TE AsylGH Erkenntnis 2008/12/10 C9 300077-1/2008

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Veröffentlicht am 10.12.2008
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Spruch

C9 300077-1/2008/17E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Mag. Dr. René BRUCKNER als Vorsitzenden und den Richter Mag. Daniel LEITNER als Beisitzer im Beisein der Schriftführerin Tanja ANTOVIC über den Antrag auf internationalen Schutz der G.M., geb. 00.00.1988, StA. Afghanistan, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 12.11.2008 zu Recht erkannt:

 

Dem Devolutionsantrag der G.M. vom 23.03.2006 wird gemäß § 73 Abs. 2 AVG s t a t t g e g e b e n.

 

G.M. wird gemäß § 7 AsylG 1997 A s y l g e w ä h r t.

 

Gemäß § 12 AsylG 1997 wird festgestellt, dass G.M. damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Verfahrensgang und Sachverhalt

 

I.1. Verfahrensgang

 

1. Die - zum Zeitpunkt der Antragstellung - minderjährige Antragstellerin (in der Folge: Ast.), gesetzlich vertreten durch ihren obsorgeberechtigten Halbbruder G.H., dieser vertreten durch den gewillkürten Vertreter Gerhard WALLNER, Diakonie - Evangelischer Flüchtlingsdienst Österreich, stellte mit Schreiben vom 25.04.2005 an das Bundesasylamt, Erstaufnahmestelle Ost in Traiskirchen (in der Folge: EAST Ost), dort eingelangt am 26.04.2005, schriftlich einen Asylantrag. Nach schriftlicher Aufforderung durch die EAST Ost vom 27.04.2005 brachte die Ast. den Asylantrag am 12.05.2005 persönlich bei der EAST Ost ein.

 

Die Ast. wurde am 19.05.2005 vor der EAST Ost und nach Zulassung des Asylverfahrens am 31.08.2005, vor dem Bundesasylamt, Außenstelle Wien (in der Folge: BAW), niederschriftlich einvernommen (Verfahren AZ. 05 06.020-BAW).

 

2. Mit Schreiben vom 22.03.2006 an den Unabhängigen Bundesasylsenat (in der Folge: UBAS), dort eingelangt am 23.03.2006 (OZ 1), stellte die Ast. einen Devolutionsantrag gemäß § 73 Abs. 2 AVG, da das Bundesasylamt bereits seit elf Monaten keine Entscheidung über ihren Asylantrag getroffen habe.

 

3. Der nunmehr zuständige Senat C9 des Asylgerichtshofes führte in der gegenständlichen Rechtssache am 12.11.2008 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der die Ast. teilnahm. Ein Vertreter des Bundesasylamtes nahm an der Verhandlung nicht teil.

 

I.2. Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens

 

I.2.1. Beweisaufnahme

 

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

 

Einsicht in den dem Asylgerichtshof vorliegenden Verwaltungsakt des BAW (OZ 0), beinhaltend die Niederschriften der Einvernahmen vom 19.05.2005 und 31.08.2005 sowie die im Akt befindlichen Kopien eines afghanischen Personalausweises und eines rumänischen Aufenthaltsdokuments.

 

Einsicht in den am 23.03.2006 beim UBAS eingelangten Devolutionsantrag der Ast.

 

Einvernahme der Ast. im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Asylgerichtshof (OZ 16Z).

 

mündliches Gutachten des nichtamtlichen Sachverständigen Dr. M.K. in der mündlichen Verhandlung vom 12.11.2008 (OZ 16Z).

 

Einsicht in folgende, in der mündlichen Verhandlung eingebrachte Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat der Bf.:

 

Deutsches Auswärtiges Amt, "Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Februar 2008)" vom 07.03.2008 (in der Folge: DAA, Bericht 2008).

 

UK Home Office - UK Border Agency, "Country of Origin Information Report Afghanistan" vom 02.04.2008 (in der Folge: UKHO, Afghanistan 2008).

 

US Department of State, "Country Reports on Human Rights Practices - 2007, Afghanistan" vom 11.03.2008 (in der Folge: USDS, Afghanistan 2007).

 

UNHCR, "Die Sicherheitslage in Afghanistan mit Blick auf die Gewährung ergänzenden Schutzes", UNHCR Kabul vom 18.06.2008 (in der Folge: UNHCR, Sicherheitslage 2008).

 

UNHCR, "UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender", Jänner 2008 (in der Folge: UNHCR, Richtlinien afghanischer Asylsuchender 2008).

 

UNHCR, "UNHCR Country Briefing Folder on Afghanistan" vom März 2007 (in der Folge: UNHCR, Afghanistan 2007).

 

South Asia Human Rights Index 2008.

 

Deutsches Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, "Islamistischer Extremismus und Terrorismus - Militante Organisationen und Strukturen", Band 3 Asien, Teil 1: Afghanistan, Bangladesch, Iran, Pakistan" vom September 2007 (in der Folge: BAMF, Islamistischer Extremismus und Terrorismus - Afghanistan 2007).

 

Bundesasylamt, "Feststellung Afghanistan - Staatsaufbau und Sicherheitslage" vom 19.04.2007 (in der Folge: BAA, Afghanistan - Staatsaufbau 2007).

 

Bundesasylamt, "Feststellung Afghanistan - Die Lage in Kabul" vom 19.04.2007 (in der Folge: BAA, Afghanistan - Die Lage in Kabul 2007).

 

Bundesasylamt, "Feststellung Afghanistan - Rückkehrfragen" vom 19.04.2007 (in der Folge: BAA, Afghanistan - Rückkehrfragen 2007).

 

Bundesasylamt, "Feststellung Afghanistan - Justiz und Menschenrechte" vom 19.04.2007 (in der Folge: BAA, Afghanistan - Justiz und Menschenrechte 2007).

 

Schweizerisches Bundesamt für Migration, "Focus Afghanistan - Zur aktuellen Sicherheitslage" vom 19.11.2007 (BFM, Focus Afghanistan 2007).

 

Schweizerische Flüchtlingshilfe, "Afghanistan Update: Aktuelle Entwicklungen" von Corinne Troxler Gulzar vom 21.08.2008 (in der Folge: SFH, Afghanistan Update 2008).

 

Schweizerische Flüchtlingshilfe, "Afghanistan Update" von Corinne Troxler vom 11.12.2006 (in der Folge: SFH, Afghanistan Update 2006).

 

International Crisis Group, "Afghanistan: The Need For International Resolve", Asia Report Nr. 145 vom 06.02.2008 (in der Folge: ICG, Afghanistan 2008).

 

Afghanistan Independent Human Rights Commission, "Economic and Social Rights in Afghanistan II" vom August 2007 (in der Folge: AIHRC, Afghanistan 2007).

 

Amnesty international Deutschland, "ai Jahresbericht 2007 - Afghanistan" (Berichtszeitraum: 01.01. bis 31.12.2006) (in der Folge: ai, Jahresbericht 2007).

 

Gesellschaft für bedrohte Völker, "Zwei Jahre Afghanistan-Pakt:

Uneingelöste Versprechen: Menschenrechte und Wiederaufbau in Gefahr", Menschenrechtsreport 53, Juni 2008 (in der Folge: GfbV, Menschenrechtsreport 53, 2008).

 

Human Rights Watch, "Country Summary Afghanistan", Jänner 2008 (in der Folge: HRW, Afghanistan 2008).

 

Dr. B.G., Gutachterliche Stellungnahme an das OVG Rheinland-Pfalz vom 31.01.2008 zu AZ. 6 A 10748/07.OVG.

 

I.2.2. Ermittlungsergebnis (Sachverhalt)

 

Der Asylgerichtshof geht auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt aus:

 

a) Zur Person der Antragstellerin:

 

Die Ast. führt den Namen G.M., ist am 00.00.1988 Kabul (Afghanistan) geboren, Staatsangehörige der Islamischen Republik Afghanistan und zugehörig zur Volksgruppe der Turkmenen. Sie gehört der muslimischen Religionsgemeinschaft an.

 

Die Ast. ist ledig und hat keine Kinder und lebt gemeinsam mit ihrem Halbbruder G.H., geb. 00.00.1985, österreichischer Staatsbürger, in Wien. Die Ast. und ihr Halbbruder haben den gleichen leiblichen Vater.

 

Die Ast. spricht die afghanische Landessprache Dari nur sehr mangelhaft; schreiben kann sie in Dari überhaupt nicht. Die Ast. spricht Rumänisch und sehr gut Deutsch.

 

Die Ast. besucht derzeit das dritte und letzte Schuljahr der Fachschule für Modedesign Wien.

 

2. Die Ast. reiste im Jahr 1996 als Kind gemeinsam mit ihrer Mutter von Afghanistan nach Rumänien. Ihr Vater kam zwei oder drei Jahre später nach Rumänien nach. Die Mutter der Ast. ist am 02.03.2000 an Asthma und ihr Vater am 06.02.2002 an einem Herzleiden in Rumänien gestorben. Die Mutter stellte am 15.04.1997 in Rumänien einen Asylantrag für ihre minderjährige Tochter, die Ast. Mit Beschluss vom 09.03.1998, wurde der Ast. in Rumänien der Flüchtlingsstatus zuerkannt.

 

3. Die Ast. reiste am 28.09.2004 vom Flughafen Otopeni (Rumänien) mit einem bis 21.09.2005 gültigen Konventionsreisepass legal aus Rumänien aus und flog nach Italien, wo sie legal mit einem Visum einreiste. Die Ast. blieb ca. 5 Monate in Italien, wo sie in einer ihr unbekannten Stadt bei einer afghanischen Familie lebte. Ungefähr Ende März/Anfang April 2005 reiste die Ast. mit dem Zug unrechtmäßig in Österreich ein. Seit ihrer Einreise in Österreich lebt die Ast. bei ihrem Halbbruder in Wien.

 

Der konkrete Grund für die Einreise nach Österreich war die Absicht der Ast., fortan gemeinsam mit ihrem Halbbruder in Österreich zu leben, zumal sie in Rumänien, ihrem bisherigen Aufenthaltsstaat, keine familiären Bindungen mehr hatte.

 

4. Der konkrete Grund für das Verlassen ihres Herkunftsstaates im Jahr 1996 in Begleitung ihrer Mutter konnte nicht festgestellt werden.

 

5. Die Ast. ist von ihrem äußeren Erscheinungsbild und ihrer Einstellung her eindeutig an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten Frauenbild orientiert.

 

b) Zur Lage im Herkunftsstaat der Antragstellerin:

 

Der Asylgerichtshof trifft auf Grund der in der mündlichen Verhandlung in das Verfahren eingeführten aktuellen Quellen folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat der Ast.:

 

1. Zur allgemeinen politischen Lage:

 

1.1. Afghanistan befindet sich nach 23 Jahren Bürgerkrieg und kriegerischer Auseinandersetzungen in einem langwierigen Wiederaufbauprozess. Weitere Anstrengungen sind nötig, um die bisherigen Stabilisierungserfolge zu sichern und die Zukunftsperspektiven der afghanischen Bevölkerung nachhaltig zu verbessern.

 

1.2. Die Sicherheitslage stellt sich regional sehr unterschiedlich dar. Gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Akteuren (staatliche Sicherheitskräfte und internationale Stabilisierungstruppe [ISAF], regierungsfeindliche Gruppen, rivalisierende Milizen, bewaffnete Stammesgruppen sowie organisierte Drogenbanden) dauern in etlichen Provinzen an oder können jederzeit wiederaufleben. Seit Frühjahr 2007 ist vor allem im Süden und Osten des Landes ein Anstieg gewaltsamer Übergriffe regruppierter Taliban und anderer regierungsfeindlicher Kräfte zu verzeichnen. Die Zahl der Selbstmordanschläge und Angriffe mit Sprengfallen von regierungsfeindlichen Kräften haben 2007 erheblich zugenommen.

 

1.3. Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Die Wirtschaftslage ist weiterhin desolat, auch wenn ein bescheidener wirtschaftlicher Aufschwung in manchen Städten (zB Kabul, Herat) eingesetzt hat. Erste Schritte zur Verbesserung der Rahmenbedingungen sind eingeleitet. Der strenge Winter 2007/2008 hat in weiten Landesteilen (vor allem im Westen und Norden) zu dramatischen Versorgungsengpässen geführt.

 

1.4. Ein funktionierendes Verwaltungs- und Justizwesen fehlt weitgehend. In der Gerichtsbarkeit besteht keine Einigkeit über die Anwendung der verschiedenen Rechtsquellen (staatliche Gesetze, Scharia oder Gewohnheitsrecht). Rechtsstaatliche Verfahrensprinzipien werden häufig nicht eingehalten.

 

1.5. Die Menschenrechtssituation verbessert sich nur langsam. Dies gilt auch für die Lage der Frauen in Afghanistan, selbst wenn die gegen sie gerichteten Verbote aus der Taliban-Zeit formal aufgehoben sind. Die größte Bedrohung der Menschenrechte geht von lokalen Machthabern und Kommandeuren ("warlords") aus. Die Zentralregierung kann diese Täter nur begrenzt kontrollieren bzw. ihre Taten untersuchen und sie vor Gericht bringen. Entscheidend ist es daher, die angestrebte Ausdehnung des Machtbereichs der Zentralregierung auf das gesamte Land zügig voranzutreiben. Noch verfügt die Zentralregierung nicht über das Machtmonopol, um die Bürger ausreichend zu schützen.

 

1.6. Die humanitäre Situation stellt das Land vor allem mit Blick auf die mehr als 4,5 Millionen - meist aus Pakistan zurückgekehrten - Flüchtlinge vor große Herausforderungen. Knapp 3,4 Millionen afghanische Flüchtlinge halten sich noch im Iran und in Pakistan auf. Die Bemühungen des UNHCR bei der Rückführung von Flüchtlingen werden durch die schlechte Sicherheitslage, die weitgehend fehlenden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zum Aufbau einer Existenz sowie die schwache Verwaltungsstruktur der afghanischen Behörden beeinträchtigt.

 

1.7. Rückkehrer können auf Schwierigkeiten stoßen, wenn sie außerhalb des Familienverbandes oder nach einer längeren Abwesenheit im (westlich geprägten) Ausland zurückkehren und ihnen ein soziales oder familiäres Netzwerk sowie Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse fehlen. (DAA, Bericht 2008, 5).

 

2. Zur Situation der Frauen in Afghanistan:

 

2.1. Frauenrechte in der Rechtsordnung:

 

Die Menschenrechtslage afghanischer Frauen war bereits vor dem Taliban-Regime durch orthodoxe Scharia-Auslegungen und archaisch-patriarchalische Ehrenkodizes geprägt. Diese Prägung wirkt immer noch nach. Während Frauenrechte in der Verfassung und teilweise im staatlichen Recht gestärkt werden konnten, liegt deren Verwirklichung für den größten Teil der afghanischen Frauen noch in weiter Ferne.

 

Zwar unterscheidet sich die Lage der Frauen je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark. Auch die unbefriedigende Sicherheitslage in weiten Landesteilen erlaubt es den Frauen nicht, die mit Überwindung der Taliban und ihrer frauenverachtenden Vorschriften erwarteten Freiheiten wahrzunehmen. Die meisten Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern bestimmt wird sowie kaum qualifizierte Anwälte zur Verfügung stehen, in den seltensten Fällen möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage - oder aufgrund konservativer Wertvorstellungen nicht gewillt -, Frauenrechte zu schützen (DAA, Bericht 2008, 18).

 

Frauen werden weiterhin in Familien-, Erb-, Zivilverfahren- sowie im Strafrecht benachteiligt. Dies gilt vor allem hinsichtlich des Straftatbestands "Ehebruch", wonach selbst Opfer von Vergewaltigungen bestraft werden können. Es gibt Berichte, dass Frauen wegen "Ehebruchs" von Ehemännern oder anderen Familienmitgliedern umgebracht werden (so genannte "Ehrenmorde", die besonders in den paschtunischen Landesteilen vorkommen können). Das durchschnittliche Heiratsalter von Mädchen liegt bei 15 Jahren, obwohl ein Mindestheiratsalter von 16 Jahren gesetzlich verankert ist. Zwangsheirat bereits im Kindesalter, "Austausch" weiblicher Familienangehöriger zur Beilegung von Stammesfehden sowie weit verbreitete häusliche Gewalt kennzeichnen die Situation der Frauen. Immer wieder gibt es Pressemeldungen über Gruppenvergewaltigungen. Opfer sexueller Gewalt sind dabei auch innerhalb der Familie stigmatisiert. Das Sexualdelikt wird in der Regel als "Entehrung" der gesamten Familie aufgefasst. Sexualverbrechen zur Anzeige zu bringen hat aufgrund des desolaten Zustands des Sicherheits- und Rechtssystems wenig Aussicht auf Erfolg. Der Versuch endet u.U. mit der Inhaftierung der Frau, sei es aufgrund unsachgemäßer Anwendung von Beweisvorschriften oder zum Schutz vor der eigenen Familie, die eher die Frau oder Tochter eingesperrt als ihr Ansehen beschädigt sehen will. Viele Frauen sind wegen so genannter Sexualdelikte inhaftiert, weil sie sich beispielsweise einer Zwangsheirat durch Flucht zu entziehen versuchten, vor einem gewalttätigen Ehemann flohen oder ihnen vorgeworfen wurde, ein uneheliches Kind geboren zu haben (DAA, Bericht 2008, 19).

 

Es gibt keine staatliche Vorschrift, die zum Tragen der Burka verpflichtet. Die meisten Afghaninnen tragen sie dennoch, auch aus Furcht vor Übergriffen. In Kabul ging der Gebrauch der Burka v.a. in akademisch geprägten Milieus und unter Oberschülerinnen zwar zurück, ist aber insgesamt auch hier nach wie vor verbreitet. Vielfach geben Frauen an, dass sie die Burka angesichts einer nach wie vor schwierigen Sicherheitslage wie einer außerordentlich patriarchalisch geprägten Gesellschaft auch nach dem Machtwechsel tragen, weil sie ihnen ein Gefühl der Sicherheit vermittle. Sie war auch vor der Taliban-Herrschaft bei der weiblichen Bevölkerung auf dem Lande ein übliches Kleidungsstück. Der im Mai 2003 gegründete "Islamische Rat", dem Geistliche aus allen Landesteilen angehören, hat die Beachtung der "Hijab"- Kleidervorschriften (Schleier, langes Kleid), nicht jedoch der Burka gefordert (DAA, Bericht 2008, 19).

 

2.2. Gewalt gegen Frauen:

 

Die Situation afghanischer Frauen hat sich seit dem Sturz der Taliban-Herrschaft teilweise verschlechtert. Die Bewegungsfreiheit bleibt, mit regionalen Unterschieden, stark eingeschränkt. Die registrierten Fälle physischer Gewalt gegenüber Frauen sind seit März 2007 um rund 40 Prozent gestiegen: 2374 registrierte Übergriffe im Jahr 2007 (Januar bis November 2006: 1545 Fälle). Die Dunkelziffer dürfte wesentlich höher liegen. In diesem Zeitraum haben rund 626 Frauen einen Selbstmordversuch begangen. Erzwungene Heiraten, häusliche Gewalt, sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen, Frauenhandel und Ehrenmorde gehören zu den gegen Frauen angewandten Gewaltformen. Die Täter sind meist männliche Familienmitglieder. Wenn Frauen Anzeige erstatten, werden sie oft genau den von ihnen angezeigten Männern ausgeliefert. Vieles deutet darauf hin, dass die staatlichen Akteure in

 

Afghanistan nicht in der Lage oder wegen konservativ-islamischen Wertevorstellungen nicht gewillt sind, Frauen zu schützen. Frauen bleiben meist ihrem Schicksal überlassen (SFH, Afghanistan Update 2008).

 

In der Region Herat gelten weiterhin verschiedene Restriktionen aus der Taliban-Zeit. Mädchen und Frauen sind dort in ihrer Bewegungs- und Handlungsfreiheit aufgrund eines ausgeprägten traditionellen Verhaltenskodex stark eingeschränkt. In dieser Region wird - mit abnehmender Tendenz - eine erhebliche Zahl von Selbstverbrennungen von Frauen verzeichnet. Überwiegend handelt es sich dabei um aus dem Iran zurückgekehrte Flüchtlingsfrauen, von denen angenommen wird, dass sie sich vorwiegend aus Verzweiflung wegen Kinder- und Zwangsverheiratung selbst verbrannt haben. Verlässliche Statistiken liegen nicht vor (DAA, Bericht 2008, 19).

 

2.3. Frauen und Bildung:

 

Afghanische Frauen waren unter den Taliban seit 1996 von jeglicher Bildung ausgeschlossen. Die Analphabetenrate der Frauen liegt Schätzungen zufolge in der Größenordnung von 90 %. Für die wenigen hochqualifizierten Afghaninnen hat sich jedoch der Zugang zu adäquaten Tätigkeiten bei der Regierung verbessert. Die Entwicklungsmöglichkeiten für Mädchen und Frauen bleiben durch die strenge Ausrichtung an Traditionen und fehlender Schulbildung weiterhin wesentlich eingeschränkt. Nur fünf Prozent der Mädchen besuchten Höhere Schulen. (DAA, Bericht 2008, 19).

 

Der Zugang zu Bildung, Gesundheit und Arbeit steht jedoch vielen Frauen nur theoretisch offen, praktisch sind sie die am meisten von Armut, Diskriminierung und Rechtlosigkeit betroffene Bevölkerungsgruppe geblieben. In vielen Landesteilen sind sie vom öffentlichen Leben weiterhin weitgehend ausgeschlossen. Gezielte Übergriffe radikal-muslimischer Kräfte auf Frauen und Mädchen sind alltäglich. So soll der Schulbesuch von Mädchen verhindert werden (GfbV, Menschenrechtsreport 53, 2008, 21).

 

2.4. Zwangsverheiratungen:

 

Jedes Jahr töten sich mehrere hundert Frauen aus Verzweiflung über Entführungen, Zwangsheirat und Gewalt selbst. Sogar Mädchen im Alter von nur sechs Jahren werden zwangsweise verheiratet. Sie werden nicht nur durch ihre Männer sondern auch durch deren Familienangehörige mit Vergewaltigung und einem Leben in Sklaverei bedroht. Oft dürfen sie nach der Heirat ihre eigenen Eltern und andere Familienangehörige nicht mehr sehen und es wird ihnen der Schulbesuch verboten. Da viele dieser Mädchen ihre Rechte entweder gar nicht kennen oder zumindest nicht wissen, wie sie diese einfordern könnten, sehen sie als einzigen Ausweg allzu oft nur die Selbstverbrennung. Gemäß einer Studie der Organisation "Womankind" beklagen 87 Prozent der Frauen, Opfer von Gewalt in der Ehe oder im öffentlichen Leben geworden zu sein (Independent, 25.02.2008). Die Hälfte aller Übergriffe sei sexuell motiviert. Seit März 2007 hat nach UN-Angaben die Zahl der offiziell registrierten Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen um 40 Prozent zugenommen (IRIN; 08.03.2008). Diese erschreckenden Zahlen sind vermutlich auf eine gestiegene Bereitschaft bei Frauen zurückzuführen, Gewalttaten anzuzeigen, die zuvor in der hohen Dunkelziffer verschwanden. Mehr als 60 Prozent aller Eheschließungen erfolgten laut "Womankind" unter Zwang. 57 Prozent der Bräute seien jünger als 16 Jahre alt (GfbV, Menschenrechtsreport 53, 2008, 21 f).

 

Entsprechend den Berichten der Afghanistan Independet Human Rights Commission sind 68-80 % der Ehen in Afghanistan sog. "Zwangsehen" (South Asia Human Rights Index 2008).

 

2.5. Gesundheitliche Situation für Frauen:

 

Auch für werdende Mütter ist die gesundheitliche Situation noch immer katastrophal. Aufgrund mangelnder ärztlicher Versorgung stirbt eine von neun Müttern bei der Geburt ihres Kindes. Nur im westafrikanischen Staat Sierra Leone ist die Situation ebenso dramatisch. Alle 27 Minuten stirbt in Afghanistan eine Frau aufgrund von Komplikationen während der Schwangerschaft (Radio Free Asia, 10.05.2008). Nur 14 Prozent aller Frauen seien im Jahr 2006 während der Geburt von ausgebildetem medizinischem Personal begleitet worden. Aufgrund des Jahrzehnte langen Bürgerkrieges sind rund 1,5 Millionen Frauen zu Witwen geworden (IRIN, 30.01.2008). Ihre Lage ist besonders schlimm, da sie keine finanzielle Unterstützung erhalten und sich und ihre Kinder oft nur mit Betteln ernähren können. 94 Prozent von ihnen können weder lesen noch schreiben. Dabei sind sie noch jung, durchschnittlich 35 Jahre, und haben meist vier Kinder. In ihrer Not ernähren sich immer mehr junge Frauen durch Prostitution, die offiziell verboten ist. Mit Schmiergeldern werden korrupte Polizisten zum Stillhalten bewegt. Dringend muss der Schutz von Frauen verbessert werden; die internationale Gemeinschaft muss von der Regierung nachdrücklich eine Umsetzung der in der Verfassung und in Gesetzen verbrieften Frauenrechte fordern (GfbV, Menschenrechtsreport 53, 2008, 22).

 

Die durchschnittliche Lebenserwartung für Frauen in Afghanistan liegt bei ca. 44 bis 46 Jahren (South Asia Human Rights Index 2008; HRW, Afghanistan 2008).

 

2.6. Frauen mit bestimmten Profilen:

 

Afghanische Frauen müssen sich sowohl in städtischen als auch in ländlichen Gegenden den konservativen und traditionellen Verhaltensnormen anpassen, um vor physischer und psychologischer Gewalt oder Missbrauch sicher zu sein. Einer erhöhten Gefährdung sind sowohl Frauen, die angeblich oder tatsächlich gegen die vorherrschenden sozialen Normen verstoßen, als auch ausländische Frauen afghanischer Männer, sowie Frauen ohne männlichen Schutz ausgesetzt.

 

Allein stehende Frauen ohne männlichen Schutz (Ehemann, Vater, Bruder oder entfernte Familienmitglieder) werden - angesichts der in vielen Gegenden bestehenden sozialen Einschränkung, sich nicht ohne männliche Begleitung in der Öffentlichkeit zu bewegen - sowohl Schwierigkeiten bei der Sicherung ihres Lebensunterhaltes als auch Probleme in Bezug auf ihren physischen Schutz haben. Frauen, die als Opfer von häuslicher Gewalt in der glücklichen Lage sind, eine Unterkunft in einer der wenigen Unterbringungseinrichtungen zu erhalten, ist es nicht möglich, sich an einem anderen Ort im Land zu integrieren. Ohne eine alternative dauerhafte Lösung kehren die meisten schließlich zu ihren Familien zurück, nachdem gewisse Zusagen über ihre Sicherheit ausgehandelt wurden. Diese Situation belegt, dass allein stehende Frauen ohne ein die traditionelle Schutzfunktion übernehmendes männliches Familienmitglied in Afghanistan nicht sicher leben können (UNHCR, Richtlinien afghanischer Asylsuchender 2008, 3 f).

 

2.7. Frauenrechtsorganisationen:

 

Im Jänner 2003 wurde die von UNIFEM (United Nations Development Fund for Women) finanziell unterstützte "Afghan Women Judges Association" gegründet, deren Ziel es ist, eine aktive Beteiligung von Richterinnen und Anwältinnen in der Justiz zu sichern und gleichzeitig juristischen Beistand für afghanische Frauen bei der Durchsetzung ihrer Rechte bereitzustellen. Außerdem engagieren sich zunehmend Nichtregierungsorganisationen für eine stärkere Beachtung der Frauenrechte. Insbesondere versuchen sie, Frauen in Strafprozessen zu unterstützen (so zB die deutsche Organisation medica mondiale).

 

Im Jänner 2006 wurde der "Interim National Action Plan for Women of Afghanistan" (i- NAPWA) vorgestellt, der mit Unterstützung von UNIFEM erarbeitet wurde, aber immer noch nicht in Kraft getreten ist. Der i-NAPWA soll helfen, die Situation der Frauen in Afghanistan zu verbessern, insbesondere ihre Diskriminierung abzuschaffen, die Entfaltung ihrer Fähigkeiten zu ermöglichen und ihnen volle und gleichberechtigte Beteiligung in allen Lebensbereichen zu gewähren. (DAA, Bericht 2008, 19 f).

 

3. Sachverständigengutachten

 

Zu den Angaben der Ast. in der mündlichen Beschwerdeverhandlung und zur relevanten Situation in Afghanistan im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit der von der Ast. vorgebrachten Gefährdungen im Falle ihrer Rückkehr erstattete der für das gegenständliche Verfahren bestellte nichtamtliche Sachverständige Dr. M.K. (SV) in der mündlichen Verhandlung vom 12.11.2008 auf Befragen des vorsitzenden Richters (VR) folgendes Gutachten, dessen Inhalt als Sachverhalt festgestellt wird (Auszug aus der Niederschrift über die mündliche Beschwerdeverhandlung vom 12.11.2008):

 

"VR an SV: Wie würde sich die Situation einer 20jährigen jungen Frau im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan darstellen, wenn diese dort über keinerlei familiäre Bindung verfügt?

 

SV: Es gibt eine sehr einfache Antwort: Die Situation ist sehr schwer. Auf eigenen Beinen zu stehen ohne Familie bringt die Gefahr mit sich, dass man schon fast wie "Freiwild" ist. Denn einen beruflichen Aufbau ohne Schutz durch männliche Personen durchzuführen, ist mit der Gefahr verbunden, dass man sich an gesetzlose und kriminelle Personen ausliefert. Die Unsicherheit ist schon so groß geworden, dass sich jede junge Frau überhaupt hüten muss, sich alleine als eigenständige Persönlichkeit ein Leben einzurichten.

 

VR an SV: Was würde unmittelbar nach der Rückkehr einer unbegleiteten jungen Frau passieren?

 

SV: Das ist schwer zu beantworten. Wenn sie überhaupt niemand kennt, würde sich wahrscheinlich nach Kabul kommen und sich an eine NGO oder Mission wenden müssen, eher das, als an eine Stelle des afghanischen Staates, um eben die ersten Monate irgendwie zu überstehen."

 

I.3. Beweiswürdigung

 

I.3.1.

 

Der Verfahrensgang ergibt sich aus den zur gegenständlichen Rechtssache vorliegenden Akten des BAW und des Asylgerichtshofes.

 

I.3.2.

 

1. Die Feststellungen zur Identität (Name und Alter), Staatsangehörigkeit und Herkunft der Ast. sowie ihrem persönlichen Umfeld und ihren Lebensbedingungen ergeben sich aus den diesbezüglich glaubwürdigen Angaben im Verfahren vor dem BAW (OZ 0) und in der mündlichen Verhandlung vor dem Asylgerichtshof (OZ 16Z), in der die Ast. insgesamt einen persönlich glaubwürdigen Eindruck erweckte.

 

Die Angaben zu ihrem Namen, ihrem Alter und ihrer Staatsangehörigkeit werden zudem durch die von der Ast. vor dem Bundesasylamt in Vorlage gebrachten Dokumente (afghanischer Personalausweis und rumänisches Aufenthaltsdokument; siehe Kopien im Akt des BAW, AS 35 bis 51) bestätigt. Eine Untersuchung beider Dokumente durch den Gendarmerieposten Traiskirchen ergab, dass kein Hinweis auf das Vorliegen einer Verfälschung festgestellt werden konnte (Akt des BAW, AS 109 und 111).

 

Die Feststellung über ihre Rumänisch-Sprachkenntnisse ergibt aus den diesbezüglich glaubwürdigen Angaben der Ast. im Verfahren und dem Umstand, dass die Ast. bereits im Alter von acht Jahren nach Rumänien kam und dort neun Jahre lebte. Die Feststellung über die sehr guten Deutsch-Kenntnisse der Ast. basiert auf der unmittelbaren Wahrnehmung des erkennenden Senats in der mündlichen Verhandlung, welche auf ausdrücklichen Antrag der Ast. zu Beginn der Verhandlung in deutscher Sprache durchgeführt wurde. Auf Befragen am Ende der Verhandlung gab die Ast. an, keine Verständigungsschwierigkeiten gehabt zu haben.

 

2. Die Feststellung betreffend den Aufenthalt der Ast. in Rumänien, ihrem dortigen Aufenthaltsstatus (anerkannter Flüchtling) und ihrer Ausreise aus Rumänien ergibt sich aus einer Auskunft der rumänischen Botschaft in Wien an das BAW vom 23.03.2006 (OZ 9).

 

Die Feststellung zum Tod ihrer Eltern ergibt sich aus der im Akt des BAW inliegenden Kopien der beiden rumänischen Sterbeurkunden samt deutscher Übersetzungen (AS 119 bis 125). 3. Die Feststellungen zur Ausreise aus Rumänien, ihrem Aufenthalt in Italien und ihrer illegalen Einreise in Österreich sowie dem konkreten Grund ihrer Einreise in Österreich basieren auf den diesbezüglich glaubwürdigen Angaben der Ast. in der mündlichen Verhandlung vor dem Asylgerichtshof.

 

4. Der Umstand, dass der konkrete Grund für das Verlassen ihres Heimatstaates nicht festgestellt werden konnte, liegt am kindlichen Alter der Ast. zum Zeitpunkt der Ausreise aus Afghanistan, dem Tod ihrer Eltern und dem damit im Zusammenhang stehenden eingeschränkten Wahrnehmungs- und Erinnerungsvermögen. Es erscheint daher glaubwürdig, dass die Ast. angab, nicht zu wissen, warum die Eltern Afghanistan verlassen hatten und dies nur ihre Eltern wissen konnten.

 

5. Die Feststellung zu der als "westlich" zu bezeichnenden Orientierung der Ast. hinsichtlich ihres Frauenbildes ergibt sich aus dem persönlichen Eindruck und dem äußeren Erscheinungsbild der Ast. in der mündlichen Verhandlung vor dem Asylgerichtshof. Sie trug westlich geprägte Kleidung, Schmuck, war geschminkt (Gesicht und Fingernägel) und trug einen modischen Haarschnitt, wobei der Kopf unbedeckt war.

 

6. Im Übrigen ist im Verfahren nichts hervorgekommen, das an der Richtigkeit der Aussagen der Ast. zu ihrer Person Zweifel aufkommen ließ.

 

I.3.3.

 

1. Die getroffenen Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat der Ast. ergeben sich aus einer Gesamtschau der angeführten und in der mündlichen Verhandlung in das Verfahren eingebrachten aktuellen herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen.

 

Hierbei wurden Berichte verschiedener ausländischer Behörden, etwa die allgemein anerkannten Berichte des deutschen Auswärtigen Amtes, des schweizerischen Bundesamtes für Migration, des britischen UK Home Office (Border Agency) und des US Department of State, ebenso herangezogen, wie auch von internationalen Organisationen wie dem UNHCR oder allgemein anerkannten und unabhängigen Nichtregierungsorganisationen, wie der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, der Gesellschaft für bedrohte Völker, Human Rights Watch oder Amnesty International.

 

Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der überwiegend übereinstimmenden Aussagen darin, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.

 

2. Die in der mündlichen Verhandlung in das Verfahren eingebrachten Erkenntnisquellen zur Lage im Herkunftsstaat wurden den Parteien zur Akteneinsicht angeboten. Auf die der Ast. eingeräumte Möglichkeit zur Abgabe einer diesbezüglichen Stellungnahme wurde seitens der Ast. verzichtet. Die Parteien sind weder den in das Verfahren eingeführten Quellen noch den auf diesen beruhenden und in der mündlichen Verhandlung erörterten Feststellungen substanziiert entgegengetreten.

 

3. Das in der mündlichen Verhandlung erstattete mündliche Gutachten des nichtamtlichen landeskundlichen Sachverständigen war vollständig, schlüssig und widerspruchsfrei. Die geäußerten Schlussfolgerungen des Sachverständigen deckten sich im Übrigen inhaltlich mit den vom Asylgerichtshof in das Verfahren eingebrachten aktuellen herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen.

 

An der Fachkenntnis, der Unparteilichkeit und der Unbefangenheit des vom Asylgerichtshof in der mündlichen Verhandlung bestellten und beeideten landeskundlichen Sachverständigen sind im Verfahren keine Zweifel aufgekommen. Weder gegen die Person des Sachverständigen noch gegen das von ihm in der mündlichen Verhandlung erstattete Gutachten wurden seitens der Parteien Einwendungen erhoben.

 

4. Im Übrigen hat die Ast. im gesamten Verfahren keinerlei Gründe dargelegt, die an der Richtigkeit der Informationen zur Lage in seinem Herkunftsstaat Zweifel aufkommen ließen.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

II.1. Anzuwendendes Recht

 

1. In der gegenständlichen Rechtssache sind gemäß der Übergangsbestimmung des § 75 Abs. 1 des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, iVm. § 44 Abs. 2 des Asylgesetzes 1997 (AsylG 1997), BGBl. I Nr. 76/1997 idF der AsylG-Novelle 2003, BGBl. I Nr. 101/2003, die Bestimmungen des Asylgesetzes 1997 idF der AsylG-Novelle 2003, BGBl. I Nr. 101/2003, anzuwenden, zumal der Asylantrag der Ast. am 26.04.2005 und damit nach dem relevanten Stichtag 01.05.2004 gestellt wurde.

 

2. Weiters anzuwenden sind die Bestimmungen des Asylgerichtshofgesetzes (AsylGHG), BGBl. I Nr. 4/2008, und gemäß § 23 AsylGHG die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 (AVG), BGBl. Nr. 51/1991, sowie die Bestimmungen des Zustellgesetzes (ZustG), BGBl. Nr. 200/1982, alle in der jeweils geltenden Fassung.

 

3. Der Asylgerichtshof hat gemäß Art. 151 Abs. 39 Z 4 des Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG), BGBl. Nr. 1/1930 (WV) idF BGBl. I Nr. 2/2008, ab 01.07.2008 die beim UBAS anhängigen Verfahren weiterzuführen. An die Stelle des Begriffs "Berufung" tritt gemäß § 23 des Asylgerichtshofgesetzes (AsylGHG), BGBl. I Nr. 4/2008, mit Wirksamkeit ab 01.07.2008 der Begriff "Beschwerde". Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Bestimmungen über die Einrichtung des Asylgerichtshofes finden sich in den Art. 129c ff. B-VG.

 

4. Gemäß § 75 Abs. 7 AsylG 2005 idF des Asylgerichtshof-Einrichtungsgesetzes, BGBl. I Nr. 4/2008, sind am 01.07.2008 beim UBAS anhängige Verfahren vom Asylgerichtshof nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen weiterzuführen:

 

Mitglieder des UBAS, die zu Richtern des Asylgerichtshofes ernannt worden sind, haben alle bei ihnen anhängige Verfahren, in denen bereits eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, als Einzelrichter weiterzuführen.

 

Verfahren gegen abweisende Bescheide, in denen eine mündliche Verhandlung noch nicht stattgefunden hat, sind von dem nach der ersten Geschäftsverteilung des Asylgerichtshofes zuständigen Senat weiterzuführen.

 

Verfahren gegen abweisende Bescheide, die von nicht zu Richtern des Asylgerichtshofes ernannten Mitgliedern des UBAS geführt wurden, sind nach Maßgabe der ersten Geschäftsverteilung des Asylgerichtshofes vom zuständigen Senat weiterzuführen.

 

5. Gemäß § 9 Abs. 1 AsylGHG entscheidet der Asylgerichtshof in Senaten, sofern bundesgesetzlich nicht die Entscheidung durch Einzelrichter oder verstärkte Senate (Kammersenate) vorgesehen ist.

 

6. Die gegenständliche Rechtssache wurde bis 30.06.2008 von einem zum Richter des Asylgerichtshofes ernannten Mitglied des UBAS geführt. Eine mündliche Verhandlung in der gegenständlichen Rechtssache fand bis 30.06.2008 nicht statt. Gemäß § 75 Abs. 7 Z 2 AsylG 2005 idF des Asylgerichtshof-Einrichtungsgesetzes war das Verfahren daher von dem nach der Geschäftsverteilung des Asylgerichtshofes zuständigen Senat C9 weiterzuführen, zumal kein Fall einer Einzelrichterzuständigkeit iSd. § 61 Abs. 3 AsylG 2005 vorgelegen ist.

 

II.2. Zur Zulässigkeit und Stattgebung des Devolutionsantrages

 

1. Gemäß § 73 Abs. 1 AVG iVm. Art. I Abs. 2 Z 30 des Einführungsgesetzes zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen 2008 (EGVG), BGBl. I Nr. 87/2008 (WV), ist das Bundesasylamt verpflichtet, wenn in den Verwaltungsvorschriften nicht anderes bestimmt ist, über Anträge von Parteien (§ 8 AVG) ohne unnötigen Aufschub, spätestens aber sechs Monate nach deren Einlagen den Bescheid zu erlassen. Sofern sich in verbundenen Verfahren (§ 39 Abs. 2a AVG) aus den anzuwendenden Rechtsvorschriften unterschiedliche Entscheidungsfristen ergeben, ist die zuletzt ablaufende maßgebend.

 

2. Wird der Bescheid nicht innerhalb der Entscheidungsfrist erlassen, so geht gemäß § 73 Abs. 2 AVG auf schriftlichen Antrag der Partei die Zuständigkeit zur Entscheidung auf die sachlich in Betracht kommende Oberbehörde, wenn aber gegen den Bescheid Berufung an den unabhängigen Verwaltungssenat erhoben werden könnte, auf diesen über (Devolutionsantrag). Der Devolutionsantrag ist bei der Oberbehörde (beim unabhängigen Verwaltungssenat) einzubringen. Er ist abzuweisen, wenn die Verzögerung nicht auf ein überwiegendes Verschulden der Behörde (hier: des Bundesasylamtes) zurückzuführen ist.

 

Der bis 30.06.2008 bestehende UBAS war als unabhängiger Verwaltungssenat des Bundes eingerichtet, der zur Entscheidung über Berufungen gegen Bescheide des Bundesasylamtes zuständig war (Art. 129c B-VG und § 61 AsylG 2005 iVm. Art. II Abs. 2 Z 43a EGVG iVm. § 67a Abs. 2 AVG in der jeweils bis 30.06.2008 geltenden Fassung).

 

3. Gemäß § 73 Abs. 3 AVG beginnt für die Oberbehörde (hier bis 30.06.2008: den UBAS) die Entscheidungsfrist mit dem Tag des Einlangens des Devolutionsantrages zu laufen. Der UBAS entscheidet auf Grund des Devolutionsantrages nicht als Rechtsmittelinstanz sondern anstelle der untätigen Behörde (VwSlg. 9950 A/1979; VfSlg. 10.488/1985). Ist die Zuständigkeit übergegangen und der Devolutionsantrag nicht abzuweisen, hat der UBAS in der Sache selbst zu entscheiden.

 

4. Gemäß § 75 Abs. 7 AsylG 2005 idF des Asylgerichtshof-Einrichtungsgesetzes, BGBl. I Nr. 4/2008, sind am 01.07.2008 beim UBAS anhängige Verfahren vom Asylgerichtshof weiterzuführen, weshalb auch die Zuständigkeit zur Entscheidung in anhängigen Verfahren auf Grund eines Devolutionsantrages mit 01.07.2008 wiederum vom UBAS auf den Asylgerichtshof übergegangen ist.

 

5. Der gegenständliche Devolutionsantrag ist zulässig und es war ihm stattzugeben, wodurch von Gesetzes wegen die Zuständigkeit zur Entscheidung des Asylantrages der Ast. schließlich mit 01.07.2008 auf den Asylgerichtshof übergegangen ist:

 

5.1. Der gegenständliche Asylantrag der Ast. wurde schriftlich gestellt und langte am 26.04.2005 beim Bundesasylamt ein. Der Antrag wäre daher bis spätestens 26.10.2005 bescheidmäßig zu entscheiden gewesen. Da am 26.10.2005 noch kein Bescheid erlassen wurde, war das Bundesasylamt säumig.

 

5.2. Die Ast. stellte mit Schreiben vom 22.03.2006 an den UBAS einen Devolutionsantrag, welcher am 23.03.2006 beim UBAS einlangte. Dieser Devolutionsantrag war zulässig, womit mit 23.03.2006 die Zuständigkeit zur Entscheidung von Gesetzes wegen auf den UBAS und am 01.07.2008 auf den Asylgerichtshof übergegangen ist (vgl. VfSlg. 10.017/1984 und VwGH 31.01.1995, Zl. 93/08/0021).

 

5.3. Der Devolutionsantrag wäre abzuweisen gewesen, wenn die Verzögerung nicht auf ein überwiegendes Verschulden des Bundesasylamtes zurückzuführen gewesen wäre. Das war in der gegenständlichen Rechtssache nicht der Fall: Ein überwiegendes Verschulden der Behörde ist dann anzunehmen, wenn die Verzögerung weder durch das Verschulden der Partei noch durch unüberwindliche, zB gesetzliche Hindernisse verursacht worden ist (VwSlg. 8426 A/1973; VwGH 03.02.1977, Zl. 1146/76; VwGH 20.06.1980, Zl. 1567/76; VwGH 26.02.1985, Zl. 84/07/0365; VwSlg. 13.508 A/1991). Da weder ein Verschulden der Ast. noch unüberwindliche Hindernisse vorlagen, war ein überwiegendes Verschulden des Bundesasylamtes anzunehmen.

 

II.3. Zu Spruchpunkt II (Asylgewährung)

 

1. Gemäß § 7 AsylG 1997 hat die Behörde Asylwerbern auf Antrag mit Bescheid Asyl zu gewähren, wenn glaubhaft ist, dass ihnen im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK), droht und keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.

 

Als Flüchtling iSd. der GFK ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

 

2. Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist nach ständiger Rechtsprechung des VwGH die "wohlbegründete Furcht vor Verfolgung" (vgl. VwGH 22.12.1999, Zl. 99/01/0334; 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131; 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011). Eine solche liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 21.09.2000, Zl. 2000/20/0286).

 

Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen (VwGH 24.11.1999, Zl. 99/01/0280). Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 19.12.1995, Zl. 94/20/0858; 23.09.1998, Zl. 98/01/0224; 09.03.1999, Zl. 98/01/0318;

09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 06.10.1999, Zl. 99/01/0279 mwN;

19.10.2000, Zl. 98/20/0233; 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131;

25.01.2001, Zl. 2001/20/0011).

 

Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen muss (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0318; 19.10.2000, Zl. 98/20/0233). Bereits gesetzte vergangene Verfolgungshandlungen können im Beweisverfahren ein wesentliches Indiz für eine bestehende Verfolgungsgefahr darstellen, wobei hierfür dem Wesen nach eine Prognose zu erstellen ist (VwGH 05.11.1992, Zl. 92/01/0792; 09.03.1999, Zl. 98/01/0318). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der GFK genannten Gründen haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 nennt, und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatstaates bzw. des Staates ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein, wobei Zurechenbarkeit nicht nur ein Verursachen bedeutet, sondern eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr bezeichnet (VwGH 16.06.1994, Zl. 94/19/0183).

 

Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Es ist erforderlich, dass der Schutz generell infolge Fehlens einer nicht funktionierenden Staatsgewalt nicht gewährleistet wird (vgl. VwGH 01.06.1994, Zl. 94/18/0263; 01.02.1995, Zl. 94/18/0731). Die mangelnde Schutzfähigkeit hat jedoch nicht zur Voraussetzung, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht - diesfalls wäre fraglich, ob von der Existenz eines Staates gesprochen werden kann -, die ihren Bürgern Schutz bietet. Es kommt vielmehr darauf an, ob in dem relevanten Bereich des Schutzes der Staatsangehörigen vor Übergriffen durch Dritte aus den in der GFK genannten Gründen eine ausreichende Machtausübung durch den Staat möglich ist. Mithin kann eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewendet werden kann (VwGH 22.03.2000, Zl. 99/01/0256).

 

Verfolgungsgefahr kann nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Einzelverfolgungsmaßnahmen abgeleitet werden, vielmehr kann sie auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 22.10.2002, Zl. 2000/01/0322).

 

Die Voraussetzungen der GFK sind nur bei jenem Flüchtling gegeben, der im gesamten Staatsgebiet seines Heimatlandes keinen ausreichenden Schutz vor der konkreten Verfolgung findet (VwGH 08.10.1980, VwSlg. 10.255 A). Steht dem Asylwerber die Einreise in Landesteile seines Heimatstaates offen, in denen er frei von Furcht leben kann, und ist ihm dies zumutbar, so bedarf er des asylrechtlichen Schutzes nicht; in diesem Fall liegt eine sog. "inländische Fluchtalternative" vor. Der Begriff "inländische Fluchtalternative" trägt dem Umstand Rechnung, dass sich die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung iSd. Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, wenn sie die Flüchtlingseigenschaft begründen soll, auf das gesamte Staatsgebiet des Heimatstaates des Asylwerbers beziehen muss (VwGH 08.09.1999, Zl. 98/01/0503 und Zl. 98/01/0648).

 

Grundlegende politische Veränderungen in dem Staat, aus dem der Asylwerber aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung geflüchtet zu sein behauptet, können die Annahme begründen, dass der Anlass für die Furcht vor Verfolgung nicht (mehr) länger bestehe. Allerdings reicht eine bloße - möglicherweise vorübergehende - Veränderung der Umstände, die für die Furcht des betreffenden Flüchtlings vor Verfolgung mitbestimmend waren, jedoch keine wesentliche Veränderung der Umstände iSd. Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK mit sich brachten, nicht aus, um diese zum Tragen zu bringen (VwGH 21.01.1999, Zl. 98/20/0399; 03.05.2000, Zl. 99/01/0359).

 

3. Aus dem im Rahmen des Ermittlungsverfahrens festgestellten Sachverhalt ergibt sich, dass die Furcht der Ast., in ihrem Heimatstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus asylrelevanten Gründen verfolgt zu werden, begründet ist:

 

3.1. Wie sich aus dem festgestellten Sachverhalt ergibt, verließ die nunmehr zwanzigjährige Ast. als Kind im Alter von acht Jahren gemeinsam mit ihrer Mutter ihren Heimatstaat. Sie hat die letzten zwölf Jahre und damit mehr als die Hälfte ihrer bisherigen Lebenszeit außerhalb ihres Heimatstaates verbracht. Die Eltern der Ast. sind verstorben. Die Ast. verfügt - abgesehen von ihrer Staatsangehörigkeit - über keinerlei Bindungen an ihren Heimatstaat Afghanistan.

 

Im Fall ihrer Rückkehr nach Afghanistan wäre die Ast. als junge unverheiratete Frau, die eindeutig ein als westlich zu bezeichnendes Frauenbild vertritt, ohne jeglichen Rückhalt durch einen Mann oder durch Familienmitglieder mit großer Wahrscheinlichkeit Drohungen und Misshandlungen und der Gefahr einer arrangierten Zwangsheirat ausgesetzt sowie auf Grund der für sie prekären Sicherheitslage mit einem erheblichen Risiko für ihre persönliche Sicherheit und physische Integrität konfrontiert. Das bedeutet, dass für sie ein erhöhtes Risiko besteht, Eingriffen in ihre physische Integrität und Sicherheit ausgesetzt zu sein. Den getroffenen Feststellungen zu Folge ist dieses Risiko sowohl als generelle, die afghanischen Frauen betreffende Gefährdung zu sehen (Risiko, Opfer einer Vergewaltigung oder eines sonstigen Übergriffs bzw. Verbrechens zu werden) als auch als spezifische Gefährdung, bei non-konformem Verhalten (d.h. bei Verstößen gegen gesellschaftliche Normen wie beispielsweise Bekleidungsvorschriften) einer "Bestrafung" ausgesetzt zu sein. Aus beiden Aspekten resultierend ist die Bf. im Fall ihrer Rückkehr nach Afghanistan mit einer Situation konfrontiert, in der sie in der Ausübung grundlegender Menschenrechte beeinträchtigt ist.

 

Für die Ast. wirkt sich die derzeitige Situation in Afghanistan so aus, dass sie im Fall einer Rückkehr einem Klima ständiger latenter Bedrohung, struktureller Gewalt und unmittelbaren Einschränkungen und durch das Bestehen dieser Situation einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt ist. Am Beispiel der die Frauen und Mädchen betreffenden Einschränkungen der Bewegungsfreiheit wird anschaulich, dass afghanische Frauen de facto eine Verletzung in grundlegenden Rechten zu gewärtigen haben. Es bestehen nach wie vor gesellschaftliche Normen dahingehend, dass Frauen sich nur bei Vorliegen bestimmter Gründe alleine außerhalb ihres Wohnraumes bewegen sollen. Widrigenfalls haben Frauen mit Beschimpfungen und Bedrohungen zu rechnen bzw. sind der Gefahr willkürlicher Übergriffe ausgesetzt. Einer afghanischen Frau ist es daher auch derzeit nicht möglich, sich ungehindert und sicher in der Öffentlichkeit zu bewegen.

 

3.2. Diese Situation ist auch durch die Aufnahme einer Bestimmung in der neuen Verfassung von Afghanistan über die Gleichheit von Mann und Frau vor dem Gesetz nicht beseitigt, da die praktische Handhabung dieser Vorschrift noch nicht abzusehen ist und überdies im Verfassungsdokument an anderer Stelle vorgesehen ist, dass kein Gesetz gegen den Glauben und die Vorschriften des Islam verstoßen dürfe, was als Rechtfertigung traditionell gesellschaftlicher Vorstellungen über die Rolle der Frau herangezogen werden könnte.

 

3.3. Die der Ast. im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan drohende Situation ist in ihrer Gesamtheit von asylrelevanter Intensität. Zur Lage der Frauen im Taliban-Regime vertrat der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 16.04.2002, Zl. 99/20/0483, die Ansicht, dass bei einer ganzheitlichen Würdigung der von den Taliban gegen die Frauen getroffenen Maßnahmen, die asylrechtliche Intensität zu bejahen sei.

 

Das durchgeführte Ermittlungsverfahren hat ergeben, dass noch keine grundlegende Änderung der die afghanischen Frauen betreffenden Umstände im Vergleich zu der dem zitierten Erkenntnis zu Grunde liegenden Tatsachenlage stattgefunden hat. Da diese Umstände nicht bloß auf die Politik der Taliban, sondern auf grundlegende traditionell-gesellschaftliche, den Status der afghanischen Frauen definierende Normen zurückzuführen sind, die von den Taliban lediglich in verschärfter Weise aufgegriffen worden sind, lässt sich aus dem Ende des Taliban-Regimes allein eine grundlegende Änderung der Situation der afghanischen Frauen nicht ableiten.

 

Bei Betrachtung der Frauen in Afghanistan betreffenden Umstände in ihrer Gesamtheit und Vielgestaltigkeit ist - insbesondere durch Kumulation diskriminierender Maßnahmen - nach wie vor von einer Situation auszugehen, die über das Vorliegen einer bloßen (asylrechtlich nicht beachtlichen) Diskriminierung gegenüber Frauen hinausgeht. Erreichen diskriminierende Maßnahmen selbst die asylrechtlich erforderliche Verfolgungsintensität - was wie ausgeführt zu bejahen ist -, so kommt es auch auf zusätzliche Unverhältnismäßigkeiten im Falle des Zuwiderhandelns und mithin darauf, ob von der Ast. ein Zuwiderhandeln zu erwarten wäre, nicht an (VwGH 16.04.2002, Zl. 99/20/0483).

 

3.4. Zwar stellen diese Umstände sowie zu erwartende massive Diskriminierungen nicht notwendiger Weise Eingriffe von staatlicher und damit von "offizieller" Seite dar, zumal sie von der gegenwärtigen afghanischen Regierung nicht angeordnet sind. Da das Asylrecht als Ausgleich für fehlenden staatlichen Schutz konzipiert ist (VwGH 13.11.2001, Zl. 2000/01/0098), kommt es aber nicht darauf an, ob die Verfolgungsgefahr vom Staat bzw. von Trägern der Staatsgewalt oder von Privatpersonen (zB von Teilen der lokalen Bevölkerung) ausgeht, sondern vielmehr darauf, ob im Hinblick auf eine bestehende Verfolgungsgefahr ausreichender Schutz besteht (vgl. dazu VwGH 16.04.2002, Zl. 99/20/0483; 14.10.1998, Zl. 98/01/0262). Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zur Feststellung, ob ein solcher ausreichender Schutz vorliegt - wie ganz allgemein bei der Prüfung des Vorliegens von wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung - ein "Wahrscheinlichkeitskalkül" heranzuziehen (zB VwGH 22.03.2000, Zl. 99/01/0256).

 

3.5. Im vorliegenden Fall ist daher zu prüfen, ob es der Ast. möglich ist, angesichts des sie betreffenden Sicherheitsrisikos ausreichenden Schutz im Herkunftsstaat in Anspruch zu nehmen bzw. ob der Eintritt des zu befürchtenden Risikos - trotz Bestehens von Schutzmechanismen im Herkunftsstaat - wahrscheinlich ist:

 

Im vorliegenden Fall ist nicht hervorgekommen, dass es der afghanischen Zentralregierung möglich wäre, für die umfassende Gewährleistung grundlegender Rechte und Freiheiten hinsichtlich der Bevölkerungsgruppe der afghanischen Frauen Sorge zu tragen, der afghanische Staat kommt somit seinen (positiven) Schutzpflichten hinsichtlich dieser Bevölkerungsgruppe nicht nach. In Afghanistan besteht derzeit weder ein funktionierender Polizei- oder Justizapparat, noch ist davon auszugehen, dass der tatsächliche Machtbereich der gegenwärtigen Regierung über die Grenzen der Hauptstadt reicht. Den aktuellen Feststellungen zu Folge ist weiters nicht davon auszugehen, dass im Wirkungsbereich einzelner lokaler Machthaber effektive Mechanismen zur Verhinderung von Übergriffen und Einschränkungen gegenüber Frauen bestünden. Vielmehr liegt gegenteilig ein derartiges Vorgehen gegenüber Frauen teilweise ganz im Sinne der lokalen Machthaber. Ausgehend davon kann die Ast. nicht damit rechnen, dass sie angesichts des sie als Frau betreffenden Risikos, Opfer von Übergriffen und Einschränkungen zu werden, ausreichenden Schutz im Herkunftsstaat finden kann. Angesichts der dargestellten Umstände ist im Fall der Ast. daher davon auszugehen, dass sie in Afghanistan den Eintritt eines - asylrelevante Intensität erreichenden - Nachteiles aus der befürchteten Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat.

 

3.6. Ein in seiner Intensi

Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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