TE OGH 2020/9/24 1Ob158/20x

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Veröffentlicht am 24.09.2020
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Dr. Hofer-Zeni-Rennhofer und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei E***** S*****, vertreten durch Dr. Gerhard Lebitsch, Rechtsanwalt in Salzburg, gegen die beklagte Partei Gemeinde S*****, vertreten durch Dr. Erich Greger und Dr. Günther Auer, Rechtsanwälte in Oberndorf, wegen Beseitigung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Berufungsgericht vom 29. Mai 2020, GZ 22 R 82/20t-46, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Oberndorf vom 26. Februar 2020, GZ 2 C 289/17z-41, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Über das Grundstück der Klägerin verläuft der von der beklagten Gemeinde errichtete Ortskanal. Projektiert war der Kanalverlauf ursprünglich in einem Abstand von ca 2 m parallel zu einem nördlich an der Liegenschaft der Klägerin angrenzenden Bach. Die Klägerin wurde von einem Mitarbeiter des projektverantwortlichen Ingenieurbüros mündlich informiert, dass die Verlegung des Kanals in der Dammkrone (das heißt 1 m neben dem Bach) geplant sei, womit sie einverstanden war. Mit Bescheid des Landeshauptmanns von Salzburg vom 7. 11. 1979 wurde der Beklagten die wasserrechtliche Bewilligung zur Errichtung und Benützung der Ortskanalisation erteilt.

Im Zuge der Errichtung der Ortskanalisation
– der strittige Kanalstrang wurde zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt im Jahr 1983 errichtet – wurde die bewilligte Trassenführung geändert, sodass sich der Schacht 121 näher am Bach in der Dammkrone befindet und der bereits am Nachbargrund liegende Schacht 120 ca 5 m weiter südlich als geplant errichtet wurde. Durch diese „Verschwenkung“ nach Süden ab Schacht 121 kommt es zu einer weitergehenden „Zerschneidung“ der nordwestlichen Grundstücksecke der Liegenschaft der Klägerin durch den Kanal.

Nach Durchführung einer wasserrechtlichen Überprüfungsverhandlung, zu der die Klägerin geladen wurde, an der sie aber nicht teilnahm, erteilte der Landeshauptmann von Salzburg mit Bescheid vom 22. 9. 1987 der Beklagten die nachträgliche wasserrechtliche Bewilligung für die im Zuge der Errichtung der Kanalisationsanlage erfolgten Abänderungen nach Maßgabe eines dem Bescheid zugrunde liegenden „Ausführungsoperats“ vom 26. 11. 1985 und der in der Begründung des Bescheids enthaltenen Beschreibung durch den wasserbautechnischen Amtssachverständigen mit bestimmten (hier nicht relevanten) Auflagen (Spruchpunkt A) I). Nach dem unstrittigen Inhalt dieses Bescheids wurde ausgesprochen, dass hinsichtlich der in Abänderung zur erteilten wasserrechtlichen Bewilligung tatsächlich berührten Grundstücke die erforderlichen Dienstbarkeiten gemäß § 111 Abs 4 WRG mit der Erteilung dieser nachträglichen wasserrechtlichen Bewilligung als eingeräumt anzusehen seien, weil unter anderem von den Grundeigentümern ein Antrag auf ausdrückliche Einräumung einer Dienstbarkeit nach § 63 WRG nicht gestellt worden sei (Spruchpunkt A) V); festgestellt wird, dass die vom „Ausführungsoperat“ erfassten Kanalisationsanlagen [der beklagten Gemeinde] entsprechend den nunmehr erteilten Bewilligungen zur Ausführung gelangt seien (Spruchpunkt A) VII). Im Ausführungslageplan (Teil des „Ausführungsoperats“) wird eine abgeänderte Kanalführung dargelegt, die aber mit der tatsächlich errichteten nicht übereinstimmt; danach würde der Kanal durch das Wohnhaus der Klägerin führen. Darin ist ein gerader Verlauf zwischen den Kanalpunkten 122 (auf der Liegenschaft der Klägerin) und 120 dargestellt, so als wäre auch der Kanalpunkt 121 weiter südlich als projektiert errichtet worden. Dieser „Überprüfungsbescheid“ wurde der Klägerin zugestellt.

Die Klägerin wusste über eine geänderte Trassenführung nicht Bescheid. Ihre Zustimmung dazu hat sie weder schriftlich noch sonst ausdrücklich erteilt. Demgegenüber wurde in dem im Überprüfungsverfahren vorgelegten „Ausführungsoperat“ behauptet, alle betroffenen Grundeigentümer hätten der abgeänderten Ausführung zugestimmt.

Die Vertreter der Beklagten gingen aufgrund der rechtskräftigen Bescheide aus dem Jahr 1979 und 1987 „von der Rechtmäßigkeit des tatsächlichen Kanalverlaufs über das Grundstück der Klägerin aus“. Eine Verlegung des Kanals parallel zum Bach – entsprechend der wasserrechtlichen Bewilligung aus dem Jahr 1979 – würde 8.400 EUR bis 9.400 EUR netto kosten.

Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Entfernung jenes Teils der Ortskanalisation, der zwischen den Kanalpunkten 120 und 121 über eine Länge von 14,5 m über ihr Grundstück verläuft. Der Kanalstrang sei abweichend von der 1979 erfolgten Bewilligung aus nicht bekannten Gründen weiter südlich verlegt worden, obwohl es technisch möglich gewesen wäre, den Kanal wie projektiert in der Dammkrone zu errichten. Sein Verlauf weiche auch von der 1987 im Zuge des „Kollaudierungsverfahrens“ vorgenommenen Änderung deutlich ab. Durch die nicht konsensmäßige Kanalerrichtung werde ihr Grundstück entwertet und der bestehende Schluckbrunnen samt Wärmepumpenanlage gefährdet. Im „Ausführungsoperat“, auf das im „Kollaudierungsbescheid“ aus dem Jahr 1987 verwiesen werde, sei nicht ersichtlich, dass im gegenständlichen Bereich eine Änderung der bewilligten Kanalführung erfolgt sei. Sie habe zur abgeänderten Ausführung keine Zustimmung erteilt. Von der geänderten Kanalführung habe sie bis zum Schreiben der Beklagten vom März 2012 keine Kenntnis gehabt. Von einer bloß geringfügig abweichenden Situierung des Kanalverlaufs könne nicht gesprochen werden, weil ihr Grundstück nur eingeschränkt für Tiefenbohrungen oder Flächenverlegungen im Zusammenhang mit der Errichtung und dem Betrieb von Erdwärmekollektoren nutzbar sei. Die Voraussetzungen für eine Ersitzung lägen nicht vor, weder die Ersitzungszeit noch die Redlichkeit der Beklagten seien gegeben.

Die beklagte Gemeinde wendete ein, dass die Abänderung des tatsächlichen Verlaufs des Kanals mit Bescheid aus dem Jahr 1987 wasserrechtlich bewilligt und gemäß § 111 Abs 4 WRG die notwendigen Dienstbarkeiten eingeräumt worden seien. Sie sei daher am Grundstück der Klägerin dienstbarkeitsberechtigt und diese habe die Inanspruchnahme ihres Grundstücks zur Führung des Kanalstrangs und dessen Erhaltung zu dulden. Aufgrund der Dienstbarkeit für den Kanal gemäß § 111 Abs 4 WRG bestehe kein Beseitigungsanspruch. Die Klägerin habe über die tatsächliche Bauführung Bescheid gewusst und dem Kanalverlauf, der dem im „Kollaudierungsbescheid“ beschriebenen Verlauf entspreche, zugestimmt, indem sie zur „Kollaudierungsverhandlung“, zu der sie geladen worden sei, nicht erschienen sei. Sollte der tatsächliche Verlauf nicht der behördlichen Bewilligung entsprechen, so würden die Voraussetzungen einer Ersitzung vorliegen. Müsste sie die Kanalanlage entfernen und an minimal veränderter Stelle neu errichten, würde dies eine erhebliche wirtschaftliche Belastung darstellen. Umgekehrt habe die Klägerin bei Belassung keinen wesentlichen Nachteil. Aufgrund des krassen Missverhältnisses zwischen den Interessen der Parteien sei die Klage auch als rechtsmissbräuchlich anzusehen.

Nach rechtskräftiger Stattgebung der von der Klägerin eingebrachten Wiederaufnahmeklage und Aufhebung der in dieser Rechtssache zuvor ergangenen Urteile (dazu 1 Ob 217/18w) wies das Erstgericht im wiederaufgenommenen Verfahren die Beseitigungsklage neuerlich ab. Die tatsächliche Ausführung des Kanals (im strittigen Bereich) beeinträchtige die Klägerin nach Art und Intensität lediglich geringfügig. Die davon betroffene Rasenfläche liege in der von Revisionsarbeiten am Damm freizuhaltenden und daher nicht bebaubaren 4-m-Zone und somit in einer schwer nutzbaren Ecke des Gartens. Die Kollision des Schluckbrunnens der Klägerin mit dem Kanal habe nur aufgrund der Vorgehensweise der Klägerin zu einer anhaltend nachteiligen Situation geführt und hätte längst ohne Kosten für sie behoben werden können. Die für die Klägerin wichtige Nutzbarkeit des „Grundstücksdreiecks“ für Tiefenbohrungen sei gegeben und selbst Flächenkollektoren wären möglich. Anstatt der auf ihrem Grundstück bewilligten 16 m sei das strittige Kanalstück nur 14,77 m lang, womit sie von der Änderung der Situierung des Kanalpunkts 121 sogar profitiert habe. Die Nutzung werde durch den tatsächlichen Verlauf des Kanals gegenüber der Bewilligung aus dem Jahr 1979 daher bloß in unerheblichem Ausmaß höher beeinträchtigt. Demnach sei die Klägerin an die Dienstbarkeit gemäß § 111 Abs 4 WRG – also an die mit der Erteilung der wasserrechtlichen Bewilligung entstandene Legalservitut im Sinn des § 63 lit b WRG – gebunden.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Rechtlich führte es aus, die tatsächliche Inanspruchnahme des Grundstücks der Klägerin sei als Vorfrage zu beurteilen, weil die geänderte Ausführung weder mit der wasserrechtlichen Bewilligung aus dem Jahr 1979 noch mit dem im „Kollaudierungsverfahren“ erstellten Plan übereinstimme, was eine geänderte Inanspruchnahme des Grundstücks zur Folge gehabt habe. Um die Fiktion der Einräumung einer Dienstbarkeit gemäß § 111 Abs 4 WRG hintanzuhalten, hätte die Klägerin zumindest im „Kollaudierungsverfahren“ zum Ausdruck bringen müssen, dass sie mit der für die Verwirklichung des Projekts notwendigen Grundinanspruchnahme nicht einverstanden sei, was sie jedoch nicht getan habe. Auch wenn die im Jahr 1987 erteilte nachträgliche wasserrechtliche Bewilligung „mangels Beschreibung des genauen Ausmaßes der durch die Abweichungen benötigten zusätzlichen Grundfläche und der Unerheblichkeit dieser Abweichungen keine 'Feststellungswirkung' zeitigen“ habe können, könne sich die Beklagte weiterhin auf § 111 Abs 4 WRG stützen. Da die tatsächliche Situierung des Kanals exakt feststehe, könnten nicht nur die durch den Kanal beanspruchte Fläche, sondern auch die Mehr- oder Minderbelastung gegenüber der ursprünglichen Projektierung beurteilt werden. Aus technischer Sicht liege keine Wertminderung des Grundstücks und lediglich eine in unerheblichem Ausmaß eingeschränkte Beeinträchtigung vor. Die oberirdische Bebauung wäre in der 4-m-Zone neben dem Bach ohnedies unzulässig und auch eine unterirdische – zB die Errichtung von Kellerräumen – wäre im Hinblick auf die bestehenden Bauten in dieser spitzen Grundstücksecke nicht sinnvoll. Da letztlich aber nur die unmittelbar vom Kanalstrang betroffene Fläche nicht verfügbar und auch diese Fläche kleiner als die in der bewilligten Projektierung vorgesehene Fläche (nur 14,77 m anstatt der bewilligten 16 m) sei, sei die durch den tatsächlichen Verlauf des Kanals gegebene Beeinträchtigung der Nutzbarkeit unwesentlich, sodass die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des § 111 Abs 4 WRG vorlägen.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 5.000 EUR, nicht jedoch 30.000 EUR übersteige. Es erklärte die ordentliche Revision für zulässig, weil zur Frage, „ob sich eine Grundeigentümerin auf die tatsächliche Unkenntnis [...] von der geänderten Inanspruchnahme ihres Grundstücks im Sinn des § 111 Abs 4 WRG auch berufen kann, wenn sie sich am Kollaudierungsverfahren nicht beteiligt hat, bisher – soweit ersichtlich – noch keine höchstgerichtliche Judikatur besteht“.

Die dagegen erhobene Revision der Klägerin, die von der Beklagten beantwortet wurde, ist zulässig, weil die Vorinstanzen § 111 Abs 4 WRG unzutreffend angewendet haben. Sie ist entsprechend dem hilfsweise gestellten Aufhebungsbegehren auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

1. Mit der Erteilung der wasserrechtlichen Bewilligung für ein bestimmtes Projekt ist grundsätzlich Vorsorge für dessen Realisierung, insbesondere im Hinblick auf die Inanspruchnahme fremder Liegenschaften, zu treffen. Eine solche Vorsorge kann in der Beurkundung eines Übereinkommens nach § 111 Abs 3 WRG, in der Einräumung bzw dem ausnahmsweise ausgesprochenen Vorbehalt der Einräumung eines Zwangsrechts nach § 111 Abs 1 WRG oder in der Anwendung des § 111 Abs 4 leg cit bestehen (1 Ob 115/14i mwN).

Zwangsrechte (§§ 62 bis 64 WRG) wurden weder im Bescheid des Landeshauptmanns von Salzburg vom 7. 11. 1979 noch in jenem vom 22. 9. 1987 eingeräumt. Ein Übereinkommen im Sinn des § 111 Abs 3 WRG besteht nicht. Die Ausführungen im Bescheid aus dem Jahr 1987 zu § 111 Abs 4 WRG stellen eine bloße unverbindliche Aussage über die vermeintlichen (privat-)rechtlichen Konsequenzen dar (1 Ob 13/94: Rechtsbelehrung).

2. Nach § 111 Abs 4 WRG ist mit der Erteilung der wasserrechtlichen Bewilligung die erforderliche Dienstbarkeit im Sinn des § 63 lit b WRG als eingeräumt anzusehen, wenn sich im Verfahren ergeben hat, dass die bewilligte Anlage fremden Grund in einem für den Betroffen unerheblichen Ausmaß in Anspruch nimmt, der Grundeigentümer dagegen keine Einwendungen erhoben hat, und weder von diesem oder vom Bewilligungswerber ein Antrag auf ausdrückliche Einräumung einer Dienstbarkeit nach § 63 lit b WRG gestellt, noch eine ausdrückliche Vereinbarung über die Einräumung eines solchen Zwangsrechts getroffen worden ist. Die Rechtsfolgen des § 111 Abs 4 WRG treten bei Zutreffen der in dieser Bestimmung enthaltenen Voraussetzungen mit der Erteilung der wasserrechtlichen Bewilligung ein. Bei § 111 Abs 4 WRG handelt es sich um eine Legalservitut (1 Ob 226/16s mwN).

3. Voraussetzung für das Eintreten der Rechtsfolgen des § 111 Abs 4 WRG ist die Erteilung der wasserrechtlichen Bewilligung und damit eine bewilligte Anlage. Für den auf der Liegenschaft der Klägerin verlaufenden Kanalstrang gibt es eine derartige Bewilligung. Der Kanal wurde in diesem Bereich zwar abweichend von der wasserrechtlichen Bewilligung durch den Bescheid des Landeshauptmanns vom November 1979 errichtet. Die wasserrechtliche Bewilligung im Bescheid des Landeshauptmanns vom September 1987 bezieht sich auf eine abgeänderte Kanalführung entsprechend dem „Ausführungsoperat“ eines Ziviltechnikers, das ebenfalls mit dem tatsächlichen Verlauf nicht übereinstimmt.

Der rechtmäßige Zustand einer Wasserbenutzungsanlage ergibt sich aber nicht nur aus dem (hier 1987 abgeänderten) Bewilligungsbescheid, sondern auch aus dem Überprüfungsbescheid. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs (Ra 2018/07/0465 ua; 91/07/0087) gelten Maßnahmen, die als Abweichungen vom bewilligten Projekt anzusehen sind und bei denen versäumt wurde, ihre Beseitigung im Überprüfungsbescheid zu veranlassen, als nachträglich bewilligt bzw die Anlage als rechtskräftig hergestellt. Die ausgeführte Anlage ist mit Ausnahme jener Mängel und Abweichungen, deren Beseitigung im Überprüfungsbescheid angeordnet wurde, ansonsten als rechtmäßig und den Bestimmungen des WRG entsprechend hergestellt anzusehen.

Im (in Rechtskraft erwachsenen) Bescheid des Landeshauptmanns aus dem Jahr 1987 wurde (für den Bereich der Liegenschaft der Klägerin unzutreffend) festgestellt, dass die Kanalisationsanlage entsprechend der abgeänderten Bewilligung zur Ausführung gelangt ist, und damit ausgesprochen, dass das ausgeführte Projekt mit der (in diesem Bescheid abgeändert) erteilten wasserrechtlichen Bewilligung übereinstimmt. Zwar stimmt die im Ausführungslageplan dargestellte Kanalführung mit der auf dem Grundstück der Klägerin tatsächlich errichteten nicht überein, jedoch wurde im Spruch des Überprüfungsbescheids vom 22. 9. 1987 Gegenteiliges festgestellt, sodass die tatsächlich ausgeführte Anlage als bewilligt gilt und als den wasserrechtlichen Bestimmungen entsprechend hergestellt anzusehen ist. Da damit auch der Kanalabschnitt auf der Liegenschaft der Klägerin wasserrechtlich bewilligt ist, kann § 111 Abs 4 WRG grundsätzlich zur Anwendung gelangen.

4. Die gesetzliche Fiktion des § 111 Abs 4 WRG („... ist als eingeräumt anzusehen ...“) setzt für die Begründung einer Dienstbarkeit voraus, dass der fremde Grund in einem bloß unerheblichen Ausmaß in Anspruch genommen wird. Dabei ist nicht die Bedeutung des Wasserbauvorhabens maßgeblich, sondern Art und Intensität des dadurch bewirkten Rechtseingriffs (1 Ob 226/16s mwN; vgl RIS-Justiz RS0082243). § 111 Abs 4 WRG stellt darauf ab, ob die „bewilligte Anlage“ (in ihrer Gesamtheit) fremden Grund eines bestimmten Eigentümers in bloß unerheblichem Ausmaß in Anspruch nimmt. Auch auf der strittigen Teilstrecke der Ortskanalisation zwischen den Kanalpunkten 120 und 121 auf der Liegenschaft der Klägerin kann sich ein Recht der Beklagten nur aus dieser Bestimmung ergeben. Damit kommt es aber auf die Belastung an, die vom gesamten, auf der Liegenschaft tatsächlich errichteten Kanalstrang ausgeht. Dass alle Anlagenteile, die das Grundstück in Anspruch nehmen, in diese Prüfung einzubeziehen sind, entspricht auch der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs (87/07/0012; ebenso Berger in Oberleitner/Berger, WRG-ON4.00 § 111 Rz 21).

Die Vorinstanzen beurteilten demgegenüber einerseits die Beeinträchtigung des Grundstücks der Klägerin im Vergleich zum ursprünglich bewilligten Projekt aus dem Jahr 1979 und betrachteten andererseits allein die Beeinträchtigung durch den strittigen Kanalabschnitt. Auf beide Kriterien kommt es aber nicht an. Maßgeblich für das Vorliegen einer Dienstbarkeit nach § 111 Abs 4 WRG ist, dass die Liegenschaft der Klägerin durch den tatsächlich errichteten Kanalstrang in ihrer Gesamtheit nach Art und Inanspruchnahme in unerheblichem Ausmaß beeinträchtigt wird. Dabei ist auch der östlich des Kanalpunkts 121 auf der Liegenschaft der Klägerin errichtete Kanalstrang, der im Vergleich zum strittigen Teil um einiges länger ist, einzubeziehen.

Für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen des § 111 Abs 4 WRG vorliegen, fehlen ausreichende Feststellungen, die das Erstgericht im fortzusetzenden Verfahren nach Erörterung der dargestellten Rechtslage mit den Parteien nachzutragen hat, wobei alle Nachteile zu berücksichtigen sind, die der Klägerin gegenüber dem unbeeinträchtigten Zustand erwachsen.

5.1. Die Beklagte wendete auch ein, sie habe eine Dienstbarkeit ersessen, weil die Kanalanlage seit mehr als 30 Jahren bestehe und die Voraussetzungen für die Ersitzung vorlägen. Die Klägerin erwiderte, der Kanal sei erst im Herbst 1985 in Betrieb genommen worden, sodass die dreißigjährige Ersitzungszeit nicht erfüllt sei. Die Beklagte sei auch nicht als redlich anzusehen.

5.2. Ersitzung ist der Erwerb eines Rechts durch qualifizierten Besitz während der gesetzlich bestimmten Frist. Sie führt zu einem originären Rechtserwerb, der zur Folge hat, dass der bisherige Rechtsinhaber sein Recht verliert (§ 1478 ABGB). Für die uneigentliche Ersitzung (§ 1477 ABGB) bedarf es keines Titels (Perner in Klete?ka/Schauer, ABGB-ON1.03 § 1460 Rz 1; 1 Ob 115/14i). Das Recht, Wasser über einen fremden Grund zu leiten, zählt zu den Feldservituten (§ 477 Z 2 ABGB). Die außerbücherliche Ersitzung einer solchen Dienstbarkeit auf fremdem Grund erfordert eine ordentliche Ersitzungsfrist von 30 Jahren sowie die Redlichkeit und Echtheit des Besitzes (§ 1470 ABGB).

Der Ersitzende hat Art und Umfang der Besitzausübung und die Vollendung der Ersitzungszeit zu behaupten und zu beweisen (RS0034237; RS0034243). Den Mangel der Redlichkeit und Echtheit des Besitzes hat der Gegner zu behaupten und zu beweisen (RS0034251).

5.3. Nach den unbekämpften Feststellungen erfolgte die Errichtung des Kanalstrangs zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt im Jahr 1983. Die Klägerin brachte am 4. 6. 2013 die Klage ein. Da die Beklagte für die Vollendung der dreißigjährigen Ersitzungszeit beweispflichtig ist, ist ihr dieser Beweis nicht gelungen, steht doch nicht sicher fest, dass die Liegenschaft bereits vor dem 4. 6. 1983 real in Anspruch genommen worden war.

Damit liegen die Voraussetzungen für die Ersitzung des Rechts, über das Grundstück der Klägerin eine Wasserleitung zu führen, schon aus diesem Grund nicht vor, ohne dass auf die Frage der Redlichkeit der Beklagten eingegangen werden müsste.

6.1. Das Recht des Grundeigentümers wird durch das Verbot der schikanösen Rechtsausübung beschränkt (RS0010395). Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ist Rechtsmissbrauch nicht nur dann anzunehmen, wenn die Schädigungsabsicht den einzigen oder überwiegenden Grund der Rechtsausübung bildet, sondern auch dann, wenn zwischen den vom Handelnden verfolgten eigenen Interessen und den beeinträchtigten Interessen des anderen ein krasses Missverhältnis besteht, wenn also das unlautere Motiv der Rechtsausübung das lautere Motiv eindeutig überwiegt (RS0025230; RS0026265 [T8, T33]; RS0026271 [T24]). Selbst relativ geringe Zweifel am Rechtsmissbrauch geben zu Gunsten des Rechtsausübenden den Ausschlag, weil demjenigen, der an sich ein Recht hat, grundsätzlich zugestanden werden soll, innerhalb der Schranken dieses Rechts zu handeln (RS0026271 [T26]).

6.2. Die Klägerin begehrt im Wege einer Eigentumsfreiheitsklage (§ 523 ABGB) die Beseitigung des von der Beklagten errichteten Kanalstrangs. Sollten – was noch zu klären ist – die Voraussetzungen des § 111 Abs 4 WRG nicht vorliegen, kann der beeinträchtigte Liegenschaftseigentümer die Entfernung einer von den Ergebnissen des wasserrechtlichen Verfahrens abweichenden Bauführung verlangen (Berger aaO § 111 Rz 21; 1 Ob 40/92).

6.3. Der beklagten Gemeinde ist es nicht gelungen aufzuzeigen, dass die schutzwürdigen Interessen der Klägerin als Eigentümerin unter den festgestellten Umständen gegenüber ihren Interessen an der Aufrechterhaltung des bestehenden Zustands derart in den Hintergrund rückten, dass dieser eine Durchsetzung ihrer Rechte zu verwehren wäre. Durch die „Verschwenkung“ des Kanals nach Süden und die sich dadurch ergebende „Zerschneidung“ im Ausmaß von 19,5 m² wird die Nutzung ihrer Liegenschaft (in geringem Umfang) beeinträchtigt. Sie kann als Liegenschaftseigentümerin grundsätzlich ihr Eigentumsrecht gegen jene verteidigen, die keinen Rechtstitel zur Benützung haben. Dieses Recht ist in der natürlichen Freiheit des Eigentums begründet. Seine Geltendmachung (oder Verteidigung) allein verstößt nicht gegen die guten Sitten (1 Ob 74/14k mwN), insbesondere wenn man berücksichtigt, dass die Beklagte die veränderte Trasse ohne Verständigung der Klägerin ausgeführt und in der Folge im behördlichen Überprüfungsverfahren einen unrichtigen Plan vorgelegt hat, wobei im angeschlossenen „Ausführungsoperat“ wahrheitswidrig behauptet wurde, alle betroffenen Grundeigentümer hätten der Abweichung des Verlaufs zugestimmt. Zudem kostet die Verlegung des Kanals in den Bereich, der der ursprünglichen wasserrechtlichen Bewilligung entspricht, lediglich 8.400 EUR bis 9.400 EUR netto.

7. Der Revision der Klägerin ist aus den zu 4. dargelegten Gründen Folge zu geben.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

Textnummer

E129795

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:0010OB00158.20X.0924.000

Im RIS seit

23.11.2020

Zuletzt aktualisiert am

23.11.2020
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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