TE OGH 2020/4/15 2Ob193/19z

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Veröffentlicht am 15.04.2020
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden sowie den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé und die Hofräte Dr. Nowotny und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei D***** K*****, vertreten durch Dr. Gabriela Schrenk, Rechtsanwältin in Salzburg, gegen die beklagte Partei T***** B*****, vertreten durch Dr. Harald Schwendinger und Dr. Brigitte Piber, Rechtsanwälte in Salzburg, wegen 26.689,47 EUR sA und Feststellung (Streitwert 1.000 EUR) über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 25. September 2019, GZ 2 R 139/19b-23, womit das Urteil des Landesgerichts Salzburg vom 6. August 2019, GZ 6 Cg 3/19y-17, teilweise aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Am 31. 5. 2017 gegen 16:20 Uhr ereignete sich im Stadtgebiet von Salzburg auf Höhe des Hauses Alpenstraße 48A ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Lenker und Halter eines Kleinkraftrades (Mopeds) und die Beklagte als Fußgängerin beteiligt waren. Die Alpenstraße verläuft im Bereich der Unfallstelle geradlinig mit jeweils zwei Fahrstreifen in beide Fahrtrichtungen, die durch eine mehr als 2 m breite Sperrfläche voneinander getrennt sind. Die beiden stadtauswärts führenden Fahrstreifen sind ca 3,2 m (rechts) bzw 2,6 m (links) breit. Die gesamte Fahrbahnbreite beträgt etwa 13,8 m. Am stadteinwärts gelegenen (östlichen) Fahrbahnrand befindet sich eine Bushaltestelle. Der nächste Schutzweg ist deutlich mehr als 25 m von der Unfallstelle entfernt.

Die damals 79 Jahre alte Beklagte verließ an der erwähnten Haltestelle den Bus und begann von dort aus die Alpenstraße (in westlicher Richtung) mit zügigem Gehtempo und ohne zwischenzeitiges Innehalten zu überqueren. Nachdem sie die stadteinwärts führenden Fahrstreifen, die Sperrfläche, den linken stadtauswärts führenden Fahrstreifen und noch etwa die Hälfte des rechten stadtauswärts führenden Fahrstreifens übersetzt hatte, stieß der auf diesem Fahrstreifen mit 30 bis 40 km/h herankommende Kläger, den sie bis dahin nicht wahrgenommen hatte, gegen ihre rechte Körperseite. Der Kläger stürzte und zog sich Verletzungen zu.

Ab dem Verlassen der Sperrfläche hatte die Beklagte bis zur Kollisionsstelle eine Wegstrecke von rund 4 bis 4,5 m in 3 sec zurückgelegt. Bei einer Fahrgeschwindigkeit von 40 km/h war der Kläger 3 sec vor der Kollision 33 m von der Unfallstelle entfernt. Hätte der Kläger 3 sec vor der Kollision reagiert, wäre ein Abbremsen mit 2,5 m/sec², was einer normalen Betriebsbremsung entspricht, erforderlich und ausreichend gewesen, um der Beklagten ein „gerade noch“ berührungsfreies Verlassen des „Fahrkanals“ des Mopeds zu ermöglichen. Bei aufmerksamer Beobachtung wäre das herannahende Moped für die Beklagte aus einer Position auf der Sperrfläche wahrnehmbar gewesen. Umgekehrt war auch sie für den Kläger dort gut erkennbar.

Der Kläger begehrt den Ersatz seines mit 26.689,47 EUR sA bezifferten Unfallschadens und die Feststellung der Haftung der Beklagten für alle aus dem Unfall resultierenden Spät- und Dauerfolgen. Die Beklagte treffe das Alleinverschulden am Zustandekommen des Unfalls, weil sie bei der Überquerung der Straße die nötige Sorgfalt und Umsicht unterlassen habe. Der Kläger habe auf ihr Fehlverhalten nicht mehr rechtzeitig reagieren können.

Die Beklagte wandte ein, der Kläger hätte bei entsprechender Beobachtung des Verkehrsgeschehens den Zusammenstoß durch eine normale Betriebsbremsung leicht verhindern können. Einer allenfalls zu Recht bestehenden Klagsforderung werde eine Gegenforderung von 22.922 EUR aufrechnungsweise entgegengehalten.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der Beklagten sei keine Verletzung des § 76 Abs 5 StVO anzulasten, weil sie die Fahrbahn zügig und ohne Zwischenhalte überquert habe. Eine Behinderung des Fahrzeugverkehrs liege erst vor, wenn der Fußgänger einen Kraftfahrer zu einer Vollbremsung nötige. Dies sei hier nicht der Fall gewesen. Ihr sei zwar ein Beobachtungsfehler unterlaufen. Selbst wenn sie aber das Moped bemerkt hätte, hätte sie mit dem (weiteren) Überqueren der stadtauswärts führenden Fahrstreifen nicht zuwarten müssen. Dem Kläger falle ein erheblicher Aufmerksamkeits- und Beobachtungsfehler zur Last, weil er die die Fahrbahn überquerende Beklagte trotz freier Sicht übersehen habe.

Diese Entscheidung erwuchs unbekämpft in Rechtskraft, soweit ein Leistungsteilbegehren von 13.344,47 EUR sA und das Feststellungsbegehren zur Hälfte abgewiesen wurde.

Das Berufungsgericht hob im Übrigen die Entscheidung auf, verwies die Sache insoweit an das Erstgericht zurück und ließ den Rekurs an den Obersten Gerichtshof zu.

Es erörterte in rechtlicher Hinsicht, vor dem Überqueren der Fahrbahn außerhalb eines Schutzwegs müsse jeder Fußgänger sorgfältig prüfen, ob er sie noch vor dem Herankommen von Kraftfahrzeugen mit Sicherheit überschreiten könne. Bei Erreichen der Fahrbahnmitte müsse er sich aber ? jedenfalls auf „breiten Straßen“ bzw wenn es der flutende Verkehr verlange ? neuerlich vergewissern, ob sich nicht von seiner rechten Seite her ein Fahrzeug nähere, und stehen bleiben, wenn ein Fahrzeug schon so nahe sei, dass er die (andere Hälfte der) Fahrbahn nicht mehr vor diesem gefahrlos überschreiten könne. Für Vorrangsituationen ordne § 19 Abs 7 StVO an, dass ein Wartepflichtiger einen Vorrangberechtigten nicht zu unvermitteltem Bremsen nötigen dürfe. Dieser Grundsatz werde auch auf das Verhalten eines die Fahrbahn überquerenden Fußgängers angewendet. Demnach könne noch nicht von einer Behinderung des Fahrzeugverkehrs iSd § 76 Abs 5 StVO gesprochen werden, wenn es einem Kraftfahrer bei gehöriger Aufmerksamkeit leicht möglich sei, durch eine geringfügige und nicht unvermittelte Verlangsamung seines Fahrzeugs den Unfall zu vermeiden. Eine erzwungene Bremsverzögerung von 2,5 m/sec² sei nicht mehr geringfügig. Der Beklagten sei daher anzulasten, dass sie das Verkehrsgeschehen nicht ausreichend beobachtet, deshalb das herankommende Moped völlig übersehen und die Überquerung der beiden stadtauswärts führenden Fahrstreifen in Angriff genommen habe. Da der Kläger seinerseits die die Fahrbahn überquerende Beklagte komplett übersehen und deshalb nicht gebremst habe, liege auf beiden Seiten eine gleichartige und gleichermaßen unfallauslösende Unaufmerksamkeit vor, die eine Verschuldensteilung im Verhältnis von 1 : 1 rechtfertige.

Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zuzulassen, weil die Entscheidung von der zu 2 Ob 88/82 vertretenen Rechtsauffassung abweiche, wonach eine Behinderung des Verkehrs nach § 76 Abs 5 StVO nur dann vorliege, wenn der Fußgänger den Kraftfahrer zu einer Vollbremsung nötige.

Dagegen richtet sich der Rekurs der Beklagten mit dem Abänderungsantrag, die Entscheidung des Erstgerichts wiederherzustellen.

Der Kläger beantragt in seiner Rekursbeantwortung, dem Rekurs nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist zulässig im Sinne der Ausführungen des Berufungsgerichts, er ist aber nicht berechtigt.

1. Das Verhalten eines Fußgängers, der entgegen § 76 Abs 6 StVO die Fahrbahn außerhalb eines Schutzweges oder einer Kreuzung überqueren will, ist in § 76 Abs 4 lit b und Abs 5 StVO geregelt. Danach hat ein Fußgänger, bevor er auf die Fahrbahn tritt, sorgfältig zu prüfen, ob er die Straße noch vor Eintreffen von Fahrzeugen mit Sicherheit überqueren kann (2 Ob 24/02x; 2 Ob 54/05p; 2 Ob 28/07t; 2 Ob 140/16a; RS0075656). Lässt die Verkehrslage das Betreten der Fahrbahn zu, hat der Fußgänger diese sodann in angemessener Eile zu überqueren (RS0075672). Er hat den kürzesten Weg zu wählen und darauf zu achten, dass der Fahrzeugverkehr nicht behindert wird (2 Ob 140/16a mwN).

2. Nach ständiger Rechtsprechung muss sich jeder Fußgänger beim Überqueren einer breiten Fahrbahn bei Erreichen ihrer Mitte weiters vergewissern, ob sich nicht von seiner rechten Seite her ein Fahrzeug nähert; er muss stehen bleiben, wenn ein Fahrzeug schon so nahe ist, dass er die Fahrbahn nicht mehr vor diesem gefahrlos überschreiten kann (2 Ob 98/89; 2 Ob 24/02x; 2 Ob 28/07t; 2 Ob 140/16a; RS0075648, RS0075656).

3. Ein Kraftfahrer ist grundsätzlich verpflichtet, während der Fahrt die vor ihm liegende Fahrbahn in ihrer ganzen Breite einschließlich der beiden Fahrbahnränder und etwa anschließender Verkehrsflächen im Auge zu behalten (RS0074923). Er muss die Fahrbahn vor sich soweit beobachten, als dies für eine Weiterfahrt ohne Gefährdung von Personen oder Sachen notwendig ist (2 Ob 73/12t; RS0074923 [T2]).

Ein Fahrzeuglenker ist aber nicht gehalten, bereits dann Abwehrhandlungen zu setzen, wenn ein Fußgänger eine (breite) Fahrbahn betritt, weil dies den durch § 76 Abs 4 lit b und Abs 5 StVO geschützten flüssigen Verkehr, für den die Fahrbahn in erster Linie bestimmt ist (RS0073163), behindern oder sogar unmöglich machen würde (6 Os 263/57 EvBl 1958/51; 9 Os 307/59 ZVR 1960/323). Er darf auch grundsätzlich darauf vertrauen, dass sich der Fußgänger bei Erreichen der Fahrbahnmitte von der Durchführbarkeit der weiteren Überquerung überzeugen wird, weil die gefahrlose Überquerungsmöglichkeit sich bei breiten Straßen oder auch bei langsamer Gehweise mittlerweile geändert haben kann (vgl 2 Ob 98/89; 2 Ob 24/02x), und muss nicht von vornherein damit rechnen, dass der Fußgänger eine unaufmerksame Gehweise über die Fahrbahnmitte hinaus ohne jede Berücksichtigung des Verkehrs fortsetzen wird (2 Ob 2380/96f; RS0075656 [T3 und T4]).

4. Der Grundsatz, dass eine geringfügige Verminderung der Geschwindigkeit dem vorrangberechtigten Kraftfahrer zuzumuten ist, ohne dass deshalb ein Verstoß gegen § 19 Abs 7 StVO vorliegt, ist auch auf das Verhalten eines die Fahrbahn überquerenden Fußgängers anzuwenden (2 Ob 50/94; 2 Ob 24/02x; RS0027377). Von einer Behinderung iSd § 76 Abs 5 StVO kann daher noch nicht gesprochen werden, wenn der Kraftfahrer durch eine geringfügige und nicht unmittelbare Verlangsamung seines Fahrzeugs den Unfall verhindern kann (8 Ob 206/81 ZVR 1982/259; 2 Ob 70/95; 2 Ob 24/02x).

Entgegen der im Rekurs vertretenen Auffassung ist nach der Rechtsprechung eine Bremsverzögerung von 2 bis 2,5 m/sec² nicht als geringfügig anzusehen (8 Ob 260/82 ZVR 1984/28; 2 Ob 69/95; RS0074524 [T4]; vgl auch 2 Ob 68/03v: geringfügige Bremsung mit einer geringeren Verzögerung als 2 m/sec²).

5. In 2 Ob 88/82 ZVR 1983/55 hat der Oberste Gerichtshof allerdings auch ausgesprochen, dass eine Behinderung iSd § 76 Abs 5 StVO nur dann vorliege, wenn das Verhalten des Fußgängers auf der Fahrbahn einen Kraftfahrer zu einer Vollbremsung nötigt. Dem vermag sich auch der erkennende Senat angesichts des Gesetzeswortlauts, der ein Betreten und Überqueren der Fahrbahn durch Fußgänger außerhalb von Schutzwegen eben nur unter bestimmten Bedingungen zulässt, und der vorrangigen Bestimmung der Fahrbahn für den Fahrzeugverkehr nicht anzuschließen.

6. Den Argumenten der Rekurswerberin kann daher insgesamt nicht gefolgt werden.

7. Die Verschuldensabwägung des Berufungsgerichts begegnet keinen Bedenken. Beide Verkehrsteilnehmer haben es in gleich krasser Weise an der erforderlichen Sorgfalt und Aufmerksamkeit, die den Unfall jeweils leicht verhindern hätte können, fehlen lassen (vgl auch 2 Ob 2380/96t).

8. Dem Rekurs ist aus den erörterten Gründen der Erfolg zu versagen.

9. Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO.

Textnummer

E128244

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:0020OB00193.19Z.0415.000

Im RIS seit

05.06.2020

Zuletzt aktualisiert am

29.06.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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