner sozialen Verankerung ist gering. Seinen zweiten Asylantrag stellte er aus dem Stande der Schubhaft nur zum Zwecke der Verzögerung seiner Abschiebung.

Gemäß § 76 Abs. 2a FPG ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung auch ein allfälliges strafrechtlich relevantes Fehlverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen, insbesondere ob unter Berücksichtigung der Schwere der Straftaten das öffentliche Interesse an einer baldigen Durchsetzung einer Abschiebung den Schutz der persönlichen Freiheit des Fremden überwiegt. Der BF wurde in Österreich am 21.03.2018 durch das Landesgericht für Strafsachen Wien rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren wegen Vergewaltigung gemäß § 201 Abs.1 StGB verurteilt. Der BF achtet die österreichische Rechtsordnung nicht und ist nicht vertrauenswürdig. Der BF wird seit 10.06.2020 in Schubhaft angehalten. Die Dauer der Anhaltung des BF in Schubhaft ist maßgeblich auf die Dauer des Verfahrens zur Erlangung eines HRZ und der mangelnden Mitwirkung des BF zurückzuführen. Verzögerungen, die in der Sphäre des Bundesamt liegen würden, sind nicht zu erkennen. Wie den Feststellungen zu entnehmen ist, hat das BFA rechtzeitig und zielführend Verfahren zur Erlangung eines HRZ - mit den dem BFA zur Verfügung stehenden Daten - für den BF eingeleitet. Der BF besitzt keine Reisedokumente, hat unzureichende Angaben gemacht, sodass mit mehreren Staaten Verfahren zur Ausstellung eines HRZ eingeleitet werden mussten. Das Verhalten des BF im Verfahren zur Erlangung eines Heimreisezertifikates war von Anfang an unkooperativ. Er stellte nach rechtskräftiger Erledigung seines ersten Asylverfahrens einen zweiten Antrag um seine Abschiebung zu verzögern. Er wirkte nicht an der Feststellung seiner Identität mit. Verzögerungen betreffend die Ausstellung des Heimreisezertifikates sind dem BF anzulasten. Der BF ist maßgeblich selbst dafür verantwortlich, dass er nun noch immer in Schubhaft angehalten wird. Der BF machte auch von der Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise nicht Gebrauch. Am 23.06.2021 konnte der BF als tunesischer Staatsbürger identifiziert werden und wurde einer Ausstellung des Heimreisezertifikates zugestimmt. Eine Buchung für einen Flug nach Tunesien am 28.08.2021 ist erfolgt und bestätigt. Eine Abschiebung des BF kann in vier Wochen innerhalb der gesetzlich zulässigen Schubhafthöchstdauer erfolgen. Eine längere Schubhaftdauer ist - aufgrund der offensichtlichen Kausalität des unkooperativen Verhaltens des BF für die nun längere Anhaltung - iSd § 80 Abs. 4 Z 4 FPG in Zusammenschau mit seinem strafrechtlich relevanten Fehlverhaltens gemäß § 76 Abs. 2a FPG gerechtfertigt. Obwohl der BF nicht aktiv an seiner Identifizierung mitgewirkt hat, ist es dem Bundesamt durch angemessene Bemühungen dennoch gelungen eine Zusage zur Ausstellung eines Heimreisezertifikates zu erwirken und eine Abschiebetermin zu fixieren. Die Bemühungen des Bundesamts waren im gegenständlichen Fall evident erfolgversprechend und entsprechen jedenfalls den Erfordernissen der höchstgerichtlichen Judikatur.

Unter Berücksichtigung dieser weiteren Umstände bleibt im Zuge der durchzuführenden Abwägung festzuhalten, dass aufgrund des vom BF in der Vergangenheit gezeigten Verhaltens das öffentliche Interesse an einer baldigen Durchsetzung einer Abschiebung und eines geordneten Fremdenwesens das Interesse des BF am Schutz der persönlichen Freiheit seiner Person weiterhin überwiegt und auch der Gesundheitszustand des BF der weiteren Anhaltung in Schubhaft nicht entgegensteht. Insgesamt kommt den persönlichen Interessen des BF daher ein geringerer Stellenwert zu als dem öffentlichen Interesse an der Sicherung seiner Aufenthaltsbeendigung.

Das Bundesverwaltungsgericht geht sohin davon aus, dass die seit 10.06.2020 aufrechte Schubhaft im Entscheidungszeitpunkt im Hinblick auf die in wenigen Tagen bevorstehende Abschiebung auch weiterhin das Kriterium der Verhältnismäßigkeit erfüllt.

Gelinderes Mittel:

Zu prüfen ist, ob ein gelinderes Mittel im Sinne des § 77 FPG den gleichen Zweck wie die angeordnete Schubhaft erfüllt. Eine Sicherheitsleistung sowie die konkrete Zuweisung einer Unterkunft oder einer Meldeverpflichtung kann aufgrund des vom BF in der Vergangenheit gezeigten Verhaltens und angesichts fehlender persönlicher Vertrauenswürdigkeit nicht zum Ziel der Sicherung der Abschiebung führen, da diesfalls die konkrete Gefahr des Untertauchens des BF besteht. Die Abschiebung ist bereits organisiert und steht in wenigen Tagen bevor.

Sowohl das Vorverhalten als auch die vorzunehmende Verhaltensprognose haben bei dem BF ein erhöhtes Risiko des Untertauchens sowie einen Sicherungsbedarf ergeben. In diesem schon fortgeschrittenen Verfahrensstadium reichen grundsätzlich weniger ausgeprägte Hinweise auf eine Vereitelung oder Erschwerung der Aufenthaltsbeendigung, weil hier die Gefahr des Untertauchens eines Fremden erhöht ist (VwGH vom 20.02.2014, 2013/21/0178).

Die Verhängung eines gelinderen Mittels kommt daher weiterhin nicht in Betracht.

Ultima ratio:

Die hier zu prüfende Schubhaft stellt daher nach wie vor eine „ultima ratio“ dar, da sowohl Fluchtgefahr und Sicherungsbedarf als auch Verhältnismäßigkeit vorliegen und ein gelinderes Mittel nicht den Zweck der Schubhaft erfüllt. Das Verfahren hat keine andere Möglichkeit ergeben, eine gesicherte Außerlandesbringung des BF zu gewährleisten.

Entfall einer mündlichen Verhandlung

Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG.

Gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen. Gemäß § 24 Abs. 2 VwGVG kann die Verhandlung entfallen, wenn (Z 1) der das vorangegangene Verwaltungsverfahren einleitende Antrag der Partei oder die Beschwerde zurückzuweisen ist oder bereits aufgrund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt oder die angefochtene Weisung für rechtswidrig zu erklären ist oder (Z 2) die Säumnisbeschwerde zurückzuweisen oder abzuweisen ist. Soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, kann das Verwaltungsgericht gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr. C 83 vom 30.03.2010 S. 389 entgegenstehen. Das Verwaltungsgericht kann gemäß § 24 Abs. 5 VwGVG von der Durchführung (Fortsetzung) einer Verhandlung absehen, wenn die Parteien ausdrücklich darauf verzichten. Ein solcher Verzicht kann bis zum Beginn der (fortgesetzten) Verhandlung erklärt werden.

Die Abhaltung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG iVm § 24 VwGVG unterbleiben, da der Sachverhalt aufgrund der Aktenlage geklärt war und Widersprüchlichkeiten in Bezug auf die für die gegenständliche Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltselemente nicht vorlagen. Die Möglichkeit zu einer Stellungnahme im Wege eines schriftlichen Parteiengehörs nutzte der BF nicht.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Dies ist der Fall wenn die Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, wenn es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fehlt oder wenn die Frage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird bzw. sonstige Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vorliegen.

Im vorliegenden Akt findet sich kein Hinweis auf das Bestehen von Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung im Zusammenhang mit dem gegenständlichen Verfahren und sind solche auch aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts nicht gegeben.

Die Revision war daher nicht zuzulassen.

Schlagworte

Einreiseverbot falsche Angaben Fluchtgefahr Folgeantrag Fortsetzung der Schubhaft gelinderes Mittel Identität Mittellosigkeit öffentliche Interessen Rückkehrentscheidung Schubhaft Sicherungsbedarf Straffälligkeit Strafhaft strafrechtliche Verurteilung Ultima Ratio Untertauchen Verhältnismäßigkeit

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W283.2235689.13.00

Im RIS seit

24.09.2021

Zuletzt aktualisiert am

24.09.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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