TE OGH 2021/8/5 2Ob106/21h

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Veröffentlicht am 05.08.2021
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé sowie die Hofräte Dr. Nowotny und MMag. Sloboda als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei H***** L*****, vertreten durch Reif und Partner Rechtsanwälte OG in Graz, gegen die beklagten Parteien 1. W***** D*****, vertreten durch Dr. Gerhard Hackenberger und Mag. Jürgen Greilberger, Rechtsanwälte in Graz, und 2. H*****, vertreten durch Mag. Armin Kern, Rechtsanwalt in Graz, wegen 4.000 EUR sA und Feststellung (500 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Berufungsgericht vom 18. März 2021, GZ 3 R 33/21a-27, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Bezirksgerichts Graz-Ost vom 26. November 2020, GZ 223 C 590/19i-19, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt und beschlossen:

Spruch

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

A. Das angefochtene Urteil wird teilweise dahin abgeändert, dass es als Teil- und Teilzwischenurteil insgesamt folgendermaßen zu lauten hat:

„1. Das Zahlungsbegehren, die zweitbeklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei 4.000 EUR samt 4 % Zinsen seit 16. Oktober 2019 zu bezahlen, besteht dem Grunde nach zu einem Viertel zu Recht.

2. Das weitere Zahlungsbegehren,

a) die beklagten Parteien seien zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei 3.000 EUR samt 4 % Zinsen seit 16. Oktober 2019 zu bezahlen, und

b) die erstbeklagte Partei sei zur ungeteilten Hand mit der zweitbeklagten Partei schuldig, der klagenden Partei weitere 1.000 EUR samt 4 % Zinsen seit 16. Oktober 2019 zu bezahlen,

wird abgewiesen.

3. Das Klagebegehren, es werde mit Wirkung zwischen den Streitteilen festgestellt, dass die beklagten Parteien gegenüber der klagenden Partei zur ungeteilten Hand für alle unfallskausalen, derzeit noch nicht bekannten Schäden resultierend aus dem Verkehrsunfall vom 20. März 2019 haften, wird betreffend die erstbeklagte Partei zur Gänze, betreffend die zweitbeklagte Partei zu drei Vierteln abgewiesen.“

Die klagende Partei ist schuldig, der erstbeklagten Partei die mit 2.680,93 EUR (darin enthalten 408,49 EUR USt und 230 EUR Barauslagen) bestimmten Verfahrenskosten aller drei Instanzen binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Die Entscheidung über die auf das Zahlungsbegehren gegenüber der zweitbeklagten Partei entfallenden Verfahrenskosten bleibt dem Endurteil vorbehalten.

B. Im Übrigen, somit im Umfang der Entscheidung über das Feststellungsbegehren gegenüber der zweitbeklagten Partei zu einem Viertel sowie hinsichtlich der Entscheidung über die auf das Feststellungsbegehren betreffend die zweitbeklagte Partei entfallenden Kosten, werden die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben und es wird die Rechtssache insoweit an das Erstgericht zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Die auf das Feststellungsbegehren entfallenden Kosten des Rechtsmittelverfahrens betreffend die zweitbeklagte Partei sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Entscheidungsgründe:

[1]       Am 20. 3. 2019 ereignete sich gegen 11:40 Uhr in Graz auf Höhe Conrad-von-Hötzendorf-Straße 14 ein Verkehrsunfall, an dem die Klägerin als Fußgängerin und ein vom Erstbeklagten geführter Straßenbahnzug der Zweitbeklagten beteiligt waren.

[2]       Die Unfallstelle befindet sich auf Höhe des Finanzamts. Die Conrad-von-Hötzendorf-Straße verläuft im näheren Unfallbereich vollkommen gerade von Norden in Richtung Süden und ist übersichtlich. Östlich anschließend an die 7,3 m breite Fahrbahn befindet sich ein 0,9 m breiter asphaltierter Streifen, der wiederum von einer versenkten Granitrandleiste begrenzt wird. Daran schließt ein geschotterter, 1,7 m breiter, mit Büschen bewachsener Streifen an, der die Gleisanlage von der Fahrbahn der Conrad-von-Hötzendorf-Straße trennt. Die Gleisanlage ist 5,3 m breit und weist zwei Schienenstränge auf.

[3]       Von der Gehsteigkante vor dem Finanzamt lässt sich der Schienenstrang in Richtung Norden ca 200 m weit überblicken. Die Haltestelle der Straßenbahn, die in Richtung Süden fährt, befindet sich ca 65 bis 75 m, jene in Richtung Norden rund 25 m nördlich der Unfallstelle.

[4]       Am Unfallstag verließ die Klägerin das Finanzamt und beabsichtigte, mit der Straßenbahn in Richtung Norden nach Hause zu fahren. Um die Straßenbahnhaltestelle zu erreichen, überquerte sie die Conrad-von-Hötzendorf-Straße, wobei sie zur besseren Fortbewegung mit zwei „Nordic-Walking-Stöcken“ ausgestattet war. Nachdem sie die Fahrbahn überquert hatte, blieb sie im Bereich des Grünstreifens, der die Gleisanlage von der Fahrbahn abgrenzt, stehen. Mit einer Körpergröße von ca 1,68 m überragte sie die dort befindlichen, weniger als 1 m hohen Büsche. Von dieser Position aus blickte sie in Richtung Süden, wo sie ca 70 m südlich der Unfallstelle eine sich in Fahrtrichtung Norden annähernde Straßenbahn erblickte, in die sie in weiterer Folge einsteigen wollte.

[5]       Zeitgleich führte der Erstbeklagte einen Straßenbahnzug von Norden kommend in Richtung Süden und führte an der Haltestelle „Finanzamt“ einen Fahrgastwechsel durch. Anschließend fuhr er wieder los und beschleunigte den Straßenbahnzug auf 32 km/h. Etwa 11,5 bis 12 m nördlich der Unfallstelle nahm er die zwischen den Büschen stehende Klägerin zum ersten Mal wahr, die ihrerseits jedoch den vom Erstbeklagten geführten Straßenbahnzug nicht bemerkte. Um den Gleiskörper zu überqueren, begann sich die Klägerin sodann in Bewegung zu setzen, indem sie zuerst ihre beiden „Nordic-Walking-Stöcke“ vor sich aufsetzte, ihren Oberkörper nach vorne beugte und einen Schritt nach vorne machte. Als der Erstbeklagte das erste Anzeichen des Losgehens der Klägerin durch das Aufsetzen ihrer „Nordic-Walking-Stöcke“ sah, betätigte er unverzüglich die Warnglocke und leitete gleichzeitig eine Notbremsung ein. Auf das Warnzeichen reagierte die Klägerin jedoch nicht. Erst unmittelbar vor dem Zusammenprall blickte die Klägerin in Richtung des vom Erstbeklagten geführten Straßenbahnzugs. Die Klägerin wurde von der rechten abgeschrägten Frontecke des auf 10 km/h abgebremsten Straßenbahnzugs im Bereich ihres Gesichts erfasst und zurück in die Büsche geschleudert, die ihren Sturz abfedern konnten. Die Klägerin erlitt durch den Unfall schwere Verletzungen.

[6]       Die Klägerin hätte vor dem Losgehen erkennen können, dass sich von links der vom Erstbeklagten geführte Straßenbahnzug nähert. Der nächstgelegene Schutzweg war mehr als 25 m von der Querungsstelle der Klägerin entfernt.

[7]       Eine in den Büschen neben der Gleisanlage stehende Person stellt insoweit „keine Gefahr“ für die in Richtung Süden fahrenden Straßenbahnzüge dar, als ein ausreichender seitlicher Sicherheitsabstand zur Gleisanlage gegeben ist.

[8]       Die Klägerin begehrt von den Beklagten die Zahlung von 4.000 EUR als die Hälfte des angemessenen Schmerzengeldes (insoweit „aus advokatorischer Vorsicht“) sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten zur ungeteilten Hand für alle unfallskausalen, derzeit noch nicht bekannten Schäden. Da sie die Conrad-von-Hötzendorf-Straße in einem Bereich gequert habe, wo sich kein Fußgängerübergang über den Gleiskörper befinde, sei sie vom Vertrauensgrundsatz des § 3 StVO ausgenommen gewesen. Der Erstbeklagte hätte bereits aus größerer Entfernung, zumindest aber beim Abfahren aus der Haltestelle wahrnehmen können, dass die erkennbar gehbehinderte Klägerin den Gleiskörper betreten und queren werde. Er hätte die Straßenbahn nicht stark beschleunigend bis auf 32 km/h in Bewegung setzen dürfen, sondern seine Fahrgeschwindigkeit herabsetzen, zumindest aber bremsbereit fahren müssen. So hätte er den Unfall verhindern können.

[9]       Die Beklagten wenden das Alleinverschulden der Klägerin am Unfall ein, weil diese den Gleiskörper unmittelbar vor der herannahenden Straßenbahn betreten habe. Der Erstbeklagte habe auf das Losgehen der zuvor zwischen den Büschen stehenden Klägerin prompt mit einer „Gefahrenbremsung“ und Betätigung der Warnglocke reagiert. Er habe damit, dass die Klägerin seine Vorbeifahrt nicht abwarten werde, nicht rechnen müssen. Umstände, wonach der Vertrauensgrundsatz des § 3 StVO nicht anwendbar sei, seien nicht vorgelegen. Den Erstbeklagten treffe daher kein Verschulden. Eine Haftung der Zweitbeklagten nach den Bestimmungen des EKHG scheide ebenfalls aus, weil der Erstbeklagte dem Sorgfaltsmaßstab des § 9 EKHG entsprochen habe und der Unfall daher auf ein unabwendbares Ereignis zurückzuführen sei.

[10]     Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

[11]     Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Es sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 5.000 EUR, nicht aber 30.000 EUR übersteige und die ordentliche Revision zulässig sei.

[12]     Das Berufungsgericht führte – teilweise unter Verweis auf die Begründung des Erstgerichts – aus, die Klägerin habe gegen § 28 Abs 2 StVO verstoßen, wonach ua unmittelbar vor und unmittelbar nach dem Vorüberfahren eines Schienenfahrzeugs die Gleise nicht überquert werden dürften. Angesichts der Absicht des Gesetzgebers, den flüssigen Verkehr von Schienenfahrzeugen zu fördern, könne vom Lenker eines Straßenbahnzugs nicht verlangt werden, dass er wegen eines jeden Fußgängers, der vorschriftswidrig ungeachtet einer herankommenden Straßenbahn die Fahrbahn betrete und sich den Gleisen nähere, eine Notbremsung oder sonst eine nachhaltige Bremsung durchführe. Mangels erkennbaren verkehrswidrigen Verhaltens der Klägerin habe für den Erstbeklagten – bevor sie sich aus ihrem Stillstand am Grünstreifen wiederum in Bewegung gesetzt habe – keine Veranlassung bestanden, bremsbereit zu fahren, zu „klingeln“ oder seine Geschwindigkeit zu reduzieren, sei doch für ein gefahrloses Passieren der Straßenbahn ein ausreichender Seitenabstand zur stehenden Klägerin vorhanden gewesen. Die Klägerin sei auch nicht vom Vertrauensgrundsatz nach § 3 StVO ausgenommen. Eine körperliche Beeinträchtigung einer Person, gegenüber der der Vertrauensgrundsatz nicht gelte, müsse offensichtlich sein. Das Tragen eines gewöhnlichen Gehstocks sei nicht ausreichend, um eine offensichtliche Gebrechlichkeit zu signalisieren. Alte Personen seien von der Ausnahmebestimmung des § 3 StVO nicht ausdrücklich erfasst. Sie genössen als solche nicht von vornherein erhöhten Schutz. Die Klägerin habe mit der Verwendung der „Nordic-Walking-Stöcke“ für andere Straßenbenützer nicht die Zugehörigkeit zum Kreis der geschützten Personen mit einer offensichtlichen körperlichen Beeinträchtigung signalisiert, sodass dem Erstbeklagten kein Verstoß gegen den Vertrauensgrundsatz des § 3 StVO anzulasten sei. Dem Erstbeklagten sei kein Fehlverhalten vorzuwerfen. Er habe nicht damit rechnen müssen, dass die in den Büschen des die Gleisanlage von der Fahrbahn trennenden Streifens stehende Klägerin die Gleise plötzlich betreten werde, ohne sich zuvor einen Überblick über die Verkehrslage zu verschaffen. Er habe davon ausgehen dürfen, dass die Klägerin das Vorbeifahren des Straßenbahnzuges abwarten werde. Er habe beim ersten Anzeichen des Losgehens der Klägerin mit der unverzüglichen Notbremsung und der Betätigung der Warnglocke prompt reagiert. Da auch bei Anwendung des strengen Sorgfaltsmaßstabs des § 9 Abs 2 EKHG mit einem derart vorschriftswidrigen Verhalten, wie es die Klägerin gesetzt habe, nicht gerechnet habe werden müssen und der Erstbeklagte sich nicht auf alle nur erdenkliche Unfallsmöglichkeiten einzustellen brauchte, komme eine Haftung der Zweitbeklagten nach dem EKHG nicht in Betracht. Es liege ein unabwendbares Ereignis iSd § 9 EKHG vor.

[13]     Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil der Lösung der Rechtsfrage, ob bereits die Nutzung eines für die Querung durch Fußgänger nicht vorgesehenen Bereichs wie einer Grünfläche durch einen Fußgänger als Anzeichen dafür gewertet werden müsse, dass diese Person nicht dem Kreis jener Personen zuzurechnen sei, denen nach § 3 Abs 1 StVO vertraut werden dürfe, eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukomme und dazu keine Judikatur des Obersten Gerichtshofs vorliege.

[14]           Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin mit dem Antrag auf Abänderung des angefochtenen Urteils im Sinne der gänzlichen Klagestattgebung; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[15]     Die Beklagten beantragen in ihren Revisionsbeantwortungen, die Revision mangels erheblicher Rechtsfrage zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[16]           Die Revision ist zulässig, weil dem Berufungsgericht bei der Annahme eines unabwendbaren Ereignisses iSd § 9 EKHG eine Fehlbeurteilung unterlaufen ist; sie ist auch teilweise gegenüber der zweitbeklagten Partei berechtigt.

[17]           Die Revisionswerberin macht geltend, ihr Aufenthalt auf dem Grünstreifen sei verboten und „verdächtig“ gewesen, weshalb der Vertrauensgrundsatz ihr gegenüber nicht anzuwenden sei. Der Erstbeklagte hätte die Verkehrssituation als bedenklich ansehen müssen, weshalb er früher reagieren, nämlich früher bremsen hätte müssen. Ein unabwendbares Ereignis iSd § 9 EKHG liege nicht vor.

[18]           Hierzu wurde erwogen:

[19]           1. Es mag sein, dass ein „Grünstreifen“ – wie hier der mit Büschen bewachsene Streifen, der die Fahrbahn vom Gleiskörper der Straßenbahn trennt – nicht für den Fußgängerverkehr bestimmt (iSv gewidmet) ist (vgl 2 Ob 155/05s; 2 Ob 65/20b). Dies bedeutet aber nicht, dass das Begehen dieses Streifens oder der Aufenthalt darauf durch Fußgänger verboten wäre, gibt es doch keine ein solches Verbot aussprechende Norm der StVO. Somit war das Betreten dieses Streifens und der Aufenthalt auf diesem – mit ausreichendem Abstand zum Gleiskörper – durch die Klägerin nicht rechtswidrig und somit auch nicht verkehrswidrig.

[20]           Solange ein bestimmtes verkehrswidriges Verhalten eines Verkehrsteilnehmers für einen anderen Verkehrsteilnehmer nicht vorhersehbar ist, kann diesem nach ständiger oberstgerichtlicher Rechtsprechung daraus, dass er ein solches Verhalten des anderen bei seiner eigenen Fahrweise nicht in Rechnung stellte, kein Vorwurf gemacht werden (RS0073181; vgl auch RS0073482). Dies bedeutet mit anderen Worten, dass bei einer nicht vom Vertrauensgrundsatz ausgenommenen Person (dazu ausführlich 2 Ob 56/15x) der Vertrauensgrundsatz solange gilt, als ein verkehrswidriges Verhalten dieser Person für einen anderen Verkehrsteilnehmer nicht erkennbar ist.

[21]           Im vorliegenden Fall kam somit der Vertrauensgrundsatz dem Erstbeklagten gegenüber der Klägerin bis zu dem Zeitpunkt zugute, in dem sie sich in Richtung des Gleiskörpers in Bewegung setzte.

[22]           2. Die von der Klägerin in diesem Zusammenhang angeführte Judikatur spricht gerade nicht für ihren Rechtsstandpunkt: Soweit Entscheidungen zitiert werden, in denen ein Fußgängerübergang durch Lichtzeichen geregelt war (ZVR 1971/62; OLG Innsbruck ZVR 1978/57), sind sie mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbar. Dasselbe gilt für die Rechtsprechung, die jeweils andere Konstellationen betrifft (ZVR 1965/108; RS0073898 [Klägerin stand nicht in der Straßenmitte]; RS0073799 [mit Betreten des Gleiskörpers durch die Klägerin musste der Erstbeklagte hier – wie ausgeführt – nicht rechnen]; RS0073844; RS0073730 [hier kein „Vorbeifahren“ iSd § 17 iVm § 2 Abs 1 Z 30 StVO]; ZVR 1979/293 [betrifft Kinder]; ZVR 1979/52). Aus den weiteren zitierten Entscheidungen (ZVR 1977/34; ZVR 1974/259; ZVR 1976/57; ZVR 1974/101; ZVR 1967/83; ZVR 1980/200) ergibt sich schließlich zusammengefasst, dass grundsätzlich auch gegenüber Fußgängern am Fahrbahnrand, auf dem Gehsteig oder im Haltestellenbereich sowie grundsätzlich auch gegenüber alten Fußgängern der Vertrauensgrundsatz gilt.

[23]           3. Im Licht dieser Erwägungen begegnet die Beurteilung des Berufungsgerichts, den Erstbeklagten treffe kein Verschulden, keinen Bedenken. Ihm gegenüber ist daher die gänzliche Klageabweisung zu bestätigen.

[24]           4. Allerdings trifft die Zweitbeklagte die Gefährdungshaftung nach dem EKHG:

[25]           4.1. Die nach § 9 Abs 2 EKHG geforderte erhöhte Sorgfaltspflicht, deren Beachtung den Unfall als unabwendbares Ereignis erscheinen lässt, setzt

nach ständiger Rechtsprechung nicht erst in der Gefahrenlage ein, sondern verlangt, dass von vornherein vermieden wird, in eine Lage zu kommen, aus der Gefahr entstehen kann (RS0058411; RS0058278). Bleibt ungeklärt, ob ein im Rahmen des § 9 EKHG zu berücksichtigender Umstand für die Entstehung des Unfalls ursächlich war, so geht dies zu Lasten des Halters (oder hier: des Betriebsunternehmers; RS0058926).

[26]           4.2. In dem ebenfalls einen Unfall mit Beteiligung einer Fußgängerin als Klägerin und einer Straßenbahn betreffenden Fall 2 Ob 68/13h hat der Senat ausgesprochen, ein verkehrswidriges Verhalten von Fußgängern stelle für den Lenker eines Kraftfahrzeugs dann ein unabwendbares Ereignis dar, wenn er nach den konkreten Umständen damit nicht zu rechnen brauchte und er den Unfall auch bei Anwendung der Vorsicht und Aufmerksamkeit eines besonders umsichtigen und sachkundigen Kraftfahrers nicht verhindern habe können. Deuteten aber Anzeichen darauf hin, dass der Fußgänger die Fahrbahn überqueren könnte, so müsse der Kraftfahrer darauf durch Herabsetzung der Geschwindigkeit oder Abgabe eines Warnsignals reagieren, um dem Sorgfaltsmaßstab des § 9 EKHG zu entsprechen. Diese Verhaltensregeln gälten auch für Straßenbahnfahrer (ErwGr 4.2.3.). Der Senat verneinte, dass die Straßenbahnfahrerin, die kein akustisches Warnsignal abgegeben hatte, die nach § 9 Abs 2 EKHG geforderte Sorgfalt eingehalten habe: Als geeignete und auch unfallvermeidende Gegenmaßnahme hätte sie bei äußerster Sorgfalt „bimmeln“ können und müssen, und zwar nicht erst bei Ansicht der losgehenden Klägerin, sondern in Annäherung an den Schutzweg früh genug, um die dort stehenden Fußgänger rechtzeitig zu warnen (ErwGr 4.3.; vgl auch 2 Ob 135/17t).

[27]           4.3. Im Sinne dieser Vorjudikatur hätte ein besonders sorgfältiger Straßenbahnfahrer angesichts der auf dem „Grünstreifen“ stehenden Klägerin nicht erst bei deren Losgehen, sondern schon vorher, als sie dort noch stand und in die andere Richtung nach Süden blickte, ein akustisches Warnsignal abgesetzt, um sie vor der herannahenden Straßenbahn zu warnen. Ein solches Verhalten wäre dem Erstbeklagten ohne Überspannung seiner (erhöhten) Sorgfaltspflicht auch zumutbar gewesen. Da alle Unklarheiten im Sachverhalt zu Lasten der Zweitbeklagten gehen (vgl 4.1.; vgl auch die Feststellung über die Überblickbarkeit des Schienenstrangs vom Finanzamt Richtung Norden ca 200 m), ist davon auszugehen, dass der Erstbeklagte die Blickrichtung der Klägerin wahrnehmen konnte und ihm die frühere Abgabe des akustischen Warnsignals möglich war.

[28]           Zu den vom Haftpflichtigen zu beweisenden Umständen gehört auch die fehlende Kausalität der Nichtbeachtung der nach § 9 Abs 2 EKHG gebotenen Sorgfalt (2 Ob 210/09k; RS0022541). Die Ungewissheit, ob die Klägerin auf ein früher abgegebenes Warnsignal unfallvermeidend reagiert hätte, geht somit ebenfalls zu Lasten der Zweitbeklagten.

[29]           4.4. Vor dem Losgehen der Klägerin war jedoch auch nach dem strengen Sorgfaltsmaßstab des § 9 Abs 2 EKHG eine Bremsung des Straßenbahnzugs durch den Erstbeklagten nicht zu verlangen. Andernfalls wäre nämlich aufgrund öfter notwendiger Bremsmanöver einerseits die Einhaltung des Fahrplans der öffentlichen Verkehrsmittel gefährdet und andererseits bei Notbremsungen ein erhöhtes Gefährdungspotenzial für beförderte (stehende) Fahrgäste durch Sturz gegeben.

[30]           4.5. Im Fall 2 Ob 68/13h beurteilte der Senat das Verschulden der bei grüner Fußgängerampel losgehenden Klägerin als gering und hielt die Schadensteilung von 2 : 1 zu Lasten der Klägerin für angemessen.

[31]           Im vorliegenden Fall kann das Verschulden der Klägerin hingegen nicht als derart gering bemessen werden. Daher ist hier eine Schadensteilung von 3 : 1 zu Lasten der Klägerin vorzunehmen.

[32]           5. Ergebnis für die Zweitbeklagte:

[33]           5.1. Dies führt dazu, dass die Zweitbeklagte der Klägerin dem Grunde nach mit einem Viertel haftet. Da zu den Schäden der Klägerin keine Feststellungen vorliegen, konnte daher betreffend das Zahlungsbegehren zugunsten der Klägerin nur ein Zwischenurteil über den Grund des Anspruchs gefällt werden. Da auch für die Beurteilung des Feststellungsbegehrens keinerlei Feststellungen vorliegen, sind diesbezüglich drei Viertel des Begehrens abzuweisen und im Übrigen die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben. Im fortgesetzten Verfahren wird im Falle einer stattgebenden Entscheidung auf die Haftungsbegrenzung des § 15 EKHG Bedacht zu nehmen sein (RS0039011 [T5]).

[34]           5.2. Im Fall der Teileinklagung eines Schadens ohne Einräumung eines Mitverschuldens darf dann, wenn der Schadensanteil unter Berücksichtigung eines festgestellten Mitverschuldens des Klägers zu ermitteln ist, über das Begehren des Klägers nicht hinausgegangen werden. In diesem Fall ist der eingeklagte Teilschaden vielmehr um die Mitverschuldensquote zu kürzen (RS0027184). Auch eine Teileinklagung „aus Gründen prozessualer Vorsicht“ führt dazu, dass der eingeklagte Teilschaden um die Mitverschuldensquote zu kürzen ist (RS0027184 [T5]).

[35]     Im vorliegenden Verfahren hat die Klägerin das Feststellungsbegehren nicht gekürzt und zu ihrem Zahlungsbegehren nur eingeräumt, es liege „unter Umständen“ auf ihrer Seite ein Beobachtungsfehler vor (ON 1 und 9). An anderer Stelle spricht sie von einem möglichen Mitverschulden (ON 5).

[36]     Die von der Rechtsprechung verlangte (unbedingte) Einräumung eines Mitverschuldens liegt mit diesem Klagevorbringen nicht vor, weshalb auch hier der eingeklagte Teilschaden um die Mitverschuldensquote von drei Vierteln zu kürzen ist.

[37]           6. Die Kostenentscheidung gründet sich für den Erstbeklagten auf die §§ 41, 50 ZPO, der Kostenvorbehalt betreffend die Zweitbeklagte gründet auf §§ 52 und 393 Abs 4 ZPO.

Textnummer

E132666

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:0020OB00106.21H.0805.000

Im RIS seit

23.09.2021

Zuletzt aktualisiert am

20.12.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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