TE OGH 2020/12/17 9ObA106/20h

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Veröffentlicht am 17.12.2020
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau und Hon.-Prof. Dr. Dehn sowie die fachkundigen Laienrichter KAD Dr. Lukas Stärker (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Karl Schmid (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Arbeitsrechtssache der klagenden Parteien 1. ***** U*****anstalt, *****, 2. P*****anstalt, *****, beide vertreten durch Dr. Harald Kirchlechner, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagten Parteien 1. W***** AG, *****, 2. R***** GmbH, *****, beide vertreten durch Dr. Herbert Laimböck, wegen 21.785,05 EUR sA (erstklagende Partei) und 9.980,02 EUR sA (zweitklagende Partei) sowie Feststellung (je 10.000 EUR), über die außerordentliche Revision der beklagten Parteien gegen das Teilurteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29. September 2020, GZ 9 Ra 55/20d-24, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision der beklagten Parteien wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO und, soweit sie sich gegen den Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts richtet, als absolut unzulässig zurückgewiesen.

Text

Begründung:

[1]            Die Beklagten bekämpfen mit ihrer außerordentlichen Revision Pkt I.1. des Teilurteils sowie ausdrücklich auch den Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts.

Rechtliche Beurteilung

[2]            1. Gemäß § 519 Abs 1 Z 2 ZPO ist gegen berufungsgerichtliche Beschlüsse, soweit dadurch das erstgerichtliche Urteil aufgehoben und dem Gericht erster Instanz eine neuerliche, nach Ergänzung des Verfahrens zu fällende Entscheidung aufgetragen wird, der Rekurs an den Obersten Gerichtshof nur dann zulässig, wenn das Berufungsgericht dies ausgesprochen hat. Die Zulässigkeit des Rekurses ist daher an einen ausdrücklichen Zulassungsausspruch des Gerichts zweiter Instanz gebunden. Fehlt, wie hier, ein solcher Ausspruch, ist ein Rekurs – auch wenn er als „außerordentliche Revision“ bezeichnet wird (die Falschbezeichnung des Rechtsmittels ist gemäß § 84 Abs 2 ZPO unerheblich) – ausgeschlossen (s RS0043880; RS0043898 [T7], 9 ObA 20/16f). Insoweit ist die als Rekurs zu behandelnde außerordentliche Revision der Beklagten als jedenfalls unzulässig zurückzuweisen.

[3]             2. Im Übrigen zeigt die außerordentliche Revision der Beklagten, in der sie die Beurteilung des verfahrensgegenständlichen Unfalls als unabwendbares Ereignis iSd § 9 Abs 2 EKHG anstreben, keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO auf.

[4]            2.1. Die Haftungsbefreiung nach § 9 Abs 2 EKHG setzt ua voraus, dass die beim Betrieb eines Fahrzeugs tätigen Personen „jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beachtet haben“. Es ist zu unterscheiden zwischen der Nichteinhaltung jeder gebotenen Sorgfalt iSd § 9 Abs 2 EKHG, die nicht mit Verschulden gleichgesetzt werden kann, und der als Verschulden zu wertenden Nichteinhaltung der gewöhnlichen Verkehrssorgfalt eines Kraftfahrzeuglenkers (RS0058425 [T4]; RS0107615).

[5]            2.2. Maßstab für die Sorgfaltspflicht nach § 9 Abs 2 EKHG ist die Sorgfalt eines sachkundigen, erfahrenen Kraftfahrers (RS0058394). Unter dem Begriff „jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt“ ist die äußerste, nach den Umständen des Falles mögliche Sorgfalt zu verstehen. Es muss alles vermieden werden, was zur Entstehung einer gefahrenträchtigen Situation führen könnte (RS0058326 [insbes T4, T6]; RS0058317 [insbes T4]). Diese äußerste gebotene Sorgfalt ist dann eingehalten, wenn der Fahrzeuglenker eine über die gewöhnliche Sorgfaltspflicht hinausgehende, besonders überlegene Aufmerksamkeit, Geistesgegenwart und Umsicht gezeigt hat, die zum Beispiel auch die Rücksichtnahme auf eine durch die Umstände nahegelegte Möglichkeit eines unrichtigen oder ungeschickten Verhaltens anderer gebietet. Es kommt also darauf an, dass auch für einen besonders sorgfältigen Kraftfahrer bei der gegebenen Sachlage der geschehene Unfall unvermeidbar war (RS0058425; 2 Ob 46/81 = ZVR 1982/362). Hat der Lenker des Kraftfahrzeugs nicht die äußerste ihm nach den Umständen zumutbare Verkehrssorgfalt beachtet, ist ihm der Entlastungsbeweis nach § 9 Abs 2 EKHG nicht gelungen (RS0058394 [T2]). Diese Sorgfaltspflicht darf aber nicht überspannt werden, soll eine vom Gesetzgeber nicht gewollte Erfolgshaftung vermieden werden (RS0058425 [T3]).

[6]            2.3. In diesem Zusammenhang wurde etwa erkannt, dass ein Kraftfahrer auf alle Fälle mit einem unvorsichtigen Verhalten von Arbeitern auf einer Baustelle rechnen muss; er muss daher eine über die gewöhnliche Sorgfalt hinausgehende besondere Aufmerksamkeit und Umsicht an den Tag legen; beim Rückwärtsfahren muss diese erhöhte Aufmerksamkeit noch über die Sorgfalt hinausreichen, die bei einem derartigen Fahrmanöver in Betrieben und auf Baustellen ohnehin zu fordern ist; übersieht der Lenker eines Sattel-Kfz auf einer Baustelle einen für ihn jedenfalls einen Moment lang im Rückspiegel wahrnehmbaren Bauarbeiter, so hat er – wenn auch ohne messbares Verschulden – nicht jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt iSd § 9 Abs 2 EKHG angewendet (2 Ob 104/89; s auch RS0073162; RS0058349 [T1]). Nur wenn der Lenker des Fahrzeugs mit der Anwesenheit fremder Personen auf dem Werksgelände nach den gegebenen Umständen nicht zu rechnen brauchte und er annehmen konnte, dass die auf dem Gelände anwesenden Personen mit den entsprechenden Vorgängen vertraut sind und dies entsprechend beachten werden, kann er sich damit begnügen, das Gelände zu kontrollieren und auch ohne Einweisung durch eine andere Person mit dem Fahrzeug rückwärts fahren (RS0073131; zuletzt 2 Ob 86/18p mwN). Die Frage, ob derartige Umstände vorliegen, und der Umfang der gemäß § 9 Abs 2 EKHG gebotenen Sorgfalt hängen jeweils von der Beurteilung des Einzelfalls ab (RS0073131 [T4]; RS0111708).

[7]             2.4. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass dem Lenker des (von der Zweitbeklagten gehaltenen und von der Erstbeklagten haftpflichtversicherten) Radladers nach diesen Maßstäben ein Sorgfaltsverstoß am verfahrensgegenständlichen Unfall trifft, hält sich im Rahmen dieser Rechtsprechung:

[8]       Es steht fest, dass sich der Verunfallte rund 0,4 sec vor dem Kontakt mit der Heckstoßstange des Radladers im Sichtfeld des linken Außenspiegels befand. Er war auch 0,3 bis 0,4 sec vor dem Erstkontakt mit dem Heckstoßfänger und über rund 0,6 bis 0,7 sec nach der Umstoßbewegung im Monitor der Rückfahrkamera, dort sohin über einen Zeitraum von 0,9 bis 1,1 sec sichtbar. Auch unter Berücksichtigung der Reaktionszeit wäre das tödliche Überrollen des Verunfallten durch Beobachtung des linken Rückspiegels und des Fahrassistenten vermeidbar gewesen. Zutreffend wies das Berufungsgericht darauf hin, dass eine Rückfahrkamera gerade dazu dient, den nicht einsehbaren Bereich hinter dem Fahrzeug sichtbar zu machen. Es sprengt auch nicht den Rahmen der gebotenen äußersten Sorgfalt, bei einer Rückwärtsfahrt eines schweren Baufahrzeugs die Rückspiegel und den Monitor der Rückfahrkamera permanent im Auge zu behalten, insbesondere wenn mit dem Verunfallten kurz davor am Fenster des Radladers gesprochen wurde und damit nicht ausgeschlossen war, dass er sich noch in der Nähe befand. Die Beurteilung des Berufungsgerichts ist danach nicht weiter korrekturbedürftig.

[9]             3. Mangels einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Textnummer

E130488

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:009OBA00106.20H.1217.000

Im RIS seit

02.02.2021

Zuletzt aktualisiert am

02.02.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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