TE OGH 2021/4/29 2Ob65/20b

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Veröffentlicht am 29.04.2021
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden und den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé sowie die Hofräte Mag. Pertmayr und MMag. Sloboda als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei V***** P*****, vertreten durch Rechtsanwalt Weissborn & Wojnar Kommandit-Partnerschaft in Wien, gegen die beklagten Parteien 1. D***** F*****, und 2. H***** AG, *****, beide vertreten durch Dr. Sebastian Lenz, Rechtsanwalt in Wien, wegen 30.015,30 EUR sA, Rente (Streitwert: 56.671,08 EUR) und Feststellung (Streitwert: 15.000 EUR), über die außerordentliche Revision der beklagten Parteien gegen das Teilzwischenurteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 12. März 2020, GZ 11 R 17/20f-26, womit infolge Berufung der beklagten Parteien das Teilzwischenurteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 28. November 2019, GZ 3 Cg 83/18z-19, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben. Die Teilzwischenurteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird insoweit zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die auf diesen Teil des Streitgegenstands entfallenden Kosten des Rechtsmittelverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

[1]            Am 5. 1. 2017 ereignete sich gegen 18:50 Uhr in Wien auf der Laaer-Berg-Straße bei Dunkelheit ein Verkehrsunfall, an dem der Ehemann der Klägerin als Fußgänger sowie der Erstbeklagte als Lenker und Halter eines bei der zweitbeklagten Partei haftpflichtversicherten PKW beteiligt waren.

[2]            Im Bereich der Unfallstelle trennt eine doppelte Sperrlinie die zwei stadteinwärts führenden von den drei stadtauswärts führenden Fahrstreifen. Die Gesamtbreite der Fahrbahn beträgt 17,5 m. Davon entfallen 7 m (je 3,5 m pro Fahrstreifen) auf die Fahrtrichtung des Erstbeklagten stadteinwärts, 10 m auf die entgegengesetzte Fahrtrichtung und ein halber Meter auf die doppelte Sperrlinie mit schmaler Sperrfläche dazwischen. Im Unfallbereich gilt eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 50 km/h.

[3]            Als der schwarz gekleidete Ehemann der Klägerin – aus Sicht des Erstbeklagten von links kommend – die Fahrbahn überquerte, näherte sich das Beklagtenfahrzeug der Unfallstelle auf dem äußerst rechten Fahrstreifen mit einer Geschwindigkeit von zumindest 55 km/h; eine höhere Geschwindigkeit konnte nicht festgestellt werden. Der Ehemann der Klägerin konnte das herannahende Beklagtenfahrzeug sehen und zwar wesentlich besser als der Erstbeklagte ihn. Ob er erst unmittelbar vor dem Beklagtenfahrzeug oder bereits vorher zu laufen begonnen hatte und ob er den kürzesten Weg zur Querung der Fahrbahn verwendete, war nicht feststellbar. Der Erstbeklagte bemerkte den zu diesem Zeitpunkt laufenden Fußgänger erst unmittelbar (0,2 s) vor der Kollision, sodass sein Bremsmanöver nicht mehr wirksam wurde. Bei gehöriger Aufmerksamkeit hätte er den Fußgänger jedenfalls ab dem Zeitpunkt wahrnehmen können, in dem dieser sich auf Höhe der Sperrfläche befand. Von dort hatte der Fußgänger bis zum Erreichen der Kollisionsposition eine Strecke von 5,5 m zurückgelegt, wofür er mindestens 1,6 s benötigte. Bei prompter Reaktion hätte der Erstbeklagte die Geschwindigkeit so verringern können, dass der Fußgänger den Fahrraum des Beklagtenfahrzeugs noch verlassen hätte können. Durch die Kollision erlitt der Ehemann der Klägerin tödliche Verletzungen.

[4]            Die Klägerin begehrte mit der am 27. 12. 2018 eingebrachten Klage – neben der im Revisionsverfahren nicht mehr relevanten Feststellung der Haftung für künftige Schäden – die Zahlung von 30.105,30 EUR sowie eine monatliche Unterhaltsrente von 360,24 EUR von 1. 1. 2019 bis 31. 1. 2020, von 667,06 EUR von 1. 2. 2020 bis 31. 1. 2023 und von 777,05 EUR von 1. 2. 2023 bis 30. 6. 2039. Den Erstbeklagten treffe ein Verschulden am Zustandekommen des Verkehrsunfalls, weil er die höchstzulässige Geschwindigkeit um mehr als 7 km/h überschritten habe und ihm eine Reaktionsverspätung von rund einer Sekunde vorzuwerfen sei. Zum Zahlungsbegehren brachte die Klägerin vor, an Kosten ihrer rechtsfreundlichen Vertretung im vorangegangenen Strafverfahren gegen den Erstbeklagten seien 595,80 EUR angefallen. Sie habe ferner die Begräbniskosten von 14.329,06 EUR getragen. Für den Verstorbenen werde ein Schmerzengeld von 500 EUR geltend gemacht. Aufgrund des erlittenen Schockschadens und der späteren Trauer habe die Klägerin einen Schmerzengeldanspruch von 5.000 EUR. Aus entgangenem Unterhalt stünden ihr bis zur Klageerhebung 26.255,32 EUR zu. Ab diesem Zeitpunkt und in Zukunft habe sie aus diesem Titel Anspruch auf eine Rente von monatlich 1.016,91 EUR von 1. 1. 2019 bis 31. 1. 2020, von monatlich 1.426 EUR von 1. 2. 2020 bis 31. 1. 2023 und von monatlich 1.572,65 EUR von 1. 2. 2023 bis 30. 6. 2039. Aus prozessualer Vorsicht werde ein Mitverschulden des verstorbenen Ehemannes von einem Viertel eingeräumt, sodass die Schadenspositionen in Entsprechung dieser Quote geltend gemacht würden.

[5]            Die beklagten Parteien wendeten ein, der Verstorbene habe die Fahrbahn trotz des herannahenden Beklagtenfahrzeugs betreten und die Fahrbahn nicht in angemessener Eile und nicht auf dem kürzesten Weg überquert, sodass ihn das überwiegende Verschulden am Zustandekommen des Verkehrsunfalls treffe. Ein Mitverschulden des Erstbeklagten von einem Viertel werde anerkannt. Das Klagebegehren auf Ersatz des entgangenen Unterhalts sei unschlüssig. Es sei nicht nachvollziehbar, welcher Betrag wofür und für welchen Zeitraum geltend gemacht werde. Die vom Erstbeklagten getragenen Kosten der Behebung des Fahrzeugschadens, pauschale Unkosten, Schmerzengeld aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung des Erstbeklagten und eine den beklagten Parteien zum Inkasso abgetretene Schmerzengeldforderung der beim Unfall verletzten Beifahrerin, insgesamt 4.700 EUR, würden der Klagsforderung compensando entgegengehalten.

[6]            Das Erstgericht wies das Klagebegehren hinsichtlich der Kosten des Strafverfahrens wegen Unzulässigkeit des Rechtswegs zurück. Es sprach mit Teil- und Teilzwischenurteil von den der Höhe nach außer Streit gestellten Schadenersatzbeträgen (Schmerzengeld und [teilweise] Begräbniskosten) 7.347,29 EUR sA zu, erkannte das Begehren auf Ersatz des bis zur Klagseinbringung entgangenen Unterhalts mit einem Betrag von 26.256,32 EUR (richtig: 26.255,32 EUR) und das Rentenbegehren dem Grunde nach zu zwei Dritteln als zu Recht bestehend und wies das Feststellungsbegehren zur Gänze ab. Es war der Ansicht, dem Erstbeklagten sei eine geringfügige Überschreitung der Geschwindigkeit und eine nicht zeitgerechte Reaktion ab Erkennbarkeit des Fußgängers vorzuwerfen, den wiederum aufgrund des versuchten Querens der Fahrbahn trotz des herannahenden, gut sichtbaren, bevorrangten Fahrzeugs ein Mitverschulden treffe. Es sei von einem gleichteiligen Verschulden auszugehen, weshalb die der Höhe nach außer Streit gestellten Beträge zur Hälfte zuzusprechen seien. Da der entgangene Unterhalt nur zu 75 % eingeklagt worden sei, bestehe dieser Anspruch dem Grunde nach zu zwei Dritteln zu Recht.

[7]            Das Berufungsgericht gab der dagegen erhobenen Berufung der Klägerin nicht Folge. Der Berufung der beklagten Parteien gab es hingegen teilweise Folge und hob das Teilurteil im Umfang der Stattgebung des Zahlungsbegehrens von 7.347,29 EUR sA zur Verfahrensergänzung auf. Im Übrigen bestätigte es das Teilzwischenurteil des Erstgerichts und sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei. Das vom Erstgericht erwogene gleichteilige Verschulden bedürfe keiner Korrektur. Der Erstbeklagte habe gegen die aus § 20 Abs 1 StVO abzuleitenden Verpflichtung, während der Fahrt die vor ihm liegende Fahrbahn und ihre Ränder im Auge zu behalten, verstoßen, wodurch er sich selbst außer Stande gesetzt habe, auf das Fehlverhalten des Fußgängers rechtzeitig und zweckentsprechend zu reagieren. Zudem sei ihm eine Geschwindigkeitsübertretung anzulasten. Der Fußgänger habe hingegen die Fahrbahn überraschend betreten und sei seiner Verpflichtung nach § 76 StVO, sich vor Betreten der Fahrbahn zu vergewissern, dass er andere Straßenbenützer nicht gefährde, nicht in ausreichender Weise nachgekommen. Die Klägerin habe die eingeklagten Beträge unter Zugrundelegung der von der Rechtsprechung entwickelten Berechnungsmethode ausreichend konkret beziffert.

[8]            Gegen das Teilzwischenurteil über ein Zahlungsbegehren von 26.256,32 EUR und das Rentenbegehren richtet sich die außerordentliche Revision der beklagten Parteien mit dem Antrag, das angefochtene Teilzwischenurteil dahin abzuändern, dass das Klagebegehren insoweit abgewiesen werde; in eventu stellen sie einen Aufhebungsantrag.

[9]       Die Klägerin beantragt in der ihr vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, in eventu ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[10]     Die Revision ist zulässig, weil dem Berufungsgericht eine aufzugreifende Fehlbeurteilung der Schlüssigkeit des Klagebegehrens unterlaufen ist. Sie ist im Sinne des eventualiter gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

[11]           Die beklagten Parteien machen geltend, das Begehren auf Ersatz des entgangenen Unterhalts sei unschlüssig geblieben und wäre daher abzuweisen gewesen. Die Klägerin habe die für die Berechnung dieses konkreten, individuellen Anspruchs notwendigen Parameter nicht ausreichend vorgebracht. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu vergleichbaren Fällen sei überdies eine Verschuldensteilung von 3 : 1 zu Lasten des Fußgängers angemessen.

[12]     Hiezu wurde erwogen:

[13]           1. Die Klage ist im Umfang des den Gegenstand des Revisionsverfahrens bildenden Leistungsbegehrens unschlüssig:

[14]           1.1 Macht ein Kläger nur einen Teil des (behaupteten) Gesamtschadens geltend und können dabei einzelne Schadenspositionen unterschieden werden, die ein unterschiedliches rechtliches Schicksal haben, hat er klarzustellen, welche Teile von seinem pauschal formulierten Begehren erfasst sein sollen. Die Aufteilung des Pauschalbetrags auf die einzelnen Schadenspositionen kann nicht dem Gericht überlassen werden. Denn ohne Aufschlüsselung dieses Betrags wäre es nicht möglich, den Umfang der Rechtskraft zu bestimmen (2 Ob 67/20x; 2 Ob 238/17i; RS0031014 [T22, T25, T31]).

[15]           1.2 Die Frage der Schlüssigkeit des Klagsvorbringens betrifft den Grund des Anspruchs (RS0040736 [T4]). Vor Erlassung

eines Zwischenurteils kann daher nicht von der Schlüssigstellung des Klagebegehrens abgesehen werden. Das gilt auch für die soeben (Punkt 1.1) erörterte, aus der fehlenden Aufschlüsselung der einzelnen Schadenspositionen resultierende Unschlüssigkeit eines Zahlungsbegehrens, wenn ein Kläger einen Teil eines Gesamtschadens geltend macht und dabei einzelne Anspruchspositionen unterschieden werden können, die ein unterschiedliches rechtliches Schicksal haben (6 Ob 78/20v).

[16]           1.3 Im vorliegenden Fall nennt die Klägerin in ihrer Klage mehrere Schadenspositionen, die ein unterschiedliches rechtliches Schicksal haben können und deren Summe – offensichtlich ohne Kürzung aufgrund eines Mitverschuldens – einen Betrag von 46.680,18 EUR ergibt. Im Hinblick auf ihr Mitverschulden von einem Viertel begehrt sie – neben der Rente – davon lediglich 30.105,30 EUR. Wie sich dieser Betrag zusammensetzt, legt die Klägerin nicht dar und ist auch nicht nachvollziehbar, denn der begehrte Pauschalbetrag ist deutlich geringer als es drei Viertel der Gesamtsumme der in der Klagserzählung behaupteten Schadenspositionen wären (nämlich 35.010,14 EUR). Darauf haben zwar auch schon die Vorinstanzen in ihren Entscheidungen zutreffend hingewiesen. Dennoch gingen sie in ihrem Zwischenurteil über den bis zur Klagseinbringung entstandenen Unterhaltsentgang von einem ungekürzten Betrag von 26.256,32 EUR (behauptet wurden nur 26.255,32 EUR) aus und fügten darüber hinaus (unrichtig) hinzu, dass es sich dabei um 75 % des entgangenen Unterhalts handle, von dem sie zwei Drittel als zu Recht bestehend erachteten. Bisherige Folge der Unschlüssigkeit war bereits der Umstand, dass im Urteil des Erstgerichts, vom Berufungsgericht unbeanstandet, über einen höheren als den tatsächlich begehrten Betrag abgesprochen wurde (446,95 + 7.347,29 + 26.256,32 = 34.050,56), wobei ein Teil der Begräbniskosten noch unberücksichtigt blieb.

[17]           Die beklagten Parteien richten ihren Unschlüssigkeitseinwand zwar nur gegen das Begehren auf Ersatz des entgangenen Unterhalts. Dieser Einwand erfasst aber im Ergebnis nicht nur die Berechnung der Höhe dieser Schadensposition (dazu sogleich), sondern auch ihre Bestimmtheit (§ 226 ZPO), bleibt doch unklar, welchen Betrag die Klägerin nun tatsächlich als Unterhaltsentgang fordert.

[18]           1.4 Darüber hinaus hat die Klägerin zwar Angaben zu den nach der Rechtsprechung notwendigen Berechnungsgrundlagen für den Unterhaltsentgang gemacht (vgl RS0031954). Eine auch nur annähernd nachvollziehbare Darlegung, wie sich daraus die in der Klagserzählung jeweils ziffernmäßig angeführten Beträge an ungekürztem monatlichen Unterhaltsentgang ergeben sollten, unterblieb jedoch gänzlich. Dieser Umstand betrifft auch das für den Zeitraum nach Klagseinbringung erhobene Rentenbegehren.

[19]           1.5 Eine Entscheidung über das den Gegenstand des Revisionsverfahrens bildende Leistungsbegehren ist nach derzeitigem Verfahrensstand nicht möglich. Nach ständiger Rechtsprechung hat das Gericht, bevor es ein unbestimmtes, unschlüssiges oder widersprüchliches Begehren abweist, dessen Verbesserung anzuregen (RS0037166 [T1]), was hier aufgrund einer unrichtigen Rechtsansicht der Vorinstanzen unterblieb. Da das Erstgericht das Verfahren auch über die weiteren Ansprüche des Leistungsbegehrens zu ergänzen hat, führt dies zur Aufhebung in die erste Instanz. Das Erstgericht wird im fortgesetzten Verfahren die aufgezeigte Problematik in einer Verhandlung zu erörtern und der Klägerin die Gelegenheit zur Schlüssigstellung zu geben haben.

[20]           Für den Fall der ausreichenden Schlüssigstellung bedarf allerdings auch die den Zwischenurteilen der Vorinstanzen zugrunde gelegte Verschuldensteilung einer Korrektur:

[21]           2. Dem Ehemann der Klägerin fällt ein Mitverschulden von zwei Dritteln zur Last:

[22]           2.1 Ehemann der Klägerin:

[23]           2.1.1 Das Verhalten eines Fußgängers, der entgegen § 76 Abs 6 StVO die Fahrbahn außerhalb eines Schutzweges oder einer Kreuzung überqueren will, ist in § 76 Abs 4 lit b und Abs 5 StVO geregelt. Danach hat ein Fußgänger, bevor er auf die Fahrbahn tritt, sorgfältig zu prüfen, ob er die Straße noch vor Eintreffen von Fahrzeugen mit Sicherheit überqueren kann (zuletzt 2 Ob 193/19z mwN; RS0075656). Lässt die Verkehrslage das Betreten der Fahrbahn zu, hat der Fußgänger diese sodann in angemessener Eile zu überqueren (RS0075672). Er hat den kürzesten Weg zu wählen und darauf zu achten, dass der Fahrzeugverkehr nicht behindert wird (2 Ob 140/16a mwN).

[24]           2.1.2 Nach ständiger Rechtsprechung muss sich jeder Fußgänger beim Überqueren einer breiten Fahrbahn bei Erreichen ihrer Mitte weiters vergewissern, ob sich nicht von seiner rechten Seite her ein Fahrzeug nähert; er muss stehen bleiben, wenn ein Fahrzeug schon so nahe ist, dass er die Fahrbahn nicht mehr vor diesem gefahrlos überschreiten kann (2 Ob 193/19z mwN; RS0075648, RS0075656). Ein Fußgänger darf die Fahrbahn auch dergestalt überqueren, dass er sich zunächst bis zur Straßenmitte und von dort, sobald es der aus der Gegenrichtung fließende Verkehr erlaubt, zum anderen Straßenrand begibt (2 Ob 132/83 ZVR 1984/174).

[25]           2.1.3 Im vorliegenden Fall ist den Feststellungen zu entnehmen, dass der Ehemann der Klägerin das herannahende Beklagtenfahrzeug jedenfalls ab Erreichen der Fahrbahnmitte in bedrohlicher Nähe erkennen hätte können. Er überquerte die zweite Fahrbahnhälfte, obwohl dies nicht mehr gefahrlos möglich war. Ihm ist daher ein Verstoß gegen § 76 Abs 5 StVO vorzuwerfen.

[26]           2.2 Erstbeklagter:

[27]           2.2.1 Ein Kraftfahrer ist grundsätzlich verpflichtet, während der Fahrt die vor ihm liegende Fahrbahn in ihrer ganzen Breite einschließlich der beiden Fahrbahnränder und etwa anschließender Verkehrsflächen im Auge zu behalten (RS0074923). Er muss die Fahrbahn vor sich soweit beobachten, als dies für eine Weiterfahrt ohne Gefährdung von Personen oder Sachen notwendig ist (2 Ob 193/19z mwN; RS0074923 [T2]).

[28]           2.2.2 Ein Fahrzeuglenker ist aber nicht gehalten, bereits dann Abwehrhandlungen zu setzen, wenn ein Fußgänger eine breite Fahrbahn betritt, weil dies den durch § 76 Abs 4 lit b und Abs 5 StVO geschützten flüssigen Verkehr, für den die Fahrbahn in erster Linie bestimmt ist (RS0073163), behindern oder sogar unmöglich machen würde (2 Ob 193/19z). Er darf auch grundsätzlich darauf vertrauen, dass sich der Fußgänger bei Erreichen der Fahrbahnmitte von der Durchführbarkeit der weiteren Überquerung überzeugen wird, weil die gefahrlose Überquerungsmöglichkeit sich bei breiten Straßen oder auch bei langsamer Gehweise mittlerweile geändert haben kann, und muss nicht von vornherein damit rechnen, dass der Fußgänger eine unaufmerksame Gehweise über die Fahrbahnmitte hinaus ohne jede Berücksichtigung des Verkehrs fortsetzen wird (2 Ob 193/19z mwN; RS0075656 [T3 und T4]).

[29]           2.2.3 Im vorliegenden Fall liegt dem Erstbeklagten zwar ein Beobachtungsfehler zur Last. Nach den für ihn günstigsten Sachverhaltsannahmen, von denen aufgrund der die Klägerin insoweit treffenden Beweislast auszugehen ist (RS0022783), befand sich der Ehemann der Klägerin bis zur Kollision aber nur über eine Zeitspanne von 1,6 s (laufend) in seinem Sichtbereich. Billigt man dem Erstbeklagten die übliche Reaktionszeit ab Gefahrenerkennung von 0,8 s bis 1 s zu (vgl RS0058376, RS0074917), lag die Reaktionsverzögerung unter einer Sekunde.

[30]           2.2.4 Die dem Erstbeklagten anzulastende Geschwindigkeitsüberschreitung von 5 km/h liegt bereits in einem Bereich, in dem sie nicht mehr vernachlässigt werden kann (RS0027074). Die beklagten Parteien räumen insoweit selbst ein Mitverschulden des Erstbeklagten (von einem Viertel) ein.

[31]           2.3 Verschuldensteilung:

[32]           2.3.1 In ähnlichen Unfallkonstellationen wurde in der Rechtsprechung eine Verschuldensteilung von 2 : 1 zu Lasten des die Fahrbahn vorschriftswidrig überquerenden Fußgängers gegenüber einer geringen Geschwindigkeitsüberschreitung des KFZ-Lenkers angenommen (vgl 8 Ob 2/86 ZVR 1987/68; 8 Ob 129/78 ZVR 1979/155). Jüngst wurde bei einer geringen Reaktionsverspätung des PKW-Lenkers von 1,3 s gegenüber einem Verstoß des Fußgängers gegen § 76 Abs 4 lit b und Abs 5 StVO bei Dunkelheit und Regen im Ortsgebiet (Straßenbeleuchtung) eine Verschuldensteilung von 2 : 1 zu Lasten des Fußgängers bestätigt (2 Ob 92/19x).

[33]           2.3.2 Unter Berücksichtigung, dass nach der Rechtsprechung eine bloß um einen Sekundenbruchteil verspätete Reaktion überhaupt ohne Belang (RS0074906, RS0027729) und die Geschwindigkeitsüberschreitung des Erstbeklagten gering ist, ist auch im vorliegenden Fall das Verschulden des Erstbeklagten gegenüber dem gravierenden Sorgfaltsverstoß des Fußgängers deutlich geringer zu gewichten und eine Verschuldensteilung von 2 : 1 zu Lasten des Ehemannes der Klägerin angemessen.

[34]           2.3.3 Die von der Revisionswerberin ins Treffen geführten Entscheidungen, in denen das Verschulden 3 : 1 zu Lasten des Fußgängers geteilt wurde, sind – wie schon das Berufungsgericht herausgearbeitet hat – mit dem vorliegenden Sachverhalt nicht hinreichend vergleichbar. Zwar wurde dem Fahrzeuglenker jeweils eine überhöhte Geschwindigkeit vorgeworfen. In der Entscheidung 2 Ob 155/05s trat jedoch der Fußgänger, ohne auf den erkennbaren Fahrzeugverkehr zu achten, bei Dunkelheit und Regen aus einem nicht für den Fußgängerverkehr bestimmten „Grünstreifen“ über eine steile Böschung herab auf die Fahrbahn, um diese zu überqueren. In der Entscheidung 2 Ob 216/97x überquerte der Fußgänger, ohne auf den erkennbaren Querverkehr zu achten, bei Dunkelheit und feuchter Fahrbahn eine mehrspurige Bundesstraße im Freilandgebiet, wo üblicherweise mit höheren Geschwindigkeiten zu rechnen war. Ein vergleichbar gravierendes Fehlverhalten des Ehemannes der Klägerin liegt im vorliegenden Fall nicht vor.

[35]     2.4 Für den Fall, dass die Klägerin ihr Klagebegehren schlüssig stellt, wird daher im fortgesetzten Verfahren der Entscheidung eine Verschuldensteilung von 2 : 1 zu Lasten des Ehemannes der Klägerin zugrunde zu legen sein.

[36]     3. Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO.

Textnummer

E131729

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:0020OB00065.20B.0429.000

Im RIS seit

04.06.2021

Zuletzt aktualisiert am

04.06.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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