TE OGH 2022/2/17 9Ob1/22w

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Veröffentlicht am 17.02.2022
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau als Vorsitzende, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Mag. Ziegelbauer, Hon.-Prof. Dr. Dehn, Dr. Hargassner und Mag. Korn in der Rechtssache der klagenden Partei Verlassenschaft nach dem am * 2019 verstorbenen F* F*, geboren am * 1964, zuletzt wohnhaft in *, (AZ: 1 A 80/19p Bezirksgericht St. Veit an der Glan), vertreten durch den Verlassenschaftskurator Mag. Paul Wolf, Rechtsanwalt in Klagenfurt am Wörthersee, gegen die beklagte Partei Dr. A* G*, vertreten durch Reif und Partner Rechtsanwälte OG in Graz, wegen 42.970 EUR und Feststellung (Streitwert 10.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 15. September 2021, GZ 4 R 126/21p-68, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt vom 26. Februar 2021, GZ 49 Cg 86/18i-58, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Revision der klagenden Partei wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 3.692,82 EUR (darin 615,47 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung:

[1]       F* F* war ab 2016 bei seinem Hausarzt, dem Beklagten, wegen wiederholter Infekte der Atemwege in Behandlung. Am 2. 2. 2019 verstarb F* F* an den Folgen einer erst im Jänner 2018 entdeckten Lungenkrebserkrankung, verursacht durch einen besonders aggressiven Tumor. Wäre dem Beklagten Ende Oktober 2017 kein Behandlungsfehler unterlaufen, hätte der Tumor schon damals erkannt werden können und mit einer Wahrscheinlichkeit von 10 % wäre eine Operation aufgrund der damaligen Größe des Tumors noch möglich gewesen. Durch die Diagnoseverzögerung des Beklagten haben sich die Heilungschancen des F* F* mit einer medizinischen Wahrscheinlichkeit von 5 % bis 10 %, eher gegen 5 % verschlechtert, der Krankheitsverlauf wäre auch bei früherer Diagnosestellung des Tumors schon Ende Oktober 2017 mit einer Wahrscheinlichkeit von 90 % bis 95 %, eher 95 % gleich gewesen. Dies bedeutet, dass die Heilungschancen nur eher gegen 5 % betragen hätten, auch wenn der Tumor bei F* F* bereits etwa zweieinhalb Monate früher erkannt worden wäre.

[2]       Die klagende Verlassenschaft macht gegen den Beklagten Schadenersatzansprüche wegen ärztlicher Fehlbehandlung geltend. Durch die vom Beklagten dadurch verschuldete Diagnoseverzögerung hätten sich die Heilungschancen des F* F* drastisch verschlechtert.

[3]            Der Beklagte bestritt jegliche Fehlbehandlung und wendete zudem ein, dass ein allfälliger Sorgfaltsverstoß des Beklagten deshalb nicht haftungsbegründend wäre, weil sich derselbe Schaden mit derselben Ausprägung bei F* F* auch dann verwirklicht hätte, wenn man einen Pflichtverstoß des Beklagten annehmen würde.

[4]       Das Erstgericht wies das Klagebegehren mangels Kausalität des Behandlungsfehlers des Beklagten am Tod des F* F* ab. Die Klägerin habe nicht nachgewiesen, dass der ärztliche Behandlungsfehler die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts nicht bloß unwesentlich erhöht habe.

[5]            Das Berufungsgericht gab der dagegen von der Klägerin erhobenen Berufung nicht Folge. Nach herrschender Rechtsprechung habe der Geschädigte im Arzthaftungsprozess zu beweisen, dass die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts durch den ärztlichen Kunstfehler „nicht bloß unwesentlich erhöht“ worden sei. Sei ihm dieser Beweis gelungen, habe der belangte Arzt zu beweisen, das die ihm zuzurechnende Sorgfaltsverletzung „mit größter Wahrscheinlichkeit“ nicht kausal für den Schaden des Patienten gewesen sei. Da in der medizinischen Wissenschaft bei der Frage nach hypothetischen Kausalverläufen in Fällen wie den vorliegenden seriöserweise keine näher an 100 % liegenden Wahrscheinlichkeiten ermittelbar seien, Feststellungen von Wahrscheinlichkeiten in Einprozentschritten lediglich Scheingenauigkeiten darstellen würden und der „nicht bloß unwesentlichen Erhöhung“ der Wahrscheinlichkeit ein Anwendungsbereich verbleiben müsse, sei der Klägerin – mit einer Erhöhung der Wahrscheinlichkeit der Schadenszufügung um 5 Prozentpunkte als eine bloß unwesentliche Erhöhung – der Anscheinsbeweis für die Kausalität des Behandlungsfehlers des Beklagten misslungen. Jedenfalls sei davon auszugehen, dass dem Beklagten der Gegenbeweis gelungen wäre.

[6]       Die ordentliche Revision wurde vom Berufungsgericht im Hinblick auf eine allenfalls bestehende Judikaturdivergenz zur Frage, welcher Grad der Wahrscheinlichkeit für das Gelingen des Anscheinsbeweises und des Gegenbeweises in Arzthaftungsfällen erforderlich sei und wann in diesem Zusammenhang der Nachweis einer nicht bloß unwesentlichen Erhöhung der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gelungen sei, zugelassen.

[7]       In ihrer dagegen gerichteten Revision beantragt die Klägerin die Abänderung des Berufungsurteils im Sinne einer Klagsabweisung; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Die Klägerin bekämpft in ihrer Revision die Rechtsauffassung der Vorinstanzen, dass ihr der Anscheinsbeweis für die Kausalität des Behandlungsfehlers des Beklagten misslungen sei.

[8]            Der Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision der Klägerin als unzulässig zurückzuweisen, hilfsweise ihr keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[9]       Die Revision der Klägerin ist nicht zulässig. Die Entscheidung des Berufungsgerichts steht mit den Grundsätzen der im Folgenden dargestellten herrschenden Rechtsprechung zum Anscheinsbeweis in Arzthaftungsfällen in Einklang. Eine erhebliche Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO zeigt die Revision der Klägerin nicht auf.

[10]            1. Danach wird für den dem Kläger obliegenden Beweis der Kausalität zwischen Behandlungsfehler und Gesundheitsschaden der Nachweis als genügend erachtet, dass die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts durch den Fehler der Ärzte nicht bloß unwesentlich erhöht wurde (RS0106890 [T18]; RS0026768 [T15]; RS0038222 [T7, T9]; zuletzt 1 Ob 11/21f [Rz 15] mwN]). Wird durch einen ärztlichen Kunstfehler das Operationsrisiko nicht unwesentlich erhöht, obliegt dem Arzt der volle Beweis dafür, dass im konkreten Behandlungsfall das Fehlverhalten mit größter Wahrscheinlichkeit für den Schaden unwesentlich geblieben ist (RS0026768 [T7, T10]).

[11]            2. Wann dem Schädiger der Nachweis, dass die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts durch den Fehler des Arztes nicht bloß unwesentlich erhöht wurde, gelungen ist, kann regelmäßig nur aufgrund der Gesamtumstände des konkreten Einzelfalls beantwortet werden. Die Besonderheiten der Fallgestaltung schließen in diesen Fällen eine für zukünftig zu beurteilende Sachverhalte richtungsweisende Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zur Frage, wann dem Schädiger im Arzthaftungsprozess der Beweis, dass die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts durch den Fehler der Ärzte nicht bloß unwesentlich erhöht wurde, aus (vgl RS0042742).

[12]            3. Das Berufungsgericht hat den ihm bei der Beurteilung der Kausalität des Behandlungsfehlers eingeräumten Beurteilungsspielraum nicht überschritten. Das gegenteilige Ergebnis argumentiert die Revision mit der Entscheidung 4 Ob 28/20a, der aber ein anderer Sachverhalt und andere festgestellte Wahrscheinlichkeiten des dortigen Schadenseintritts zugrunde liegen. Ergänzender Feststellungen zur Höhe der Überlebenschancen des F* F* ohne Fehlbehandlung des Beklagten – dazu hat die Klägerin im Übrigen im erstinstanzlichen Verfahren kein Vorbringen erstattet (vgl RS0053317 [T2]) – bedurfte es nicht. Die getroffenen Sachverhaltsfeststellungen ermöglichen eine abschließende rechtliche Beurteilung der Streitsache (vgl RS0053317 [T5]). Mit der selbstständig tragfähigen Hilfsbegründung des Berufungsgerichts, selbst wenn man davon ausginge, dass der Klägerin der erforderliche Kausalitätsbeweis gelungen sei, wäre dem Beklagten jedenfalls der Gegenbeweis gelungen, setzt sich die Revision nicht auseinander (vgl RS0118709; RS0043603 [T4]).

[13]     Die Revision der Klägerin ist daher mangels einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

[14]     Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41, 50 ZPO. Der Beklagte hat auf die Unzulässigkeit der Revision in seiner Revisionsbeantwortung hingewiesen (RS0035979).

Textnummer

E134326

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2022:0090OB00001.22W.0217.000

Im RIS seit

07.04.2022

Zuletzt aktualisiert am

07.04.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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