TE OGH 2021/6/22 10ObS21/21t

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 22.06.2021
beobachten
merken

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer, sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Christoph Wiesinger (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Wolfgang Kozak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A*****, vertreten durch Dr. Borns Rechtsanwalts GmbH & Co KG in Gänserndorf, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Pflegegeld und Berufsunfähigkeitspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 18. Dezember 2020, GZ 7 Rs 81/20p-56, mit dem infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 3. Juni 2020, GZ 17 Cgs 77/19s, 17 Cgs 78/19p-49, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

[1]       Mit Bescheid vom 12. 1. 2017 gewährte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt dem 1968 geborenen Kläger ab 1. 1. 2017 eine Berufsunfähigkeitspension. Mit Bescheid vom 19. 6. 2018 bemaß die Beklagte das Pflegegeld ab 1. 4. 2018 neu und erkannte dem Kläger ab diesem Zeitpunkt Pflegegeld der Stufe 3 zu.

[2]       Am 7. 1. 2019 unterzog sich der Kläger einer Nachuntersuchung durch einen Facharzt für Psychiatrie im Kompetenzzentrum der Beklagten. In der chefärztlichen Stellungnahme vom 9. 1. 2019 wurde festgehalten, dass eine Besserung des Gesundheitszustands ausgeschlossen sei, Berufsunfähigkeit auf Dauer bestehe und berufliche Maßnahmen der Rehabilitation nicht zweckmäßig und zumutbar seien.

[3]       Mit Schreiben vom 11. 1. 2019 lud die Beklagte den Kläger zu einer Untersuchung für den 25. 2. 2019 im Kompetenzzentrum Begutachtung ein. Am 25. 2. 2019 unterzog sich der Kläger dort einer weiteren Nachuntersuchung durch eine Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie.

[4]       Mit Schreiben vom 29. 3. 2019 lud die Beklagte den Kläger zu einer ärztlichen Untersuchung in das Kompetenzzentrum Begutachtung für den 20. 5. 2019 ein, weil der Kläger den Einladungen zur ärztlichen Untersuchung bisher nicht Folge geleistet habe. Mit Schreiben vom 9. 4. 2019 korrigierte die Beklagte ihr Schreiben vom 29. 3. 2019 und führte aus:

„Nachuntersuchung Berufsunfähigkeitspension und Pflegegeld

Sehr geehrter [Kläger]!

Zwecks Erstellung eines medizinischen Gutachtens ersuchen wir Sie dringend – in Ihrem eigenen Interesse – zur ärztlichen Untersuchung am 20. 5. 2019, um 8:15 Uhr, in das Kompetenzzentrum Begutachtung … zu kommen. …

Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass (gemäß § 99 ASVG und § 29 BPGG) Ihre Leistung ganz oder teilweise aberkannt werden kann, wenn Sie sich einer Nachuntersuchung entziehen.“

[5]       Der Kläger war am 20. 5. 2019 sowohl körperlich als auch psychisch in der Lage, mit einem (von der beklagten Partei angebotenen) Krankentransport im Kompetenzzentrum der Beklagten zu einer Nachuntersuchung zu erscheinen. Dies wäre auch mit keiner Gesundheitsgefährdung einhergegangen. Dies konnte der Kläger am 20. 5. 2019 auch erkennen; nachdem er aber nicht einsehen konnte, warum er innerhalb von fünf Monaten eine weitere Vorladung zwecks dritter Nachuntersuchung erhalten hatte, wollte er den Termin am 20. 5. 2019 auch gar nicht wahrnehmen.

[6]       Mit Bescheid vom 5. 7. 2019 entzog die Beklagte, gestützt auf §§ 9, 26 BPGG, dem Kläger mit Ablauf des Monats August 2019 das Pflegegeld. Obwohl auf die Folgen hingewiesen worden sei, sei eine Wiederbegutachtung mangels Mitwirkung des Klägers nicht möglich gewesen. Es müsse daher angenommen werden, dass eine wesentliche Besserung im Zustandsbild des Klägers eingetreten sei und kein Pflegebedarf mehr bestehe.

[7]       Mit dem weiteren Bescheid vom 5. 7. 2019 entzog die Beklagte, gestützt auf §§ 99, 271 und 366 ASVG, dem Kläger mit Ablauf des Monats Juli 2019 die Berufsunfähigkeitspension. Der Kläger sei ohne triftigen Grund trotz schriftlicher Aufforderung mit Hinweis auf die Folgen seines Verhaltens zu einer ärztlichen Untersuchung nicht erschienen.

[8]       Mit seinen gegen diese Bescheide erhobenen und vom Erstgericht verbundenen Klagen begehrt der Kläger, ihm Pflegegeld zumindest in Höhe der Stufe 3 über den Ablauf des Monats August 2019 hinaus (AZ 17 Cgs 77/19s des Erstgerichts) und eine Berufsunfähigkeitspension über den Ablauf des Monats Juli 2019 hinaus zuzuerkennen (AZ 17 Cgs 78/19p). Der Kläger habe die Ladungen zu den Nachuntersuchungen befolgt, die letzte Ladung für den 20. 5. 2019 habe er jedoch aus gesundheitlichen Gründen nicht wahrnehmen können. Er sei nicht transportfähig gewesen, habe sich entschuldigt und habe seine Bereitschaft erklärt, die Nachuntersuchung bei sich zu Hause durchführen zu lassen. Eine schuldhafte Verletzung seiner Mitwirkungspflicht liege nicht vor. Darüber hinaus sei die Anberaumung einer weiteren Nachuntersuchung so rasch nach der Untersuchung im Jänner 2019 sachlich nicht gerechtfertigt und – vor dem Hintergrund der Ergebnisse der ersten Nachuntersuchung vom 7. 1. 2019 – schikanös gewesen. Der Kläger erfülle nach wie vor die Voraussetzungen für die Gewährung von Pflegegeld und Berufsunfähigkeitspension.

[9]       Die Beklagte wandte ein, dass der Kläger ohne triftigen Grund die für die medizinische Beurteilung des Weiterbezugs von Pflegegeld und der Berufsunfähigkeitspension erforderliche Nachuntersuchung am 20. 5. 2019 nicht wahrgenommen habe. Er sei auf die Folgen der Versäumung hingewiesen worden. Da der Kläger eine für die Entscheidungsfindung unerlässliche Untersuchung verweigert habe, sei das Pflegegeld zu entziehen gewesen. Dasselbe gelte für die Berufsunfähigkeitspension; der Kläger habe seine Mitwirkungspflicht gemäß § 366 ASVG verletzt. Am 25. 2. 2019 sei nur eine Teilbegutachtung durchgeführt worden. Die Ladung für den 20. 5. 2019 sei für Begutachtungen in drei Fachbereichen – Psychiatrie und Neurologie, Innere Medizin und Orthopädie – vorgesehen gewesen, sie habe daher der korrekten Entscheidungsfindung gedient.

[10]           Das Erstgericht wies die Klagebegehren gegen beide Bescheide ab. Die Voraussetzungen des § 99 Abs 2 ASVG seien erfüllt. Lediglich das Vorliegen dieser Voraussetzungen sei durch das Gericht überprüfbar, das Gericht dürfe aber nicht eine Ermessensentscheidung anstelle des Sozialversicherungsträgers ausüben. Es obliege daher nicht dem Gericht zu beurteilen, ob die Anordnung einer neuerlichen Nachuntersuchung für den 20. 5. 2019 zulässig oder gar rechtswidrig gewesen sei. Einen Hinweis auf Willkür oder Schikane der Beklagten habe das Verfahren nicht ergeben. Auch die Voraussetzungen des § 26 BPGG seien erfüllt. Da der Kläger den Untersuchungstermin am 20. 5. 2019 zumindest leicht fahrlässig nicht wahrgenommen habe, sei die Entziehung der Leistungen zu Recht erfolgt.

[11]     Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es billigte die Rechtsansicht des Erstgerichts. Die Ermessensentscheidung der Beklagten, die sich im zulässigen Ermessensrahmen bewege, dürfe im gerichtlichen Verfahren nicht überprüft werden. Das Gericht dürfe auch nicht die Ermessensentscheidung anstelle der Beklagten treffen. Nach den Feststellungen des Erstgerichts sei die für den 20. 5. 2019 angeordnete Nachuntersuchung nicht unverhältnismäßig gewesen. Die Revision sei mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

[12]     Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers, mit der er die Stattgebung seiner verbundenen Klagen anstrebt.

[13]     In der ihr vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsbeantwortung beantragt die Beklagte die Zurück-, hilfsweise die Abweisung der Revision.

Rechtliche Beurteilung

[14]     Die Revision ist zulässig und im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags des Klägers auch berechtigt.

[15]     Der Kläger macht in der Revision zusammengefasst geltend, dass die Anordnung der Nachuntersuchung vom 20. 5. 2019 nicht verhältnismäßig und daher rechtswidrig gewesen sei. Es fehle Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, in welchen Zeitabständen und aufgrund welcher Anhaltspunkte Nachuntersuchungen angeordnet werden dürften. Fraglich sei, ob eine wesentliche Änderung des Gesundheitszustands Tatbestandsvoraussetzung sei. Es fehle Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zum Verhältnis von § 99 Abs 2 zu § 366 ASVG. Die Voraussetzungen des § 366 ASVG müssten auch im Fall einer Versagung nach § 99 Abs 2 ASVG gewahrt bleiben. Die Ermessensentscheidung der Beklagten, eine dritte Nachuntersuchung innerhalb weniger Monate anzuordnen, sei im Gerichtsverfahren überprüfbar. Den Kläger treffe kein Verschulden daran, zur Nachuntersuchung am 20. 5. 2019 nicht erschienen zu sein. Dazu ist auszuführen:

[16]     1. Entziehung von Leistungsansprüchen mangels Mitwirkung des Versicherten

[17]            1.1 Sind die Voraussetzungen einer Leistung nicht mehr vorhanden, ist sie zu entziehen (§ 99 Abs 1 ASVG). Nach § 99 Abs 2 ASVG kann die Leistung auf Zeit ganz oder teilweise entzogen werden, wenn sich der Anspruchsberechtigte nach Hinweis auf diese Folge einer Nachuntersuchung oder Beobachtung entzieht. Eine Entziehung („Versagung“) gemäß § 99 Abs 2 ASVG kommt daher in Betracht, wenn der Versicherungsträger den Leistungsberechtigten nachweislich zur Nachuntersuchung lädt und der Leistungsberechtigte die Ladung trotz ausdrücklichen Hinweises auf die sonstige Entziehung nicht befolgt (RS0083949). Es muss für den Leistungsberechtigten eindeutig klargestellt sein, dass die Nichtbefolgung der Ladung für ihn negative Folgen haben kann. Sanktioniert wird nur eine schuldhafte (zumindest leicht fahrlässige) Verletzung der Mitwirkungsobliegenheit (10 ObS 50/17a SSV-NF 31/30 mwH).

[18]           1.2 Vergleichbar ordnet § 26 Abs 1 BPGG unter der Überschrift „Mitwirkungspflicht“ an, dass die Leistung des Pflegegeldes abgelehnt, gemindert oder entzogen werden kann, wenn und solange der Anspruchsberechtigte oder Anspruchswerber ohne triftigen Grund einer schriftlichen Aufforderung zum Erscheinen zu einer ärztlichen Untersuchung nicht entspricht (Z 1) oder eine für die Entscheidungsfindung unerlässliche ärztliche Untersuchung verweigert (Z 2). Voraussetzung für eine bescheidmäßige Entziehung nach § 26 Abs 1 BPGG ist jedoch, dass der Anspruchsberechtigte oder Anspruchswerber auf die Folgen seines Verhaltens nachweislich aufmerksam gemacht worden ist (§ 26 Abs 2 BPGG).

[19]           § 26 BPGG hat § 366 ASVG zum Vorbild, der zwar gemäß § 24 BPGG auch im Verfahren in Pflegegeldsachen anwendbar ist, aber – mit Ausnahme seines Abs 3 – von § 26 BPGG verdrängt wird. Insbesondere ermöglicht § 26 BPGG in einem Fall der Entziehung eines bereits gewährten Pflegegeldes eine differenziertere Vorgangsweise, weil neben einer Entziehung auch eine Minderung des Pflegegeldes nach dieser Bestimmung möglich ist (Pfeil, BPGG, 234 ff; Fink, Die verfahrensrechtlichen Bestimmungen des Bundespflegegeldgesetzes, SozSi 1993, 352; Liebhart, Mitwirkungspflichten beim Pflegegeld, ÖZPR 2013/94, 138). Bei § 26 BPGG handelt es sich – wie bei § 366 ASVG – um eine verfahrensrechtliche Mitwirkungsobliegenheit (Pfeil, „Mitwirkungspflicht“ zur Vermeidung von Pflegebedürftigkeit, ZAS 2013/56, 335 [336]).

[20]           1.3 § 366 ASVG ist eine verfahrensrechtliche Bestimmung des Verfahrens in Leistungssachen (§§ 361 ff ASVG). Anspruchswerber und Anspruchsberechtigte sind gemäß § 366 Abs 1 ASVG verpflichtet, sich einer ärztlichen Untersuchung oder einer Beobachtung in einer Krankenanstalt zu unterziehen, die der zuständige Versicherungsträger anordnet, um das Vorliegen und den Grad von gesundheitlichen Schädigungen festzustellen, die Voraussetzung für den Anspruch auf eine Leistung sind.

[21]           Wird einer Anordnung des Versicherungsträgers im Sinne des § 366 Abs 1 ASVG nicht entsprochen, so kann er gemäß § 366 Abs 2 ASVG der Entscheidung über den Leistungsanspruch den Sachverhalt, soweit er festgestellt ist, zugrunde legen. Dies darf jedoch nur geschehen, wenn die Anordnung unter Androhung der Säumnisfolgen und mit Setzung einer angemessenen Frist vorgenommen wird. Die Anordnung ist aufzuheben, wenn die aufgeforderte Person glaubhaft macht, dass sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis ohne ihr Verschulden verhindert war, der Anordnung fristgerecht nachzukommen.

[22]           § 366 ASVG legt eine Nebenpflicht des Anspruchswerbers oder -berechtigten im Sinn einer Duldungspflicht fest, deren Erfüllung nicht unmittelbar erzwungen werden kann, deren Verletzung jedoch Auswirkungen auf die Leistungsgewährung nach sich ziehen kann (10 ObS 406/89 SSV-NF 4/99 = RS0085511).

[23]           2. Anordnung der ärztlichen Untersuchung als Ermessensentscheidung

[24]           2.1 Unstrittig sind die Bescheide der Beklagten, mit denen sie die dem Kläger bisher gewährten Berufsunfähigkeitspension und das ihm gewährte Pflegegeld entzogen (versagt) hat, im Rahmen der sukzessiven Kompetenz bei den Arbeits- und Sozialgerichten anfechtbar (§ 65 Abs 1 Z 1 ASGG). Die Beklagte traf jedoch bereits im Verfahren, das den angefochtenen Entscheidungen vorausgegangen ist, Ermessensentscheidungen über die Anordnung von ärztlichen Untersuchungen (arg: „kann … entzogen werden“, sowohl in § 99 Abs 2 ASVG, als auch in § 26 Abs 1 BPGG, aber auch § 366 Abs 2 Satz 1 ASVG), um die Grundlagen für die Bescheiderlassung zu schaffen. Die Anordnung einer Untersuchung (oder Beobachtung) ist – anders als die Anordnung von Anstaltspflege oder Wiederaufnahme einer Heilbehandlung nach § 367 Abs 1 Z 1 ASVG – kein Bescheid, sondern eine (nicht mit einem abgesonderten Rechtsmittel anfechtbare) Verfahrensanordnung (Kneihs in SV-Komm [236. Lfg] § 366 ASVG Rz 7).

[25]           Voraussetzung für ein Vorgehen des Versicherungsträgers gemäß § 99 Abs 2 ASVG, § 26 Abs 1 Z 1 und 2 BPGG ist jeweils das Sich-Entziehen bzw das Nichterscheinen oder Verweigern einer vom Versicherungsträger angeordneten ärztlichen Untersuchung (im Fall des § 99 Abs 2 ASVG auch: Beobachtung) durch den Anspruchsberechtigten. Die Regelungen für die Anordnung einer solchen Untersuchung (oder Beobachtung) enthalten § 366 ASVG und § 26 BPGG (bzw auch § 366 ASVG iVm § 24 BPGG). Die Anordnung einer ärztlichen Untersuchung nach den § 366 ASVG bzw § 26 BPGG liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Versicherungsträgers.

[26]           2.2 Bereits vor Inkrafttreten des ASGG vertrat das Oberlandesgericht Wien die Ansicht, dass die Entziehung gemäß § 99 Abs 2 ASGG im freien Ermessen des Versicherungsträgers liege, dessen Entscheidung jedoch im schiedsgerichtlichen Verfahren anfechtbar sei. Das Schiedsgericht habe sich allerdings nur mit der Frage zu befassen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Versagung auf Zeit vorliegen. Triftige Gründe, die den Anspruchsberechtigten daran hindern, sich einer Nachuntersuchung oder Beobachtung zu unterziehen, seien entsprechend zu berücksichtigen (OLG Wien 34 R 130/80 SSV 20/69).

[27]           2.3 Im Rahmen der mit dem ASGG geschaffenen sukzessiven Kompetenz der Arbeits- und Sozialgerichte sind Ermessensentscheidungen der Sozialversicherungsträger zumindest im Rahmen der Pflichtleistungen überprüfbar (10 ObS 90/91 SSV-NF 5/42; RS0084427). Das gilt auch für Pflichtaufgaben ohne individuellen Rechtsanspruch (RS0085543 [T3]; 10 ObS 258/02t SSV-NF 17/17; 10 ObS 138/10g SSV-NF 24/81 zu § 196 ASVG).

[28]           2.4 Die Gewährung einer Berufsunfähigkeits-pension ist eine Pflichtleistung der Pensionsversicherung (§ 222 Abs 1 Z 2 lit c ASVG). Das Pflegegeld ist bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen zu gewähren (§§ 3 ff BPGG). Wird eine Pflichtleistung ganz oder teilweise entzogen (im Fall des Pflegegeldes auch: gemindert), und ist Grundlage dafür die Verweigerung einer ärztlichen Untersuchung (§ 99 Abs 2 ASVG; § 26 Abs 1 Z 1 und 2 BPGG), so betrifft dies im Kern ebenfalls die (Nicht-)Gewährung dieser Pflichtleistung. Bereits daraus folgt, dass die Ausübung des Ermessens des Sozialversicherungsträgers bei Anordnung einer ärztlichen (Nach-)Untersuchung dann, wenn für den Fall ihrer Nichtbefolgung die Entziehung einer Pflichtleistung (oder des Pflegegeldes) nach den genannten Bestimmungen angedroht wird, (auch) diese Entscheidung durch die Arbeits- und Sozialgerichte überprüfbar sein muss, weil die Entscheidungen über die Anordnung einer ärztlichen (Nach-)Untersuchung und der Entziehung in diesen Fällen untrennbar miteinander verbunden sind.

[29]           Dies folgt auch aus verfassungsrechtlichen Überlegungen:

[30]     3. Anordnung einer ärztlichen Untersuchung durch den Versicherungsträger und Art 8 EMRK

[31]           3.1 Die Obliegenheit zur Duldung einer vom Sozialversicherungsträger angeordneten ärztlichen Untersuchung steht im Spannungsfeld zwischen den Interessen der Sozialversicherungsträger und damit den Interessen der anderen Versicherten einerseits und dem Recht des Einzelnen auf körperliche Integrität andererseits.

[32]           3.2 Art 8 Abs 1 EMRK schützt den Grundrechtsträger in seinem Recht, selbst über den eigenen Körper zu bestimmen (physische und psychische Integrität des Einzelnen). Er sichert damit (auch) die körperliche Unversehrtheit (Grabenwarter/Pabel, EMRK7 § 22 Rz 7 [297]). Ein zwangsweiser medizinischer Eingriff, auch wenn er von geringer Bedeutung ist, stellt einen Eingriff in das Recht auf Privatsphäre dar (EMRK Bsw 8278/78, X/Österreich, EvBl 1980/161, Rz 3: gerichtliche Anordnung eines Bluttests in einem Abstammungsverfahren).

[33]           3.3 Hat ein Staat ein System der sozialen Sicherheit geschaffen, so ist er zwar nach der Rechtsprechung des EGMR berechtigt, die Bedingungen festzusetzen, die eine Person erfüllen muss, um in den Genuss von Leistungen dieses Systems zu gelangen (EGMR Bsw 15906/08, Schuitemaker/Niederlande, zum Arbeitslosenversicherungsrecht). Dazu zählt auch die Mitwirkung an medizinischen Kontrollen bzw deren Duldung. Allerdings sind – den Leistungsanspruch hindernde – medizinische Eingriffe jeglicher Art nur unter den in Art 8 Abs 2 EMRK genannten Voraussetzungen zulässig, sofern sie nicht mit Zustimmung der betroffenen Person erfolgen. Ohne Einwilligung muss der Eingriff gemäß Art 8 Abs 2 EMRK gesetzlich vorgesehen und „in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“ notwendig sein, also einem dieser Ziele dienen (EGMR Bsw 32352/02, Schmidt/Deutschland: Anordnung und Entnahme einer Blut- und Speichelprobe; Schrattbauer in Pfeil, AlV-Komm [57. Lfg] § 8 Rz 35).

[34]           3.4 Der Oberste Gerichtshof geht davon aus, dass die Feststellung des (weiteren) Vorliegens von Berufsunfähigkeit bzw Pflegebedürftigkeit im Zusammenhang mit den Voraussetzungen für die Gewährung von Geldleistungen aus der Pensionsversicherung und nach dem BPGG ein unter dem Gesichtspunkt des Art 8 Abs 2 EMRK zulässiges Ziel ist, welches mit der im Gesetz normierten (aber nicht erzwingbaren) Obliegenheit des Leistungsbeziehers, sich einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, verfolgt werden darf (vgl zu § 8 Abs 2 AlVG VwGH 2003/08/0271; 2013/08/0184). Dies stellt der Revisionswerber auch nicht in Frage.

[35]           Wie dargestellt legen sowohl § 366 ASVG als auch § 26 Abs 1 Z 1 und 2 BPGG Nebenpflichten im Sinn von Mitwirkungs- und Duldungsobliegenheiten fest. Diese Pflichten treffen nicht nur Anspruchswerber, sondern – ausdrücklich – auch bereits anspruchsberechtigte Personen. Auch wenn weder der Wortlaut des § 366 ASVG noch jener des § 26 BPGG eine zwangsweise Durchsetzung der Obliegenheit zur Untersuchung vorsieht, kann die Verletzung dieser Obliegenheit – wie gerade auch der vorliegende Fall zeigt – erhebliche Auswirkungen auf die Leistungsgewährung nach sich ziehen. Daran ändert der Umstand, dass die Versagung der Leistung im Sinne des § 99 Abs 2 ASVG nur so lange zulässig ist, wie der Leistungsberechtigte in seinem Fehlverhalten verharrt (RS0083960) nichts. Wie erwähnt sind diese Bestimmungen im Licht des Art 8 EMRK zu interpretieren (Auer-Mayer, Mitverantwortung in der Sozialversicherung [2018] 168 f).

[36]           3.5 Der vom Revisionswerber ins Treffen geführte Art 3 GRC sichert das Recht des Einzelnen auf körperliche und geistige Unversehrtheit sogar ausdrücklich. Einer näheren Auseinandersetzung mit der Frage, ob in einem Fall wie dem vorliegenden der Anwendungsbereich der GRC eröffnet ist (Art 52 GRC), bedarf es jedoch im Hinblick auf den durch Art 8 EMRK bereits verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundrechtsschutz im vorliegenden Fall nicht. Denn aktuell ist eine von der Rechtsprechung des EGMR abweichende Auslegung der Grundrechte durch den Gerichtshof der Europäischen Union im Kontext „Mitverantwortung“ nicht erkennbar (Auer-Mayer, Mitverantwortung 216) und wird auch vom Revisionswerber nicht ins Treffen geführt.

[37]     4. Das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs vom 11. 12. 2020, G 264/2019

[38]           4.1 Nach bisher ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ist im Fall einer Rückersatz- oder Kostenersatzpflicht des Versicherten die Möglichkeit der Ratengewährung (§ 107 Abs 3 Z 2 ASVG; § 76 Abs 3 Z 2 GSVG) durch § 89 Abs 4 ASGG ausdrücklich auch den Arbeits- und Sozialgerichten eingeräumt. Der Oberste Gerichtshof stand jedoch bisher auf dem Standpunkt, dass es der Gesetzgeber des ASGG unterlassen hat, den Gerichten auch die Kompetenz für eine gänzliche oder teilweise Nachsicht der Rückzahlungspflicht (§ 107 Abs 3 Z 1 ASVG; § 76 Abs 3 Z 1 GSVG) zu übertragen (RS0085706). Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 11. 12. 2020, G 264/2019 (JAS 2021, 195 [M. K. Greifeneder]), die entsprechende Formulierung des § 89 Abs 4 ASGG als verfassungswidrig aufgehoben, weil die Bestimmung dem Rechtsstaatsprinzip widerspricht (die Aufhebung tritt mit 31. 12. 2021 in Kraft).

[39]           4.2 Der Verfassungsgerichtshof hält fest, dass das Rechtsstaatsprinzip verlangt, dass dem Staat zurechenbare Akte in rechtsstaatlicher Weise überprüfbar sind (Rz 38). Diesen Anforderungen trage Art 130 Abs 1 Z 1 B-VG Rechnung, indem er gegen Bescheide von Verwaltungsbehörden die Beschwerde an die Verwaltungsgerichte eröffnet, sofern keine Ausnahme nach Art 130 Abs 5 B-VG vorliegt, etwa weil die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte vorgesehen ist, zu denen auch jene Angelegenheiten zählen, die der einfache Gesetzgeber der sukzessiven Kompetenz der Gerichte überantwortet. Zu den Leistungssachen im Sinne des § 354 Z 2 ASVG zähle die „Feststellung der Verpflichtung zum Rückersatz einer zu Unrecht empfangenen Versicherungsleistung“. Angesichts der inneren Verbundenheit dieser Angelegenheiten müsse auch der Verzicht auf diese Rückforderung unter § 354 Z 2 ASVG – und nicht unter die Verwaltungssachen gemäß § 355 ASVG – fallen.

[40]           4.3 In diesem Zusammenhang führt der Verfassungsgerichtshof aus (Rz 40):

„Im Hinblick auf diese Grundsatzentscheidung des ASVG, die für sich genommen keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet, setzt die Verfassungsmäßigkeit der Ausgestaltung der sukzessiven Kompetenz der ordentlichen Gerichte in Rückforderungsangelegenheiten voraus, dass den ordentlichen Gerichten im Rahmen ihrer Entscheidung über Rückforderungsansprüche auch die Kognition über den gänzlichen oder teilweisen Verzicht nach § 76 Abs 3 Z 1 GSVG offensteht.“

[41]           Diesen Anforderungen genüge § 89 Abs 4 ASGG nicht, denn er belaste den vor den Arbeits- und Sozialgerichten Rechtsschutzsuchenden in rechtsstaatswidriger Weise einseitig mit dem Rechtsschutzrisiko, weil dem Arbeits- und Sozialgericht nur noch eine vollumfängliche Auferlegung der Rückersatzpflicht oder die vollumfängliche Verneinung dieser eingeräumt sei, ohne die Rückersatzpflicht bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 76 Abs 3 Z 1 GSVG in einer dem Vorgehen des Sozialversicherungsträgers entsprechenden Weise mindern zu können.

[42]           4.4 Auch daraus ist der allgemeine Schluss zu ziehen, dass ein vom Sozialversicherungsträger im Verwaltungsverfahren ausübbares (und ausgeübtes) Ermessen im Rahmen der sukzessiven Kompetenz vom Arbeits- und Sozialgericht darauf überprüft werden kann, ob das Ermessen im Sinne des Gesetzes ausgeübt wurde.

[43]           4.5 Zwischenergebnis: Hängt die gänzliche oder teilweise Entziehung oder Minderung einer Leistung (hier: Berufsunfähigkeitspension bzw Pflegegeld) von der behaupteten Verletzung einer Obliegenheit des Anspruchsberechtigten zur Teilnahme an einer vom Versicherungsträger angeordneten ärztlichen Untersuchung ab (§ 99 Abs 2 ASVG; § 26 Abs 1 Z 1 und 2 sowie Abs 2 BPGG), und bekämpft der Anspruchsberechtigte die Entziehungsentscheidung in zulässiger Weise mit Klage vor dem Arbeits- und Sozialgericht, so ist die (Vor-)Frage, ob der Versicherungsträger bei der Anordnung dieser ärztlichen Untersuchung sein Ermessen pflichtgemäß ausgeübt hat, der gerichtlichen Kontrolle im Rahmen der sukzessiven Kompetenz der Arbeits- und Sozialgerichte unterworfen.

[44]     5. Anwendung auf den vorliegenden Fall

[45]           5.1 Die hier – auch im Sinne des Art 8 Abs 2 EMRK – zu beurteilende Nachuntersuchung vom 20. 5. 2019 hat ihre gesetzlichen Grundlagen in § 366 Abs 1 und 2 ASVG und § 26 Abs 1 Z 1 und 2 und Abs 2 BPGG. Die formalen Voraussetzungen dieser Bestimmungen – schriftliche Aufforderung, Hinweis auf die drohenden Folgen bei Nichterscheinen – sind nach den Feststellungen in Bezug auf diese Nachuntersuchung erfüllt, dies ist auch nicht strittig.

[46]           5.2 Eine vom Sozialversicherungsträger nach diesen Bestimmungen angeordnete ärztliche Untersuchung muss im Sinne des Art 8 EMRK darüber hinaus verhältnismäßig, also geeignet, erforderlich und adäquat sein (VwGH 2003/08/0271; Kneihs in SV-Komm [236. Lfg] § 366 ASVG Rz 1, 9; Schrattbauer, AlV-Komm, § 8 AlVG Rz 35; ausführlich Auer-Mayer, Mitverantwortung 171 ff).

[47]           5.3 Diese Kriterien werden auch in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Zumutbarkeit von medizinischen Behandlungen im Rahmen der Beurteilung von Behandlungsobliegenheiten herangezogen. Denn das Kriterium der Zumutbarkeit dient im Sozialversicherungsrecht dazu, im Einzelfall die Grenze zu ziehen, für welche Risiken auf der einen Seite die Solidargemeinschaft und welche Risiken auf der anderen Seite der Versicherte selbst aufzukommen hat (Neumayr, Zumutbare Beschäftigung im Arbeitslosen- und Pensionsversicherungsrecht, DRdA 2005, 471).

[48]           5.4 Voraussetzung für eine leistungsschädliche Verletzung der Mitwirkungspflicht ist, dass diese auf einem schuldhaften, also zumindest leicht fahrlässigen Verhalten des Versicherten beruht (Auer-Mayer, Mitverschulden 402 FN 1835 mzwH). Ob ein Verhalten dieser Qualität vorliegt, ist nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen. Dabei ist zum einen auf objektive Zumutbarkeitskriterien (auf die mit der Maßnahme verbundenen Gefahren, die Erfolgsaussichten, die Folgen unter Berücksichtigung erforderlicher Nach- oder Folgebehandlungen und die damit verbundenen Schmerzen bzw Beeinträchtigungen) abzustellen (RS0084353). Diese Beurteilung hat nicht generell, sondern immer individuell für den oder die Betroffene zu erfolgen (RS0084353 [T12]).

[49]           Neben diesen objektiven Zumutbarkeitskriterien sind aber auch subjektive Zumutbarkeitskriterien (wie körperliche und seelische Eigenschaften, familiäre und wirtschaftliche Verhältnisse) zu beachten. So besteht eine Mitwirkungsobliegenheit insbesondere dann nicht, wenn die Erfüllung dem Betroffenen aus einem wichtigen Grund nicht zugemutet werden kann. Unter einem wichtigen Grund sind die die Willensbildung bestimmenden Umstände zu verstehen, die die Weigerung entschuldigen und sie als berechtigt erscheinen lassen (RS0084353 [T16]; 10 ObS 4/16k, SSV-NF 30/33 mwN).

[50]           5.5 Die schuldhafte Verletzung der Mitwirkungspflicht ist vom beklagten Pensionsversicherungsträger zu behaupten und zu beweisen (RS0084370 [T4]).

[51]           5.6 Im konkreten Fall erweist sich das Verfahren als ergänzungsbedürftig, weil ausreichende Feststellungen fehlen, um beurteilen zu können, ob die von der Beklagten für den 20. 5. 2019 angeordnete (weitere) Nachuntersuchung verhältnismäßig im dargestellten Sinn („geeignet, erforderlich und adäquat“) war.

[52]           5.7 In Bezug auf eine vom Sozialversicherungsträger gemäß § 366 ASVG bzw § 26 Abs 1 Z 1 und 2 und Abs 2 BPGG angeordnete ärztliche Untersuchung ist in einem ersten Schritt zu prüfen, ob diese tatsächlich geeignet ist, das in § 366 Abs 1 ASVG angesprochene Ziel („… um das Vorliegen und den Grad von gesundheitlichen Schädigungen festzustellen, die Voraussetzung für den Anspruch auf eine Leistung sind“) zu erreichen, um auf diese Weise letztlich das durch die Sozialversicherung zu tragende Risiko zu verringern (10 ObS 213/00x SSV-NF 14/100 ua; Auer-Mayer, Mitverantwortung 171 FN 825 mwH). Dies muss – schon wegen Art 8 EMRK – auch im Anwendungsbereich des § 99 Abs 2 ASVG ebenfalls gelten (Auer-Mayer, Mitverantwortung 402). Auf eine „wesentliche Änderung“ des Gesundheitszustands kommt es entgegen den Ausführungen des Revisionswerbers im Anwendungsbereich des § 366 Abs 1 und 2 ASVG iVm § 99 Abs 2 ASVG sowie des § 26 BPGG schon nach dem Wortlaut dieser Bestimmungen nicht an. Wie bereits ausgeführt droht die Sanktion der Entziehung nur so lange, wie der Versicherte einer Untersuchungsobliegenheit nicht nachkommt (Auer-Mayer, Mitverantwortung 404 mwH zu § 99 Abs 2 ASVG; ausdrücklich nach dem Wortlaut des § 26 Abs 1 BPGG).

[53]           5.8 Weiters wird zu beurteilen sein, ob die für den 20. 5. 2019 angeordnete (weitere) Nachuntersuchung im konkreten Fall erforderlich war. Von mehreren geeigneten Maßnahmen zur Feststellung des Gesundheitszustands (und dessen allfälliger Besserung) ist die gelindeste Methode zu wählen.

[54]           5.9 Unter konkreter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls wird schließlich zu prüfen sein, ob die angeordnete Untersuchung im Rahmen einer Abwägung der Interessen des Versicherten und der Versichertengemeinschaft als adäquat anzusehen ist. Dabei geht es letztlich um die Prüfung der Zumutbarkeit der angeordneten Maßnahme für den Versicherten (siehe oben 5.4; 10 ObS 58/11v SSV-NF 25/57; Auer-Mayer, Mitverantwortung, 173; Kneihs in SV-Komm § 366 ASVG Rz 9).

[55]           5.10 Im konkreten Fall wird bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit auch zu berücksichtigen sein, dass die Untersuchung vom 20. 5. 2019 die dritte innerhalb eines halben Jahres anberaumte Nachuntersuchung war. Der Kläger hat ihre Erforderlichkeit vor diesem Hintergrund bestritten. Die Beklagte hat allerdings geltend gemacht, dass die Nachuntersuchung vom 20. 5. 2019 auch der Erstellung weiterer Gutachten aus anderen Fachgebieten als der Psychiatrie dienen sollte (vgl etwa die Ladungen Blg ./5 und ./11, in denen auch Untersuchungen aus den Fachgebieten Orthopädie, orthopädische Chirurgie und Innere Medizin genannt sind). Dieses Vorbringen hat der Kläger bestritten. Er weist auch in der Revision darauf hin, dass die Beklagte die Entscheidung aufgrund bereits vorhandener Daten (im Sinn eines nach Art 8 EMRK gebotenen „gelinderen“ Mittels im Verhältnis zur angeordneten Untersuchung; vgl Auer-Mayer, Mitverantwortung 173) treffen hätte können. Feststellungen dazu fehlen.

[56]           6. Sollte sich ergeben, dass die für den 20. 5. 2019 angeordnete Nachuntersuchung objektiv geeignet, erforderlich und adäquat war, so ist dem Kläger entgegenzuhalten, dass er die Nachuntersuchung nach den den Obersten Gerichtshof bindenden Feststellungen nicht wahrnehmen wollte, obwohl er dazu körperlich in der Lage gewesen wäre. Soweit die Revision in diesem Zusammenhang geltend macht, den Kläger treffe kein Verschulden daran, diese Untersuchung nicht wahrgenommen zu haben, geht sie nicht von den Feststellungen aus.

[57]           7. Der Revision ist daher Folge zu geben und die Sozialrechtssache zur ergänzenden Erörterung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

[58]     Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO iVm § 2 ASGG.

Textnummer

E132485

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:010OBS00021.21T.0622.000

Im RIS seit

24.08.2021

Zuletzt aktualisiert am

03.01.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten