TE Vfgh Erkenntnis 2004/9/28 B292/04

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Veröffentlicht am 28.09.2004
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Index

41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß- und Melderecht, Fremdenrecht

Norm

EMRK Art5
FremdenG 1997 §61
PersFrSchG 1988 Art1 ff

Leitsatz

Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit durch Verhängung der Schubhaft über einen russischen Staatsangehörigen nach illegalem Grenzübertritt trotz der Behauptung des Beschwerdeführers um Asyl ansuchen zu wollen wegen Unterlassung der bei Freiheitsentziehungen gebotenen Verhältnismäßigkeitsprüfung

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit) verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.160,-

bestimmten Verfahrenskosten binnen 14 Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1.1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation, reiste am 11.1.2004 mit seiner Ehefrau und seinem Kind aus der Tschechischen Republik kommend unter Umgehung der Grenzkontrolle in das Bundesgebiet ein. Ca. einen Kilometer nach der tschechischen Grenze wurden die Genannten aufgegriffen; aus dem Aufgriffsbericht der Grenzkontrollstelle Gmünd geht hervor, dass sie beim Aufgriff unmissverständlich zu erkennen gaben, in Österreich um Asyl ansuchen zu wollen.

1.2. Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Gmünd vom 11.1.2004 wurde über den Beschwerdeführer zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung eines Aufenthaltsverbotes bis zum Eintritt seiner Durchsetzbarkeit und zur Sicherung der Zurückschiebung bzw. Abschiebung gemäß §61 Fremdengesetz 1997 (im Folgenden: FrG 1997) die Schubhaft verhängt. Die Begründung dieses Bescheides lautet:

"Sie wurden am 11.01.2004, gegen 05.20 Uhr, in 3950 Gmünd, […] - nach einem unbefugten Grenzübertritt von Tschechien nach Österreich im Bereich des Grenzsteines […] - angehalten. Sie sind mittellos. Die Bezirkshauptmannschaft Gmünd beabsichtigt daher, ein Aufenthaltsverbot zu erlassen.

Die Verhängung der Schubhaft war deshalb erforderlich, da erfahrungsgemäß Fremde, gegen die ein fremdenpolizeiliches Verfahren anhängig ist, trachten, sich diesem Verfahren zu entziehen.

Um das Verfahren zur Erlassung eines Aufenthaltsverbotes bis zum Eintritt seiner Durchsetzbarkeit und um Ihre Zurückschiebung bzw. Abschiebung zu sichern, war daher die Schubhaft zu verhängen."

Der Beschwerdeführer wurde in das Polizeianhaltezentrum der Bundespolizeidirektion Linz gebracht. Seine Ehefrau und sein Kind wurden von ihm getrennt und dem Bundesasylamt, Außenstelle Traiskirchen, vorgeführt.

1.3. Mit einem weiteren Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Gmünd vom 11.1.2004 wurde über den Beschwerdeführer ein bis zum 11.1.2009 gültiges Aufenthaltsverbot wegen Mittellosigkeit (§36 Abs1 iVm. Abs2 Z7 FrG 1997) verhängt und einer Berufung gegen diesen Bescheid die aufschiebende Wirkung aberkannt (§64 Abs2 AVG).

1.4. Die gegen die Anhaltung in Schubhaft gemäß §72 FrG 1997 erhobene Beschwerde wies der Unabhängige Verwaltungssenat im Land Niederösterreich (im Folgenden: UVS) mit Bescheid vom 20.1.2004 als unbegründet ab.

Die Notwendigkeit der Verhängung der Schubhaft wird in diesem Bescheid wie folgt begründet:

"Hinsichtlich der Notwendigkeit der Schubhaftnahme bzw. der weiteren Anhaltung ist festzustellen, daß aufgrund der bisher m[a]nifesten Sachlage nicht auszuschließen ist, daß sich der Beschwerdeführer auch in Österreich den Behörden entziehen und unrechtmäßig in einen anderen Schengenstaat weiterziehen werde. Dies erhellt vor allem auch aus der Tatsache, daß Österreich bereits das dritte Land ist, in dem der Genannte einen Asylantrag gestellt hat.

Letztlich sei festgestellt, daß zwar (wie dies die belangte Behörde in ihrer Stellungnahme zutreffend ausführt) die Schubhaftnahme und Anhaltung eines angeblichen Familienvaters mit den Zielen des Art8 MRK nicht unbedingt harmoniert. Art8 Abs2 MRK schließt jedoch, wie übrigens auch die Bestimmungen des FrG 1997 eine derartige Vorgangsweise unter bestimmten Voraussetzungen keinesfalls aus. Die Regelung des §61 FrG unterscheidet nicht zwischen alleinstehenden Männern und Familienvätern, was zu einer grundsätzlichen Gleichbehandlung im Schubhaftfall führen muß. Ebenso wenig schließt die Asylantragstellung die Schubhaftnahme aus (§21 Abs1 AsylG). Die Verfahrenspraxis und die daraus gewonnenen Erfahrungswerte zeigen, daß Asylanträge in vielen Fällen nur deswegen gestellt werden, um fremdenpolizeilichen Zwangsmaßnahmen zu entgehen. Bezüglich der Überlegungen, daß es sich um Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe handeln könnte, ist festzustellen, daß dies zum Zeitpunkt der Schubhaftnahme nicht zweifelsfrei verifiziert ist sondern erst im Rahmen des Asylverfahrens durch geeignete Beweisaufnahmen geklärt werden kann."

1.5. Am 12.2.2004 wurde dem Beschwerdeführer gemäß §19 Asylgesetz 1997 (im Folgenden: AsylG 1997) die vorläufige Aufenthaltsberechtigung bescheinigt, weshalb er am 13.2.2004 aus der Schubhaft entlassen wurde.

1.6. Mit Bescheid des Bundesasylamtes, Außenstelle Linz, vom 1.3.2004 wurde dem Beschwerdeführer Asyl gewährt (§7 AsylG 1997) und festgestellt, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt (§12 AsylG 1997).

1.7. Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Gmünd vom 14.5.2004 wurde das über den Beschwerdeführer verhängte Aufenthaltsverbot gemäß §44 FrG 1997 aufgehoben.

2. Gegen den die Schubhaftbeschwerde abweisenden Bescheid des UVS vom 20.1.2004 richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander, auf persönliche Freiheit sowie auf Achtung des Privat- und Familienlebens behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des Bescheides beantragt wird.

3. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Der Bescheid einer Verwaltungsbehörde - wie hier des UVS -, mit dem darüber entschieden wird, ob eine Festnahme oder Anhaltung einer Person rechtmäßig war oder ist, verletzt das durch Art1 ff. des BVG über den Schutz der persönlichen Freiheit und durch Art5 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit), wenn er gegen die verfassungsgesetzlich festgelegten Erfordernisse der Festnahme bzw. Anhaltung verstößt, wenn er in Anwendung eines verfassungswidrigen, insbesondere den genannten Verfassungsvorschriften widersprechenden Gesetzes, wenn er gesetzlos oder in denkunmöglicher Anwendung einer verfassungsrechtlich unbedenklichen Rechtsgrundlage ergangen ist; ein Fall, der nur dann vorläge, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hätte, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre (VfSlg. 13.708/1994).

2. Dies ist dem UVS im vorliegenden Fall vorzuwerfen:

2.1. Gemäß §61 Abs1 FrG 1997 können Fremde "festgenommen und angehalten werden (Schubhaft), sofern dies notwendig ist, um das Verfahren zur Erlassung eines Aufenthaltsverbotes oder einer Ausweisung bis zum Eintritt ihrer Durchsetzbarkeit oder um die Abschiebung, die Zurückschiebung oder die Durchbeförderung zu sichern."

Diese Bestimmung entspricht inhaltlich Art2 Abs1 Z7 des BVG über den Schutz der persönlichen Freiheit und ist dahingehend auszulegen, dass im Einzelfall eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der Schubhaft erforderlich ist

(VfSlg. 14.981/1997 zur wortgleichen Regelung des §41 Abs1 FrG 1992).

2.2. Wie oben (I.1.4.) dargestellt, hat der UVS die Erforderlichkeit der Schubhaft allein damit begründet, dass der Beschwerdeführer bereits in Polen und in der Tschechischen Republik Asyl beantragt habe, weshalb nicht auszuschließen sei, dass er sich "auch in Österreich den Behörden entziehen" werde, sowie damit, dass Asylanträge "in vielen Fällen nur deswegen gestellt werden, um fremdenpolizeilichen Zwangsmaßnahmen zu entgehen".

Bloß allgemeine Annahmen oder "Erfahrungswerte" genügen jedoch nicht, um die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit einer Freiheitsentziehung im Einzelfall zu begründen (vgl. bereits VfSlg. 14.981/1997). Der Umstand, dass ein Asylwerber bereits in einem anderen Land die Gewährung von Asyl beantragt hat (dem Akteninhalt zufolge hat der Beschwerdeführer den in Polen gestellten Asylantrag zurückgezogen), rechtfertigt für sich nicht den Schluss, dass er "unrechtmäßig in einen anderen Schengenstaat weiterziehen" und sich so dem Verfahren entziehen werde. Mit der konkreten Situation des Beschwerdeführers hat sich der UVS in seinem Bescheid aber nicht auseinandergesetzt. Der bekämpfte Bescheid lässt auch eine nachvollziehbare Begründung dahingehend vermissen, weshalb eine Trennung des Beschwerdeführers von seiner Familie erforderlich war.

2.3. Dadurch, dass der UVS die im Lichte des Art2 Abs1 Z7 des BVG über den Schutz der persönlichen Freiheit gebotene Verhältnismäßigkeitsprüfung unterlassen hat, hat er die Rechtslage grob verkannt und den Beschwerdeführer in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit) verletzt.

Der Bescheid war daher aufzuheben.

III. 1. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VfGG; in den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 360,- enthalten.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Asylrecht, Fremdenrecht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2004:B292.2004

Dokumentnummer

JFT_09959072_04B00292_2_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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