TE Vwgh Erkenntnis 2007/8/30 2007/21/0043

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Veröffentlicht am 30.08.2007
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein;
10/07 Verwaltungsgerichtshof;
41/02 Asylrecht;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

AsylG 2005 §10;
AsylG 2005 §27 Abs1 Z1;
AsylG 2005 §27;
AsylG 2005 §29 Abs3 Z4;
AsylG 2005 §29 Abs3 Z5;
FrPolG 2005 §39 Abs3;
FrPolG 2005 §76 Abs1;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z2;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z4;
FrPolG 2005 §76 Abs2;
FrPolG 2005 §80 Abs5;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;

Beachte

Serie (erledigt im gleichen Sinn):2007/21/0066 E 30. August 2007 2007/21/0047 E 29. April 2008 2007/21/0094 E 24. Oktober 2007

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Robl, Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Plankensteiner, über die Beschwerde des I, vertreten durch Dr. Lennart Binder, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Rochusgasse 2, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich vom 9. Jänner 2007, Zl. Senat-FR-07/0002, betreffend Schubhaft, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer ist russischer Staatsangehöriger und gehört der tschetschenischen Minderheit an. Am 13. Dezember 2006 stellte er in der Erstaufnahmestelle-Ost des Bundesasylamtes einen Asylantrag, zu dem er noch am selben Tag von einem Mitarbeiter der dortigen Polizeiinspektion befragt wurde. Dabei gab er an, nach Verschleppung seines Vaters gemeinsam mit seiner Mutter und seinen drei Schwestern sein Heimatland am 16. Oktober 2006 Richtung Polen verlassen zu haben, wo die Familie am 19. Oktober 2006 angekommen sei. Noch an diesem Tag habe er in Polen um Asyl angesucht und sei dann in weiterer Folge gemeinsam mit Mutter und Schwestern in einem Flüchtlingslager untergebracht worden. Dort hätten sie sich bis zum 12. Dezember 2006 aufgehalten und seien dann mit dem Zug über die Slowakei unter Benutzung polnischer Reisepässe - diese seien von einer unbekannten Frau in Warschau übergeben worden - nach Österreich weitergereist. Die Einreise sei am 13. Dezember 2006 erfolgt, dann habe man die Pässe wie ausgemacht am Bahnhof einem unbekannten Mann übergeben und sei nach Traiskirchen weitergefahren. In Polen, wo er (Beschwerdeführer) "nichts Schlechtes erlebt" habe, habe er noch keine Entscheidung über seinen Asylantrag bekommen, falls eine Rückkehr nach Polen erfolgen müsste, könnte "meiner kranken Schwester nicht geholfen werden und wir müssten nach Russland zurück."

Der bereits vor seiner Einvernahme - offenkundig in Hinblick auf einen Eurodac-Treffer, der eine Asylantragstellung per 19. Oktober 2006 in Lublin ergeben hatte - festgenommene Beschwerdeführer wurde in der Folge der Bezirkshauptmannschaft Baden vorgeführt. Durch diese erfolgte eine neuerliche Einvernahme, bei der der Beschwerdeführer seine vorangegangenen Angaben im Wesentlichen wiederholte und auf die Frage, warum er sich dem Asylverfahren in Polen entzogen habe, antwortete, "Polen wollte meiner Schwester die med. Behandlung nicht ermöglichen, außerdem fühlte ich mich in Polen nicht so sicher".

Mit Bescheid vom 13. Dezember 2006 ordnete die Bezirkshauptmannschaft Baden gemäß § 76 Abs. 2 Z 4 und Abs. 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG iVm § 57 Abs. 1 AVG die Schubhaft zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung gemäß § 10 AsylG 2005 und zur Sicherung der Abschiebung an. Die dagegen erhobene Schubhaftbeschwerde, in der unter anderem darauf hingewiesen wurde, dass die infolge einer Polioinfektion schwer gehbehinderte Schwester des Beschwerdeführers insbesondere auch seiner Unterstützung bedürfe, wies die belangte Behörde gemäß § 83 FPG ab. Überdies stellte sie gemäß § 83 Abs. 4 FPG fest, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen. Diesen Bescheid begründete die belangte Behörde im Wesentlichen damit, dass die Fremdenpolizeibehörde die Schubhaft angeordnet habe, weil die im Zusammenhang mit der Asylantragstellung vorgenommenen Erhebungen einen Eurodac-Treffer ergeben hätten und daher wegen der Asylbeantragung in Polen davon auszugehen sei, dass der Antrag auf internationalen Schutz mangels Zuständigkeit Österreichs zurückgewiesen werden werde. Im Übrigen traf die belangte Behörde - soweit im Folgenden wesentlich - den Angaben des Beschwerdeführers weitgehend entsprechende Feststellungen und führte weiter aus, dass er mittellos und arbeitslos sei und dass er mit Ausnahme seiner Mutter und seinen Schwestern, die ebenfalls Asylanträge eingebracht hätten, im Inland keinerlei soziale Anknüpfungspunkte habe. Erhebungen hätten ergeben, dass durch das Bundesasylamt bereits Konsultationen mit Polen geführt worden seien und dass Polen am 18. Dezember 2006 der Übernahme des Beschwerdeführers zugestimmt habe. Laut Auskunft des Bundesasylamtes werde in nächster Zeit eine zurückweisende Entscheidung ergehen. Die Fremdenpolizeibehörde sei - so die belangte Behörde in weiterer Folge - zu Recht vom Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 76 Abs. 2 Z 4 FPG ausgegangen. Diese Auffassung werde durch die Einleitung des Ausweisungsverfahrens bestätigt (§ 76 Abs. 2 Z 2 FPG). Im Übrigen sei davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer bereits gezeigt habe, nicht gewillt zu sein, asylrechtliche Entscheidungen in einem europäischen Staat (Polen) zu respektieren, weil er sich bereits einem asylrechtlichen Verfahren entzogen habe. Er sei mittellos, habe sich dessen ungeachtet einen gefälschten Pass besorgt und sei illegal in die Slowakei und weiter wiederum illegal nach Österreich eingereist. Im Hinblick auf diese "offerierten Verhaltensweisen" sei "in einem erhöhten Grad" zu befürchten, dass der Beschwerdeführer wegen Kenntnis der bevorstehenden Abschiebung nach Polen sich mit seiner Familie durch neuerliches Untertauchen auch dem österreichischen Asylverfahren entziehen werde. Insoweit bestehe daher ein Sicherungsbedürfnis Österreichs und es scheine auch eine Alternative zur Schubhaft nicht angebracht, weil weder eine gesicherte soziale Integration im Inland noch sonstige Anknüpfungspunkte bestünden, auf Grund derer das freiwillige Abwarten einer negativen Asylentscheidung bzw. einer letztlich daraus resultierenden Abschiebung zu erwarten wäre.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof erwogen:

Gemäß § 76 Abs. 2 FPG kann die örtlich zuständige Fremdenpolizeibehörde über einen Asylwerber oder einen Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, Schubhaft zum Zwecke der Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung gemäß § 10 AsylG 2005 oder zur Sicherung der Abschiebung anordnen, wenn gegen ihn eine durchsetzbare - wenn auch nicht rechtskräftige - Ausweisung (§ 10 AsylG 2005) erlassen wurde (Z 1), gegen ihn nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 2005 ein Ausweisungsverfahren eingeleitet wurde (Z 2), gegen ihn vor Stellung des Antrages auf internationalen Schutz eine durchsetzbare Ausweisung (§§ 53 oder 54) oder ein durchsetzbares Aufenthaltsverbot (§ 60) verhängt worden ist (Z 3) oder auf Grund des Ergebnisses der Befragung, der Durchsuchung und der erkennungsdienstlichen Behandlung anzunehmen ist, dass der Antrag des Fremden auf internationalen Schutz mangels Zuständigkeit Österreichs zur Prüfung zurückgewiesen werden wird (Z 4).

Die gegenständliche Schubhaft wurde auf § 76 Abs. 2 Z 4 FPG gestützt. Die Heranziehung dieses - nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofes aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht zu beanstandenden (vgl. seine Erkenntnisse vom 24. Juni 2006, B 362/06, und vom 14. Juni 2007, G 14/07 und G 40/07) - Schubhafttatbestandes bei Verhängung der Schubhaft durch die Bezirkshauptmannschaft Baden scheint jedenfalls nicht unvertretbar, lag doch bezogen auf den Beschwerdeführer ein Eurodac-Treffer vor, was nach den ErläutRV zu § 39 Abs. 3 FPG (952 BlgNR 22. GP 92) - dort finden sich die Überlegungen, die auch der weitgehend inhaltsgleichen Regelung des § 76 Abs. 2 FPG zu Grunde liegen - regelmäßig dafür spricht, dass ein Fall des § 76 Abs. 2 Z 4 FPG vorliegt. Die belangte Behörde hat in diesem Zusammenhang allerdings ergänzend ausgeführt, die Auffassung, es seien die Tatbestandsvoraussetzungen der genannten Bestimmung erfüllt, sei durch die Einleitung des Ausweisungsverfahrens bestätigt worden. Geht man davon aus, dass es zu einer derartigen Einleitung des Ausweisungsverfahrens in Bezug auf den Beschwerdeführer gekommen ist (vgl. § 27 AsylG 2005; in den Verwaltungsakten finden sich diesbezüglich keine klaren Hinweise), so könnte indes ab diesem Zeitpunkt § 76 Abs. 2 Z 4 FPG nicht mehr Grundlage für die Schubhaft bilden. Es ist nämlich davon auszugehen, dass die Tatbestände der Z 1, Z 2 und Z 4 des § 76 Abs. 2 FPG insoweit aufeinander abgestimmt sind, als sie jeweils verschiedene Phasen des Asylverfahrens erfassen und diesen jeweils zugeordnet sind:

Ist das Ausweisungsverfahren noch gar nicht eingeleitet, so greift der Tatbestand der Z 4; dieser wird nach Einleitung des Ausweisungsverfahrens durch jenen der Z 2 abgelöst, an dessen Stelle wiederum - wenn es nach Einleitung des Ausweisungsverfahrens auch tatsächlich zu einer durchsetzbaren Ausweisung kommt - schließlich der Tatbestand der Z 1 tritt. Insgesamt ergibt sich damit ein der Chronologie des Asylverfahrensablaufes entsprechend gestuftes Schubhaftregime, was nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes eindeutig aus der Gesetzessystematik folgt und in den schon erwähnten ErläutRV zu § 39 Abs. 3 FPG (aaO. 91) eine Bestätigung findet. Dort heißt es (sprachliche Fehler im Original):

"Abs. 3 Z 1 ermöglicht eine Festnahme von Asylwerber, deren Asylantrag abgewiesen wurde und gegen die eine - wenn auch nicht rechtskräftige - so doch durchsetzbare Ausweisung ausgesprochen wurde. Dies kann etwa bei einer Zurückweisung des Asylantrages der Fall sein, wenn der Berufung gegen die Ausweisung keine aufschiebende Wirkung zuerkannt wurde (§§ 36 f AsylG 2005) oder bei einer abweisenden Entscheidung, wenn das Bundesasylamt ausgesprochen hat, dass der Berufung eine aufschiebende Wirkung nicht zukommt (§§ 36 und 38 f AsylG 2005). Die Festnahme und allenfalls die Schubhaft ist zu beenden, wenn der unabhängige Bundesasylsenat der Berufung die aufschiebende Wirkung zuerkennt.

..."

Sind Festnahme und Schubhaft zu beenden, wenn der unabhängige Bundesasylsenat der Berufung die aufschiebende Wirkung zuerkennt (vgl. allerdings § 80 Abs. 5 zweiter Satz FPG), so kann das nur bedeuten, dass in dieser Phase des Verfahrens, der die Z 1 des § 76 Abs. 2 FPG "zugeordnet" ist, ein Rückgriff auf die "vorgelagerten" Tatbestände der Z 2 und Z 4 nicht in Betracht kommt. Ebenso wenig kann dann aber - dem schon erwähnten "gestuften Regime" entsprechend - in der Phase ab (möglicher) Einleitung des Ausweisungsverfahrens eine Bezugnahme auf die Z 4 erfolgen, unabhängig davon, ob es tatsächlich zu einer derartigen Einleitung oder - aus welchen Gründen auch immer - mittlerweile zu einer Einstellung des Ausweisungsverfahrens gekommen ist oder nicht (vgl. auch die ErläutRV zu § 27 AsylG 2005, aa0. 49).

Für den vorliegenden Fall bedeutet das, dass ab Einleitung des Ausweisungsverfahrens die Schubhaft richtigerweise nur mehr auf § 76 Abs. 2 Z 2 FPG zu gründen gewesen wäre. Das hat die belangte Behörde, die die von ihr konstatierte Einleitung des Ausweisungsverfahrens nur als Beleg für die Richtigkeit der Annahme nach der Z 4, nicht aber als für die Zukunft tragenden Schubhaftgrund wertete, verkannt. Dadurch wurde der Beschwerdeführer - im Hinblick darauf, dass die Z 2 quasi als "Verdichtung" der Z 4 zu verstehen ist - jedenfalls in der vorliegenden Konstellation nicht in Rechten verletzt.

Dennoch erweist sich seine Beschwerde als berechtigt.

Sämtliche Schubhafttatbestände des § 76 Abs. 2 FPG sind final determiniert. Sie rechtfertigen die Verhängung von Schubhaft nur "zum Zwecke der Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung gemäß § 10 AsylG 2005 oder zur Sicherung der Abschiebung". Der Verfassungsgerichtshof hat darüber hinaus, zuletzt in seinem Erkenntnis vom 15. Juni 2007, B 1330/06 und B 1331/06, klargestellt, dass die Behörden in allen Fällen des § 76 Abs. 2 FPG unter Bedachtnahme auf das verfassungsrechtliche Gebot der Verhältnismäßigkeit verpflichtet sind, eine einzelfallbezogene Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Sicherung des Verfahrens und der Schonung der persönlichen Freiheit des Betroffenen vorzunehmen. Im Ergebnis bedeutet das, dass die Schubhaft auch dann, wenn sie auf einen der Tatbestände des § 76 Abs. 2 FPG gestützt werden soll, stets nur ultima ratio sein darf (vgl. dazu auch die ErläutRV zum Bundesverfassungsgesetz vom 29. November 1988 über den Schutz der persönlichen Freiheit, 134 BlgNR 17. GP 5).

Zum demnach ergänzend zu prüfenden Sicherungsbedürfnis hat die belangte Behörde ausgeführt, der Beschwerdeführer habe bereits gezeigt, dass er nicht gewillt sei, asylrechtliche Entscheidungen in einem europäischen Staat (Polen) zu respektieren. Außerdem sei er mittellos, habe sich einen gefälschten Pass besorgt und sei schlepperunterstützt in einen anderen EU-Mitgliedstaat (Slowakei) illegal und in der Folge wiederum illegal nach Österreich eingereist. Aus all diesen Gründen sei "in einem erhöhten Grad" zu befürchten, dass der Beschwerdeführer wegen Kenntnis der bevorstehenden Abschiebung nach Polen sich mit seiner Familie durch neuerliches Untertauchen auch dem österreichischen Asylverfahren entziehen werde.

Diesen Überlegungen ist zunächst zu entgegnen, dass bezüglich einer in Polen ergangenen asylrechtlichen Entscheidung keine Feststellungen getroffen wurden und dass in diese Richtung auch den Verwaltungsakten keine Anhaltspunkte zu entnehmen sind. Der Vorwurf, der Beschwerdeführer habe asylrechtliche Entscheidungen in Polen nicht respektiert, erweist sich damit als aktenwidrig. Ebenso verfehlt ist - bezogen auf den Zeitraum bis zu einer allfälligen Einleitung des Ausweisungsverfahrens nach § 27 AsylG 2005 und damit auf die zu Recht am Boden des § 76 Abs. 2 Z 4 FPG geprüfte Schubhaft - der Gedanke, der Beschwerdeführer werde sich wegen Kenntnis der bevorstehenden Abschiebung nach Polen mit seinen Familienangehörigen dem österreichischen Asylverfahren entziehen. Vor Einleitung des Ausweisungsverfahrens bzw. dem Erhalt einer dies zum Ausdruck bringenden Mitteilung (vgl. insbesondere § 27 Abs. 1 Z 1 iVm § 29 Abs. 3 Z 4 und 5 AsylG 2005) ist nämlich nicht ohne Weiteres ableitbar, dass der Beschwerdeführer, bei dem wohl kaum eine profunde Kenntnis der spezifischen asylrechtlichen Zusammenhänge unterstellt werden kann, von einer bevorstehenden Abschiebung Kenntnis gehabt habe.

Unabhängig von diesen Umständen lassen die Erwägungen der belangten Behörde aber wesentliche Gesichtspunkte außer Betracht, die im Sinn der gebotenen Einzelfallprüfung zu berücksichtigen gewesen wären. Dabei handelt es sich vor allem darum, dass der Beschwerdeführer unbestritten unmittelbar nach seiner Einreise nach Österreich einen Asylantrag stellte, dabei von sich aus mit den österreichischen Behörden in Kontakt trat und schließlich bei seiner ersten Einvernahme noch am Tag der Einreise offenkundig wahrheitsgemäße Angaben über seine Identität und den Ablauf seiner bisherigen Flucht (insbesondere über die mit dem Eurodac-Treffer in Einklang stehende vorangegangene Asylantragstellung in Polen am 19. Oktober 2006) erstattete. Angesichts dieser Umstände und vor dem Hintergrund der vom Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 28. September 2004, B 292/04, VfSlg. 17288, zum Ausdruck gebrachten Auffassung, der Umstand, dass ein Asylwerber bereits in einem anderen Land die Gewährung von Asyl beantragt habe, rechtfertigte für sich nicht den Schluss, dass er unrechtmäßig in einen anderen Schengenstaat weiterziehen und sich so dem Verfahren entziehen werde, ist nicht zu sehen, weshalb es konkret beim Beschwerdeführer der Verhängung der Schubhaft bedurfte. Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer als Asylwerber im Zulassungsverfahren gemäß § 2 Abs. 1 Grundversorgungsgesetz - Bund 2005 grundsätzlich Anspruch auf Versorgung in einer Betreuungseinrichtung des Bundes hätte und sich daher die - im bekämpften Bescheid nicht beantwortete - Frage stellt, weshalb er - wäre er nicht in Schubhaft genommen und wäre ihm diese Versorgung gewährt worden - diese Unterstützung aufgeben und in die "Anonymität" untertauchen hätte sollen (so sinngemäß das hg. Erkenntnis vom 28. Juni 2007, Zl. 2006/21/0091; vgl. auch das hg. Erkenntnis vom selben Tag, Zl. 2006/21/0051, in seinem die dortige Amtsbeschwerde abweisenden Teil).

Nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes kann es dem Gesetzgeber vor dem Hintergrund des oben angesprochenen verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes jedenfalls nicht zugesonnen werden, er sei davon ausgegangen, alle potenziellen "Dublin-Fälle" seien statt in Grundversorgung in Schubhaft zu nehmen. Von daher erweist sich auch der im bekämpften Bescheid angesprochene Gesichtspunkt, der Beschwerdeführer sei in Österreich nicht integriert, fallbezogen (wie regelmäßig bei Asylwerbern in der Situation des Beschwerdeführers; der Integration kommt primär im Anwendungsbereich des § 76 Abs. 1 FPG Bedeutung zu) als verfehlt. Eine Schubhaftnahme kann sich vielmehr nur dann als gerechtfertigt erweisen, wenn weitere Umstände vorliegen, die den betreffenden "Dublin-Fall" in einem besonderen Licht erscheinen und von daher - mit den Worten des bekämpften Bescheides - "in einem erhöhten Grad" ein Untertauchen des betreffenden Fremden befürchten lassen (zu einer derartigen Konstellation vgl. etwa das schon erwähnte hg. Erkenntnis vom 28. Juni 2007, Zl. 2006/21/0051, in seinem der dortigen Amtsbeschwerde stattgebenden Teil). Beim Beschwerdeführer ist das, wie gezeigt, gerade nicht zu erkennen, zumal bei ihm noch hinzukommt, dass er nicht allein, sondern mit Mutter und drei Schwestern nach Österreich eingereist ist, wobei nach seinem unwidersprochen gebliebenen Vorbringen eine der Schwestern infolge körperlicher Behinderung der Unterstützung und medizinischen Betreuung - weil diese in Polen gefehlt habe, sei die Weiterreise nach Österreich erfolgt - bedarf.

Nach dem Gesagten ist der bekämpfte Bescheid mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet, weshalb er gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 30. August 2007

Schlagworte

Besondere RechtsgebieteAuslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2Auslegung Gesetzeskonforme Auslegung von Verordnungen Verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen VwRallg3/3

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2007:2007210043.X00

Im RIS seit

11.10.2007

Zuletzt aktualisiert am

31.03.2011
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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