TE Bvwg Erkenntnis 2021/2/17 W272 2232673-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 17.02.2021
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Entscheidungsdatum

17.02.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z4
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §6 Abs1 Z4
AsylG 2005 §7 Abs1 Z1
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8 Abs3a
AsylG 2005 §9 Abs2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52 Abs2 Z3
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z5
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2

Spruch


W272 2232673-1/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. BRAUNSTEIN als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Mario ZÜGER gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Tirol vom XXXX , Zahl XXXX , zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I., III., IV., VI. VII wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. wird mit der Maßgabe abgewiesen, dass er zu lauten hat:

„Gem. § 8 Abs. 3a AsylG 2005 iVm § 9 Abs. 2 AsylG 2005 wird Ihnen der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt.“

III. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt V. wird dahingehend stattgegeben, dass gemäß § 8 Abs. 3a iVm §9 Abs. 2 AsylG2005 und § 52 Abs. 9 FPG festgestellt wird, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Afghanistan nicht zulässig ist.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 18.12.2014 durch seine gesetzliche Vertretung, seine Mutter, einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (in der Folge AsylG).

2. Der Bruder des BF, XXXX , geb. XXXX , stellte bereits am 22.03.2013 einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (in der Folge AsylG). Mit Bescheid des Bundesasylamtes Außenstelle Innsbruck vom 02.07.2013 wurde dem Antrag des Bruders des BF gem. § 3 AsylG 2005 stattgegeben und ihm der Status als Asylberechtigter zuerkannt. Gem. § 3 Abs. 5 AsylG wurde festgestellt, dass ihm kraft Gesetz die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Dieser Bescheid erwuchs mit 20.07.2013 in Rechtskraft.

3. Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.02.2015 wurde dem BF dem Antrag auf internationalen Schutz gem. § 3 iVm § 34 Abs. 2 AsylG 2005 stattgegeben und der Status als Asylberechtigte zuerkannt. Gem. § 3 Abs. 5 AsylG wurde festgestellt, dass ihm kraft Gesetz die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Dieser Bescheid erwuchs mit 06.03.2015 in Rechtskraft.

4. Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom XXXX .2017, XXXX wurde der BF wegen §§ 142 (1), 143 (1) 2. Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten, bedingt, unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren, Jugendstrafhaft, verurteilt.

5. Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom XXXX 2019, XXXX wurde der BF wegen § 83 (1) StGB zu einer Freiheitsstrafe von 5 Monaten, bedingt, unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren und unter Anordnung der Bewährungsstrafe, Junger Erwachsener, verurteilt.

6. Eine Mitteilung an den BF erfolgte am 05.04.2019, dass gegen ihn ein Verfahren zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten eingeleitet wurde. Dabei wurde dem BF die aktuellen Länderfeststellungen zu Afghanistan übermittelt und ein Parteiengehör gewährt. Der BF erstattete keine Stellungnahme.

7. Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom XXXX .2019, XXXX wurde der BF wegen §§ 205a (1) 1. Fall, 205a (1) 3. Fall StGB, § 201 (1,2) 1. Fall StGB, § 201 (1) StGB, §§ 107a (1,2) Z 1, 107a (1,2) Z 2 StGB, §§ 105 (1), 106 (1) Z 3 3. Fall StGB, § 107b (1,2) StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 6 Jahren, Junger Erwachsener, verurteilt. Bei der Strafzumessung wurde darauf Bedacht genommen, dass der BF über einen überaus langen Zeitraum hinweg immer wieder massive strafbare Handlungen gegen das jugendliche Opfer setzte, mit dem er in einer vermeintlichen Liebensbeziehung stand. Dabei machte sich der BF insbesondere den Umstand, dass er für das Opfer der erste Freund und das Ofer daher besonders zurückhaltend mit einer Anzeigeerstattung war, zu Nutze und demonstrierte wiederholt seine völlige Gleichgültigkeit gegenüber der Achtung der körperlichen Integrität und sexuellen Selbstbestimmung des Opfers. Als erschwerend wertete das Gericht im Einzelnen das Zusammentreffen mehrerer Verbrechen mit mehreren Vergehen, die zwei einschlägigen Vorstrafen und den raschen Rückfall. Mildernd kamen dem BF hingegen die Tatbegehung teilweise noch als Jugendlicher, sein Alter unter 21 Jahren und sein zumindest teilweises Geständnis zu Gute, wobei letzterem aufgrund der Verharmlosungstendenzen nur geringes Gewicht beigemessen werden konnte.

8. Der BF erhob Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung wegen des Ausspruches über die Strafe. Der Oberste Gerichtshof wies diese Nichtigkeitsbeschwerde mit Beschluss vom XXXX .2020, GZ XXXX zurück.

9. Mit Urteil des Oberlandesgerichtes Wien, XXXX vom XXXX .2020 wurde der Berufung des BF nicht Folge gegeben. Das OLG bestätigte die Entscheidung des Erstgerichtes.

Der Beschwerde wurde mit Beschluss des OLG insofern Folge gegeben, als dass vom Widerruf der vom Landesgericht für Strafsachen Wien zu den AZ XXXX und AZ XXXX gewährten bedingten Strafnachsichten abgesehen und zu AZ XXXX die gewährte Probezeit auf fünf Jahre verlängert wurde. Das Urteil wurde mit XXXX .2020 rechtskräftig und vollstreckbar.

10. Mit Schreiben des Bundesamtes vom 27.04.2020 wurde dem BF ein neuerliches Parteiengehör zur Aberkennung des Status des Asylberechtigen, zur beabsichtigten Rückkehrentscheidung und zu einem Einreiseverbot eingeräumt sowie die aktuellen Länderfeststellungen zu Afghanistan zur Stellungnahme übermittelt.

11. Im Rahmen des Parteiengehörs brachte der BF am 15.05.20120 vor, dass er seit Dezember 2014 in Österreich lebe. Er sei ledig und wohne noch bei seiner Mutter, wo auch seine Schwester und zwei seiner Brüder leben würden. Ein weiterer Bruder lebe ebenfalls in Wien. Er habe einige Monate die NMS besucht und anschließend ein Schuljahr den Polytechnischen Lehrgang absolviert, welchen er positiv abgeschlossen habe. Anschließend habe er Kurse besucht. Er habe einen Deutschkurs Niveau B1 angefangen, jedoch nicht abgeschlossen. Ende 2018 habe er als Hilfsarbeiter in einem Lager gearbeitet. Derzeit sei er in Haft und könne er weder einen Arbeitsplatz vorweisen noch Bescheinigungen vorlegen. Er sei bereits zwei Mal bedingt verurteilt und nunmehr zu einer sechsjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Sein Vater sei im Zuge der Kriegsgeschehnisse in seiner Heimat getötet worden. Seine Mutter und seine Geschwister seien Bezugspersonen und würden alle in Österreich leben. Im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan sei mit Sicherheit anzunehmen, dass er dort verfolgt würde, da bereits seine Eltern dort unter massiver Verfolgung gelitten hätten. Er habe keinen Kontakt mehr nach Afghanistan und kenne sich nicht aus.

12. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX wurde der mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl Außenstelle Innsbruck vom 10.02.2015, Zahl XXXX , zuerkannte Status des Asylberechtigten gem. § 7 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 aberkannt. Weiters wurde festgestellt, dass ihm gem. § 7 Abs. 4 AsylG 2005, die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I). Unter Spruchpunkt II. dieses Bescheides wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt. Ferner wurde dem Beschwerdeführer unter Spruchpunkt III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Sowie gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG erlassen (Spruchpunkt IV) und unter Spruchpunkt V gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig ist. Unter Spruchpunkt VI. wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt. Gem. Spruchpunkt VII wurde gem. § 53 Abs. 1 iVm. Abs. 3 Z 5 FPG ein unbefristetes Einreiseverbot erlassen.

In der Bescheidbegründung stellte die belangte Behörde fest, dass seine gesetzliche Vertreterin (Mutter) für den BF am 18.12.2014 in Österreich einen Asylantrag gestellt habe. Diesem Antrag wurde stattgegeben und dem BF am 10.02.2015 (rechtskräftig seit 06.03.2015) in Österreich der Status des Asylberechtigten im Familienverfahren zuerkannt. Des Weiteren stellte die Behörde fest, dass der BF dreimal rechtskräftig verurteilt wurde. Zuletzt sei er vom Landesgericht für Strafsachen Wien wegen dem Verbrechen der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1, Abs 2 erster Fall StGB, wegen dem Verbrechen der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB, wegen dem Vergehen der Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung nach§ 205a Abs 1 erster und dritter Fall StGB, wegen dem Vergehen der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107 Abs 1, Abs 2 StGB, wegen der Verbrechen der schweren Nötigung nach §§ 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 3 dritter Fall StGB, und wegen dem Vergehen der beharrlichen Verfolgung nach § 107a Abs 1, Abs 2 Z 1 und Z 2 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt wurden. Demnach sei der BF von einem inländischen Gericht wegen besonders schwerer Verbrechen rechtskräftig verurteilt worden. Aufgrund der Verurteilung im Besonderen wegen des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 StGB sei das gegenständliche Aberkennungsverfahren eingeleitet worden. Demnach habe der BF gemäß § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG einen Asylausschlussgrund verwirklicht. Weiters wurde gegen den BF seit 10.02.2017 bis zum 23.03.2019 insgesamt achtmal polizeilich eingeschritten. Von 24.03.2019 bis 25.05.2020 habe sich der BF in der JA Wien-Josefstadt, zuerst in Untersuchungshaft und dann in Strafhaft befunden. Seit 25.05.2020 sei er in der JA Wien-Simmering untergebracht. Der BF stelle eine Gefahr für die Gemeinschaft dar und war seit Einreise nicht gewillt, sich den österreichischen Rechtsnormen zu unterwerfen. Eine Rückkehr sei zuzumuten, als innerstaatliche Fluchtalternative stehe die Stadt Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif zur Verfügung. Bei Abschiebung bestehe für den BF keine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit, auch würde er in keine existenzbedrohende Notlage geraten. Außer ihm leben noch seine Mutter, vier Brüder und eine Schwester in Österreich, wobei der Antrag seines Bruder XXXX auf internationalen Schutz negativ beschieden worden und aufgrund qualifizierter strafrechtlicher Verurteilung, gegen ihn ein Einreiseverbot verhängt und am 23.02.2019 nach Afghanistan abgeschoben worden sei. Seinem Bruder XXXX sei mit Bescheid des Bundesamtes vom 10.12.2019 der Asylstatus aberkannt worden und ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetest Einreiseverbot erlassen worden. Aufgrund der Haftstrafe seit 24.03.2019 lebe der BF nicht im gemeinsamen Haushalt mit seiner Mutter und seinen Geschwistern. Ein Familienleben iSd Art 8 EMRK bestehe daher in Österreich nicht. Aktuell gehe der BF aufgrund seiner Haftstrafe keiner Arbeit nach, wobei er auch vor seiner Inhaftierung keiner geregelten durchgehenden legalen Beschäftigung nachgegangen sei. Er sei lediglich von 02.11.2018 bis 20.12.2018 einer Arbeit für die XXXX nachgegangen. Vom 06.11.2017 bis 28.11.2017 habe er vom AMS Wien Jugendliche Arbeitslosengeld erhalten, wobei er seinen Lebensunterhalt bisher nicht dauerhaft selbst sichern habe können. Der BF habe kurz eine NMS und abschließend einen Polytechnischen Lehrgang besucht. Aufgrund seines Schulbesuches und seiner langen Aufenthaltsdauer habe er sich Deutschkenntnisse angeeignet. Der BF absolvierte darüber hinaus keine Deutschkurse, sonstige Kurse oder Ausbildungen und war auch nicht gemeinnützig tätig. Er verfüge über einen Freundes- Bekanntenkreis in Österreich, wobei keine weiteren Anknüpfungspunkte, tragfähige private Kontakte zu Einheimischen erkannt werden konnten. Sonstige soziale Bindungen und/oder sonstige wirtschaftliche Anknüpfungspunkte hätten ebenfalls nicht festgestellt werden können. Es bestehe daher kein schützenswertes Privatleben in Österreich. Es würden keine Umstände vorliegen, die eine Rückkehrentscheidung entgegenstehen. Das Einreiseverbot ergebe sich aufgrund des besonders schweren Verbrechens und der Gefahr für die Gemeinschaft. Der BF stelle eine Gefahr für die Allgemeinheit und für die öffentliche Sicherheit in Österreich dar. Eine positive Zukunftsprognose könne nicht erstellt werden.

13. Gegen diesen Bescheid brachte der Beschwerdeführer fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde, wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und der Verletzung von Verfahrensvorschriften ein. Dabei wurde darauf verwiesen, dass vor der Einreise des BF bereits seine beiden Brüder, XXXX und XXXX nach Österreich eingereist seien und beiden Brüdern der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden sei. Die Fluchtgründe der Brüder wären zusammengefasst, dass deren Vater von XXXX , dem Führer der Hezb-e Islami ermordet worden war. Da den Brüdern Asyl gewährt wurde, sei davon auszugehen, dass eine damit im Zusammenhang stehende asylrelevante Verfolgung angenommen wurde. Dies lasse den Schluss zu, dass den Brüdern des BF aufgrund ihrer Eigenschaft als Söhne ihres Vaters und der dadurch drohenden Verfolgung Asyl zuerkannt wurde. Dieselbe Gefahr bestehe demnach auch für den BF. Der BF sei in Österreich mehrmals verurteilt worden, zuletzt wegen Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung, Vergewaltigung, beharrlicher Verfolgung, schwerer Nötigung und fortgesetzter Gewaltausübung. Ihm sei zweimal die Möglichkeit zur schriftlichen Stellungnahme eingeräumt worden und habe der BF eine schriftliche Stellungnahme abgegeben. Die belangte Behörde habe es jedoch unterlassen, den BF persönlich und unter Beiziehung eines Dolmetschers einzuvernehmen. Die schriftliche Möglichkeit zur Stellungnahme könne dieses Erfordernis nicht ersetzen, sei doch die Glaubwürdigkeit von Antragstellern wesentlicher Bestandteil asylrechtlicher Entscheidungen. Es wäre auch erforderlich gewesen, weil es unerlässlich sei zu überprüfen, ob dem BF im Falle einer Rückkehr Verfolgung drohe. Es sei jedoch unterlassen worden, zu prüfen, ob dem BF aus denselben Gründen wie seinen Brüdern – denen rechtskräftig Asyl zuerkannt worden sei – in Afghanistan Verfolgung drohe. Angesichts der gegenwärtigen Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage in Kabul sei UNHCR der Auffassung, dass eine IFA in der Stadt Kabul grundsätzlich nicht verfügbar sei. Daraus lasse sich jedoch nicht schließen, dass UNHCR die Ansicht vertrete, eine IFA wäre in anderen afghanischen Städten gegeben, wie der Leiter von UNHCR-Österreich explizit ausführe. Der Fokus der Beurteilung des Vorliegens einer IFA liege, insbesondere hinsichtlich Mazar-e-Sharif und Herat, auf der Zumutbarkeit der Niederlassung. EASO sei generell der Ansicht, dass nach Beurteilung von Nahrungsmittel-, Unterbringungs- und Hygienesituation sowie dem effektiven Zugang alleinstehenden gesunden Männern im erwerbsfähigem Alter sowie verheirateten Paaren ohne Kindern eine IFA in den genannten Städten offenstehen könnte. Jedenfalls sei jedoch eine Einzelfallanalyse anhand der Parameter Alter, Gender, Gesundheitszustand, ethnischer Zugehörigkeit, Religion, Dokumentation, Lokalem Wissen, (Aus-)Bildung sowie familiärer und sozialer Netzwerke durchzuführen. Hierbei könne bereits eine lange Abwesenheit aus Afghanistan dazu führen, dass eine IFA nicht mehr zumutbar sei, so kein relevantes Unterstützungsnetzwerk zur Verfügung stehe. Ferner wurde auf die COVID-19 Situation hingewiesen. In Herat und Mazar-e-Sharif sei die Situation für Rückkehrer äußerst prekär. Derzeit seien die Städte nicht über den Luftweg zu erreichen und sei eine sichere Anreise auf dem Landweg von Kabul aus nicht möglich. Aus diesen weitaus detailreicheren Berichten sei ersichtlich, dass die COVID-19 Pandemie weitreichende Auswirkungen auf sämtliche Lebensbereiche in Afghanistan habe und nicht nur Personen, die aufgrund Vorerkrankungen bzw. Alter besonders von der Krankheit bedroht seien, davon betroffen seien. Durch den Anstieg von Preisen und dem gleichzeitigen Rückgang des Einkommens von Gelegenheitsarbeitern sei die Annahme, dass Rückkehrer sich ihr Überleben aus eigener Kraft sichern können, infrage gestellt. Die sichere Erreichbarkeit von Herat-Stadt und Mazar-e Sharif sei aufgrund der Einstellung des Flugverkehrs nicht mehr gegeben. Ferner sei aufgrund der Sicherheitslage in Laghman eine Rückkehr in die Herkunftsprovinz des BF mit der realen Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne des § 8 Abs 1 AsylG verbunden. Hinsichtlich der Aberkennung wurde ausgeführt, dass hinsichtlich der Prüfung, ob eine Gemeingefährlichkeit bestehe, es notwendig sei, sich ein persönliches Bild vom BF zu verschaffen. Ebenso wäre zu berücksichtigen gewesen, dass der BF als junger Erwachsener verurteilt wurde. Bei den Interessen am Weiterbestehen des Schutzes durch Österreich wäre zu berücksichtigen gewesen, dass die Familie des BF in Österreich lebe und insbesondere auch die Verfolgungsgefahr in Afghanistan zu prüfen gewesen. Bei der Bemessung des Einreiseverbots werde insbesondere darauf Rücksicht zu nehmen sein, dass durch das Einreiseverbot erheblich in das Recht auf Privat- und Familienleben des BF eingegriffen werde. Der persönliche Kontakt zu den Familienmitgliedern des BF, die in Österreich leben und denen weiterhin Asylstatus zukomme, werde durch das unbefristete Einreiseverbot potentiell für immer verunmöglicht. Es sei daher notwendig, aufbauend auf einem persönlichen Eindruck vom BF, eine Gefährdungsprognose zu erstellen und bei der Bemessung des Einreiseverbots auch den Eingriff in das Recht auf Privat – und Familienleben zu berücksichtigen.

14. Am 14.10.2020 wurde eine mündliche Verhandlung vor dem BVwG durchgeführt. Im Rahmen der Verhandlung wurde der BF sowie seine Mutter als auch sein Bruder, XXXX als Zeugen befragt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des angefochtenen Bescheides, der Beschwerde gegen diesen, der Einsichtnahme in die bezughabenden Verwaltungsakte, des Asylaktes, des Asylaktes des Bruder XXXX , inklusiver einer Anfrage an die Staatendokumentation sowie der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, das Zentrale Fremdenregister und das Strafregister und den beiden mündlichen Verhandlungen.

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der volljährige Beschwerdeführer führt den Namen XXXX ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und ist sunnitischer Moslem. Der Beschwerdeführer wurde am XXXX geboren. Der Beschwerdeführer ist in Afghanistan, in der Provinz Laghmann geboren. Im Alter von fünf bis sechs Jahren verzog der BF mit seiner Familie nach Pakistan. Der Beschwerdeführer ging zwei Jahre in eine islamische Schule in Pakistan und arbeitete er als Verkäufer in Pakistan. Der Beschwerdeführer spricht Paschtu als Muttersprache. In seinem Herkunftsland verfügt der Beschwerdeführer über keine Verwandte. Der BF kennt und lebte die afghanische Kultur. Der BF hat sieben Geschwister und eine Mutter, der Vater wurde in Afghanistan ermordet. Der BF hat Berufserfahrung.

Der BF reiste illegal in Österreich ein und wurde seinem Antrag auf internationalen Schutz, im Rahmen des Familienverfahrens, gem. § 34 Abs. 2 AsylG 2005 stattgegeben und der Status als Asylberechtigter zuerkannt. Gem. § 3 Abs. 5 AsylG wurde festgestellt, dass ihm kraft Gesetz die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Dieser Bescheid des Bundesamtes, Außenstelle Innsbruck, vom 10.02.2015, Zahl XXXX erwuchs mit 06.03.2015 in Rechtskraft. Dem BF wurde aufgrund seiner Familieneigenschaft, als Bruder des XXXX , der Asylstatus zuerkannt.

Dem Bruder des BF XXXX wurde aufgrund der Verfolgung durch die Gruppierung der Hezb-e-Islami, da der Vater und seine Halbbrüder mit diesen in Feindschaft waren und von diesen getötet wurden, mit Bescheid des Bundesamtes Außenstelle Innsbruck vom 02.07.2013, Zahl XXXX gem. § 3 AsylG 2005 den Status als Asylberechtigter rechtskräftig zuerkannt. XXXX wurde mit Bescheid des Bundesamtes vom 10.12.2019, Zahl XXXX , der Status des Asylberechtigten aberkannt. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde hinsichtlich der Aberkennung des Asylstatus mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 30.11.2020 abgewiesen. Gemäß § 8 Abs. 3a AsylG 2005 wurde festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Bruders des BF in seinen Herkunftsstaat unzulässig ist, da dies eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention - angesichts der Verfolgung des Bruders des BF, aufgrund der Zugehörigkeit zur Familie seines getöteten Vaters und Bruders - bedeuten würde.

Der Beschwerdeführer wurde erstmalig mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom XXXX .2017, XXXX wegen §§ 142 (1), 143 (1) 2.Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten, bedingt, unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren, Jugendstrafhaft, verurteilt. Diese Entscheidung erwuchs am XXXX .2017 in Rechtskraft.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom XXXX 2019, XXXX wurde der BF wegen § 83 (1) StGB zu einer Freiheitsstrafe von 5 Monaten, bedingt, unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren und unter Anordnung der Bewährungsstrafe, Junger Erwachsener, verurteilt. Diese Entscheidung erwuchs am XXXX .2019 in Rechtskraft

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom XXXX .2019, XXXX wurde der BF wegen §§ 205a (1) 1. Fall, 205a (1) 3. Fall StGB wegen des Vergehens der Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung, wegen des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 (1,2) 1. Fall StGB, die Verbrechen der Vergewaltigung nach § 201 (1) StGB, und der Vergehen der beharrlichen Verfolgung nach §§ 107a (1,2) Z 1, 107a (1,2) Z 2 StGB, die Verbrechen der Nötigung nach §§ 105 (1), 106 (1) Z 3 3. Fall StGB, § 107b (1,2) StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 6 Jahren, Junger Erwachsener, verurteilt. Diese Entscheidung erwuchs am XXXX .2020 in Rechtskraft

Der BF hat am 31.07.2018 sein Opfer vergewaltigt. Zuvor hat er in nicht mehr feststellbaren Zeitpunkten in der Zeit von Anfang 2018 bis vor dem 31.07.2018 in gesamt zumindest fünf Angriffen, und zwar in der Zeit von Mai 2018 in zumindest drei und in der Zeit von Juni bis vor dem 31.07.2018 in zumindest zwei Angriffen, indem er sie jeweils festhielt, obwohl sein Opfer versucht habe aufzustehen und wegzugehen und ihm sagte, dass er aufhören solle, sie in ihrer sexuellen Selbstbestimmung verletzt. In der Zeit von Sommer 2017 bis zuletzt 23.03.2019 habe der BF gegen sein Opfer eine längere Zeit hindurch fortgesetzte Gewalt ausgeübt, indem er sie gefährlich bedroht habe, um sie in Furcht und Unruhe zu versetzen, und zwar am 13.12.2019 indem er mit einer weiteren Vergewaltigung drohte. Zudem drohte er ihr mit der Zufügung einer Körperverletzung, indem er mitteilte, er werde ihr eine Glasflasche über den Kopf schlagen. Weiters drohte er einmal mit der Zufügung einer Körperverletzung ihr nahestehender Personen, indem er ihr über WhatsApp oder Instagram schrieb, er werde ihre beiden kleinen Geschwister schlagen, und drohte er mit einem Vermögensnachteil, indem er ihr drohte, dass er an ihre Arbeitsstelle kommen und dafür sorgen werde, dass sie ihre Lehrstelle verliere. Ferner nötigte der BF sein Opfer mit gefährlichen Drohungen zwischen Sommer 2017 und März 2019. In der Zeit von Sommer 2017 bis Jänner 2018 hat er in zumindest vier Fällen, zuletzt am 28.10.2018 in einem weiteren Fall am Körper durch Versetzen von Schlägen sowohl mit der flachen Hand als auch mit der Faust in das Gesicht oder auf den Kopf sowie durch Versetzen von Tritten sein Opfer misshandelt. Zudem hat er sein Opfer von Sommer 2017 bis zuletzt 23.09.2019 in einer Weise, die geeignet ist, sie in ihrer Lebensführung unzumutbar zu beeinträchtigen, widerrechtlich beharrlich verfolgt und dies eine längere Zeit hindurch fortgesetzt.

Bei der Strafzumessung wurde darauf Bedacht genommen, dass der BF über einen überaus langen Zeitraum hinweg immer wieder massive strafbare Handlungen gegen das jugendliche Opfer setzte, mit dem er in einer vermeintlichen Liebensbeziehung stand. Dabei machte sich der BF insbesondere den Umstand, dass er für das Opfer der erste Freund und das Opfer daher besonders zurückhaltend mit einer Anzeigeerstattung war, zu Nutze und demonstrierte wiederholt seine völlige Gleichgültigkeit gegenüber der Achtung der körperlichen Integrität und sexuellen Selbstbestimmung des Opfers. Als erschwerend wertete das Gericht im Einzelnen das Zusammentreffen mehrerer Verbrechen mit mehreren Vergehen, die zwei einschlägigen Vorstrafen und den raschen Rückfall. Mildernd kamen dem BF hingegen die Tatbegehung teilweise noch als Jugendlicher, sein Alter unter 21 Jahren und sein zumindest teilweises Geständnis zu Gute, wobei letzterem aufgrund der Verharmlosungstendenzen nur geringes Gewicht beigemessen werden könnte. Das OLG bestätigte die Entscheidung des Erstgerichtes und gab der Berufung keine Folge. Der BF hat kein Unrechtsbewusstsein. Ein Wiederaufnahmeantrag des Strafverfahrens wurde nicht gestellt.

Der BF verursachte insgesamt 8 polizeiliche Amtshandlungen.

Der Beschwerdeführer befindet sich seit 25.05.2020 in Strafhaft. Der BF ist gemeingefährlich, eine positive Zukunftsprognose ist nicht gegeben und die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung überwiegen dem Interesse am Weiterbestehen des Schutzes durch den Zufluchtsstaat. Der BF stellte eine Gefahr für die Allgemeinheit dar, sein Aufenthalt stellt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar.

Der Beschwerdeführer besuchte eine NMS und anschließend einen Polytechnischen Lehrgang. Aufgrund seines langjährigen Aufenthaltes in Österreich und seinen Schulbesuch konnte er sich Deutschkenntnisse aneignen. Von 02.11.2018 bis 20.12.2018 ging er einer Arbeit für die XXXX nach. Vorher bezog er vom 06.11.2017 bis 28.11.2017 vom AMS Wien Jugendliche Arbeitslosengeld. Darüber hinaus absolvierte er weder Kursen oder sonstige Ausbildungen. Er ist weder bei einem Verein noch einer anderen Organisation Mitglied. Der BF war in Österreich nie gemeinnützig bzw. ehrenamtlich tätig. Der BF lebte – vor seiner Inhaftierung - mit seiner Mutter und seinen Geschwistern im gemeinsamen Haushalt. Der BF verfügt über Bekannte- und Freund in Österreich.

Der Beschwerdeführer ist rechtswidrig in Österreich eingereist und hat – außer seinen asylrechtlichen Status – kein Aufenthaltsrecht in Österreich.

Der BF ist grundsätzlich seinem Alter entsprechend entwickelt, gesund und arbeitsfähig.

Der BF ist in seinem Herkunftsstaat nicht vorbestraft, war dort nie inhaftiert, war kein Mitglied einer politischen Partei oder sonstigen Gruppierung, er hat sich nicht politisch betätigt und hatte keine Probleme mit staatlichen Einrichtungen oder Behörden im Herkunftsland.

1.2. Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF in sein Herkunftsland:

Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan wird der BF aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter nicht bedroht. Der BF wird aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie verfolgt.

Weiters kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer auf Grund der Tatsache, dass er sich in Europa aufgehalten hat bzw., dass er als afghanischer Staatsangehöriger, der aus Europa nach Afghanistan zurückkehrt, deshalb in Afghanistan einer Verfolgung ausgesetzt wäre.

Da der BF keine gesundheitlichen Einschränkungen und keine Vorerkrankungen hat, ist nicht davon auszugehen, dass der BF durch eine etwaige Erkrankung an das COVID-19 Virus eine schwere Erkrankung oder gar den Tod erleiden würde.

Es kann nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass dem BF bei einer Überstellung in seine Herkunftsprovinz Laghman ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde.

Seit dem Zeitpunkt der Gewährung internationalen Schutzes durch den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl Außenstelle Innsbruck vom 10.02.2015, sind keine wesentlichen Veränderungen in der persönlichen Situation des BF in Afghanistan, insbesondere hinsichtlich seiner Fluchtgründe und des Nichtvorliegens einer innerstaatlichen Fluchtalternative, eingetreten. Eine wesentliche Verbesserung der Sicherheits- und Versorgungslage ist in Afghanistan seit dem Jahr 2015 nicht eingetreten.

Der BF wird aufgrund zur Zugehörigkeit zu seiner Familie in Afghanistan verfolgt. Eine innerstaatliche Fluchtalternative ist nicht gegeben.

Dem BF ist es bei einer Rückkehr nicht möglich ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befrieden zu können, bzw. ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten, zu leben. Dem BF würde bei seiner Rückkehr in Afghanistan ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.

1.4. Zum Herkunftsstaat:

Das BVwG trifft folgende Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat unter Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019 und Teilaktualisierung am 16.12.2020:

„Länderspezifische Anmerkungen

Aktueller Stand der COVID-19 Krise in Afghanistan

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. In der vorliegenden Länderinformation erfolgt lediglich ein Überblick und keine erschöpfende Berücksichtigung der aktuellen COVID-19-PANDEMIE, weil die zur Bekämpfung der Krankheit eingeleiteten oder noch einzuleitenden Maßnahmen ständigen Änderungen unterworfen sind. Besonders betroffen von kurzfristigen Änderungen sind Lockdown-Maßnahmen, welche die Bewegungsfreiheit einschränken und damit Auswirkungen auf die Möglichkeiten zur Ein- bzw. Ausreise aus / in bestimmten Ländern und auch Einfluss auf die Reisemöglichkeiten innerhalb eines Landes haben kann.

Insbesondere können zum gegenwärtigen Zeitpunkt seriöse Informationen zu den Auswirkungen der Pandemie auf das Gesundheitswesen, auf die Versorgungslage sowie generell zu den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und anderen Folgen nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden.

Die hier gesammelten Informationen sollen daher die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung (12.2020) wiedergeben. Es sei zu beachten, dass sich bestimmte Sachverhalte (zum Beispiel Flugverbindungen bzw. die Öffnung und Schließung von Flughäfen oder etwaige Lockdown-Maßnahmen) kurzfristig ändern können. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert. Zusätzliche Informationen zu den einzelnen Themengebieten sind den jeweiligen Kapiteln zu entnehmen.

Letzte Änderung: 14.12.2020

Covid-19

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https: // www.who.int/ emergencies/ diseases/nov el-coronav irus-2019/ situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https:// gisanddata.maps.arcgis.com/apps/ opsdashboard/index.html#/ bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (AfghanMoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban:

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt.

Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID- 19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien,Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.9.2020; vgl. WB 28.6.2020).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM 23.9.2020).

Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Mit Stand vom 21.9.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.9.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten.

Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNOCHA 12.11.2020; vgl. AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA 12.11.2020).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen

(30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um zwischen 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet

die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.9.2020; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 23.9.2020). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt (Flightradar 24 18.11.2020). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 23.9.2020).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Mit Stand 22.9.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt - zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.9.2020).

4 Politische Lage

Letzte Änderung: 14.12.2020

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (USDOS 11.3.2020; vgl. Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Zugleich werden aber verfassungsmäßige Rechte genutzt um die Regierungsarbeit gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch finanzieller Art an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelte Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.6.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004; USDOS 20.6.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.7.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.7.2020; vgl. DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.7.2020).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60????000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020, EASO 8.2020).

Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.2.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.9.2020; vgl. EASO 8.2020) wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 6.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die „innerhalb des Islam“ vorgesehen sind (BBC 22.9.2020). Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (AJ 5.10.2020).

5 Sicherheitslage

Letzte Änderung: 14.12.2020

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020). Für den Berichtszeitraum 1.1.2020-30.9.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012 (UNAMA 27.10.2020).

Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu(SIGAR 30.7.2020).

Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (UNGASC 17.3.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mission (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindliche Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020) . Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen - speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020). Es gab im letzten Jahr (2019) eine Vielzahl von Operationen durch die Sondereinsatzkräfte des Verteidigungsministeriums (1.860) und die Polizei (2.412) sowie hunderte von Operationen durch die Nationale Sicherheitsdirektion (RA KBL 12.10.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu einem Anstieg feindlicher Angriffe um 6% bzw. effektiver Angriffe um 4% gegenüber 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte - insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite - insbesondere der Taliban - sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direktem (25%) und indirektem Beschuß (5%) verantwortlich - dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

Die erste Hälfte des Jahres 2020 war geprägt von schwankenden Gewaltraten, welche die Zivilbevölkerung in Afghanistan trafen. Die Vereinten Nationen dokumentierten 3.458 zivile Opfer (1.282 Tote und 2.176 Verletzte) für den Zeitraum Jänner bis Ende Juni 2020 (UNAMA 27.7.2020)

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten ’green-on-blue-attack’: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriff gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 6.2020). Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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