TE Bvwg Erkenntnis 2020/12/9 W272 2231818-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 09.12.2020
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Entscheidungsdatum

09.12.2020

Norm

AsylG 2005 §7 Abs1
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §58 Abs2
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W272 2231818-1/16E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. BRAUNSTEIN als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, Außenstelle St. Pölten, vom 08.05.2020, Zahl XXXX , zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. – III. werden als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt IV. wird stattgegeben und in Erledigung der Beschwerde festgestellt, dass gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG und § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG iVm § 52 FPG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist und dem Beschwerdeführer gemäß § 58 Abs. 2 iVm § 55 Abs. 1 AsylG der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt wird.

III. In Erledigung der Entscheidung werden die Spruchpunkte V., VI. und VII. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.




Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge: BF), ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Zugehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, reiste gemeinsam mit seinen Eltern und seiner Schwester nach Österreich ein. Sein Vater beantragte am 03.12.2003 vor der Erstbehörde die Asylgewährung.

2. Im durchgeführten erstinstanzlichen Ermittlungsverfahren bezog sich der Vater des Beschwerdeführers zentral darauf seinen Herkunftsstaat verlassen zu haben, da er während der Tschetschenienkriege zur Jahrtausendwende zwar nicht mitgekämpft, aber Hilfsleistungen an die tschetschenischen Widerstandskämpfer geleistet hätte. Er, der Vater des BF, fürchte, ähnlich wie sein jüngerer Bruder im September 2002, im Zuge von Kontrollen russischer Kräfte in Tschetschenien festgenommen und getötet zu werden. Dies sei der Grund, weshalb der Vater des BF nach den Wahlen im Oktober 2003 gemeinsam mit dem Beschwerdeführer, dessen minderjährigen Schwester und dessen Mutter die Flucht aus seinem Heimatland ergriffen habe.

3. Am 07.04.2004 brachte die Mutter des Beschwerdeführers, als seine gesetzliche Vertreterin, im Zuge ihrer niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt für sich selbst, den Beschwerdeführer und dessen Schwester Asylerstreckungsanträge gemäß § 10 iVm § 11 AsylG 1997 ein. Dabei habe seine Mutter keine eigenen Fluchtgründe für den Beschwerdeführer geltend gemacht, sondern habe sie sich auf die Asylgründe ihres Ehemannes und Vater des Beschwerdeführers bezogen.

4. Mit Bescheiden des Bundesasylamtes vom 25.01.2005, Zl. 03 37.038-BAT wurde dem Asylantrag des Vaters des BF bzw. den Asylerstreckungsanträgen des BF, seiner Mutter und der Schwester des BF jeweils gemäß § 7 AsylG 1997 bzw. § 10 iVm § 11 Abs. 1 AsylG 1997 Asyl gewährt und kraft Gesetzes festgestellt, dass dem Beschwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft zukomme.

5. Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX , GZ. 9 Hv 112/17d, vom 17.10.2017, rechtskräftig am 17.10.2017, wurde der BF wegen des versuchten Einbruchs in das Juweliergeschäft XXXX am 20.05.2017 sowie wegen des versuchten Einbruchs in das Lokal XXXX am 21.05.2017 gemäß § 129 Abs 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten rechtskräftig verurteilt. Die Freiheitsstrafe wurde dem BF bedingt unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren nachgesehen.

6. Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX , GZ. 9 Hv 81/18x, vom 21.08.2018, rechtskräftig am 25.08.2018, wurde der BF wegen des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1 und 2 StGB und des Vergehens nach § 50 Abs 1 Z 2 WaffenG (Verstoß gegen das Waffengesetz) am 30.03.2018 zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten sowie einer unbedingten Geldstrafe von 180 Tagessätzen a EUR 4,- (im Fall der Nichteinbringung zu einer Ersatzfreiheitsstrafe von 90 Tagen) verurteilt. Als strafmildernd wurde das Geständnis, die Tatbegehung im Alter von 21 Jahren, die Provokation durch das Opfer und seine eigene Verletzung angesehen, als straferschwerend wurde der rasche Rückfall und die Tatbegehung während offener Probezeit betrachtet. Die verhängte Freiheitsstrafe wurde unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen. Vom Widerruf der mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 17.10.2017 zu AZ 9 Hv 112/17d gewährten, bedingten Strafnachsicht wurde abgesehen und die Probezeit unter einem auf fünf Jahre verlängert. Die sichergestellte Schreckschusspistole des BF wurde gemäß § 19a Abs 1 StGB konfisziert.

7. Aufgrund der Verständigung der Anklage des BF durch die Staatsanwaltschaft XXXX betreffend die Straffälligkeit wegen § 89 StGB, § 91 Abs. 2 StGB, § 107 Abs. 1 StGB leitete die Behörde ein Verfahren zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten ein.

8. Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX , GZ. 009 HV 31/19w, vom 10.05.2019, rechtskräftig am 09.08.2019, wurde der BF wegen des aufgrund zweier auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden, strafbaren Handlungen zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 24 Monaten, davon 16 Monate bedingt, verurteilt. Abgesehen vom Widerruf der bedingten Freiheitsstrafen aus den vorhergehenden Gerichtsurteilen wurde die Probezeit zur bedingten Strafnachsicht mit drei Jahren bemessen. Konkret wurde der BF als Erstangeklagter wegen des Verbrechens des Raubs § 142 Abs 1 StGB verurteilt. Als strafmildernd wirkte die geständige Verantwortung des BF sowie die Tatbegehung im Alter von unter 21 Jahren. Als straferschwerend wogen die zwei einschlägigen Vorstrafen sowie der rasche Rückfall, in dem der BF diese Tat ausübte, weiters die Tatbegehung in offener Probezeit. Mit gleichzeitigem Beschluss wurde eine Bewährungshilfe angeordnet, und dem BF die Weisung erteilt, eine fachpsychiatrische Behandlung samt Einnahme der ihm hierbei verordneten Medikation in Anspruch zu nehmen und dies dem Urteilgericht unaufgefordert vierteljährlich nachzuweisen. Auch ging das Gericht davon aus, dass die Strafe teilweise bedingt nachzusehen ist, da der BF zum ersten Mal das Haftübel verspürte und dem Bericht der Bewährungshelferin vom 02.05.2019 folgend – dringend einer fachpsychiatrischer Behandlung bedarf, und davon auszugehen war, dass die verbüßte Haft und die Anordnung von Bewährungshilfe sowie die Erteilung der Weisung effektiver von der neuerlichen Begehung von Straftaten abzuhalten ist, als der Vollzug der gesamten Freiheitsstrafe von zwei Jahren. Die fristgerechte Berufung des BF gegen dieses Urteil wurde seitens des Oberlandesgerichts XXXX abgewiesen. Der BF habe somit den Tatbestand des § 53 Abs. 1 iVm Absatz 3 Ziffer 1 Fremdenpolizeigesetz verwirklicht.

9. Am 24.09.2019 fand eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers zu seinem Aberkennungsverfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl statt, im Rahmen derer dem Beschwerdeführer seine Straftat vorgehalten wurde und zu seinen Lebensumständen in Österreich und der Russischen Föderation befragt wurde.

10. Am 01.10.2019 wurde der BF nach der Verbüßung des unbedingten Teils seiner letzten Freiheitsstrafe aus der Justizanstalt XXXX entlassen.

11. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.05.2020 wurde der dem Beschwerdeführer der mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 25.01.2005 zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG aberkannt und festgestellt, dass dem BF gemäß § 7 Abs. 4 AsylG die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme. Gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihm gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 53 Absatz 1 iVm Abs. 3 Z. 1 FPG wurde gegen den BF ein auf die Dauer von 8 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VI.) und festgelegt, dass die Frist für seine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VII.).

Dabei folgerte die Behörde, dass die Asylgewährung auf den Fluchtgründe seines Vaters im Rahmen der Asylerstreckung und zur Fortsetzung eines bestehenden Familienlebens beruhe. Die Mutter, als gesetzliche Vertreterin des Beschwerdeführers, habe zum Entscheidungszeitpunkt keine eigenen Fluchtgründe, die Person des BF betreffend, ins Treffen geführt. Seit der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten seien daher mehr als fünf Jahre vergangen und habe der BF seinen Hauptwohnsitz im Bundesgebiet. Der BF sei jedoch bereits insgesamt dreimal wegen Verbrechen/Vergehen (Raub, Einbruch, Diebstahl, gefährliche Drohung, Verstoß gegen das Waffengesetz) rechtskräftig gerichtlich verurteilt worden und habe er bereits über längere Zeit das Haftübel zu verspüren gehabt. Demnach sei der BF iSd § 2 Abs. 3 AsylG straffällig geworden und sei § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG anwendbar. Die Behörde vertrete die Auffassung, dass die Verfolgungsgründe des Vaters, von welchem der Asylstatus des BF abgeleitet worden sei, weggefallen seien und würden die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Asylstatus infolge Wegfalls der Umstände, die seinerzeit zur Zuerkennung geführt hätten, nicht mehr vorliegen. Der BF habe im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland keine Gefährdungs- bzw. Bedrohungslage ebendort zu befürchten. Eine aktuelle bzw. individuelle Furcht vor Verfolgung in der Russischen Föderation habe er nicht glaubhaft machen können. Zu den Gründen für die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und seiner Situation im Fall der Rückkehr führte die Behörde aus, dass nicht festgestellt werden könne, dass der BF in seinem Herkunftsstaat aktuell von solchen Verhältnissen betroffen sei, die dazu führten, dass er, wenn er sich dort aufhielte, einem realen Risiko unterworfen wäre, einer Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Gefahr ausgesetzt zu werden oder einer dem 6. oder 13. Zusatzprotokoll zur EMRK widerstreitenden Behandlung unterworfen zu sein. Es könne nicht festgestellt werden, dass der BF nach einer Rückkehr in die Russische Föderation bzw. Tschetschenien noch mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevanten Übergriffen ausgesetzt sei. Weiters würden keine stichhaltigen Gründe vorliegen, dass er konkret Gefahr liefe, in seinem Herkunftsstaat aktuell der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu sein. Der BF könne seinen Lebensunterhalt in der Russischen Föderation bestreiten und würde ebendort Arbeitsmöglichkeiten vorfinden. Im Fall des BF handle es sich um einen erwachsenen, jungen Mann im erwerbsfähigen Alter, der die landesüblichen Sprachen Russisch und Tschetschenisch spreche. Er sei gesund, arbeitsfähig und zweifelsohne mit den religiösen sowie gesellschaftlichen Gepflogenheiten in Tschetschenien vertraut. Laut den eigenen und den Angaben seiner Mutter in deren fremdenrechtlichen Verfahren verfüge der BF über Verwandtschaft im Herkunftsstaat, zu denen auch Kontakt bestehe. Er könne daher mit familiärer Unterstützung im Herkunftsstaat rechnen. Es sei dem BF zudem möglich und zumutbar, sich in der Russischen Föderation auch außerhalb der Teilrepublik Tschetschenien und des Föderationskreises Nordkaukasus niederzulassen und sich dort anzumelden. Er habe im Herkunftsstaat Zugang zu Sozialbeihilfen, Krankenversicherung und medizinischer Versorgung. Es könne nicht festgestellt werden, dass er bei einer Rückkehr in eine existenzbedrohende Notlage gedrängt werde oder den Verlust seiner Lebensgrundlage zu erleiden hätte. Der BF könnte sich, im Falle einer Rückkehr nach Tschetschenien bzw. in die Russische Föderation, eine neue Existenz aufbauen. Derzeit herrsche weltweit die als COVID-19 bezeichnete Pandemie. COVID-19 werde durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursacht. In seinem Herkunftsstaat (Russische Föderation) seien bisher 165.929 Fälle von mit diesem Corona-Virus infizierten Personen nachgewiesen worden, wobei bisher 1.537 diesbezügliche Todesfälle bestätigt worden (https://coronavirus.jhu.edu/map.html, abgerufen am 07.05.2020). Wie gefährlich der Erreger SARS-CoV-2 sei, könne derzeit noch nicht genau beurteilt werden, wobei vor allem alte Menschen und immungeschwächte Personen betroffen seien. Der BF habe keine schwerwiegenden Vorerkrankungen, sei laut Aktenlage gesund und nicht immungeschwächt. Der BF sei ein junger Erwachsener Anfang 20. Die Behörde könne daher ausschließen, dass er zur Covid-19-Risikogruppe zähle. Der BF habe auch keine Umstände glaubhaft in Vorlage, gebracht, wonach die Behörde davon ausgehen müsste, dass eine Rückkehr in seinen Herkunftsstaat unzumutbar wäre. Des Weiteren führte die Behörde hinsichtlich des Privat- und Familienleben und seinem Aufenthalt in Österreich aus, dass der BF ledig, kinderlos sei und derzeit keine Beziehung führe. Der BF verfüge über Verwandtschaft in Österreich, seine Eltern und seine drei Geschwister sowie Cousins und Cousinen. Der BF lebe mit seinen Eltern und Geschwistern in einem gemeinsamen Haushalt. Bezüglich seiner Eltern und Geschwister sei ebenfalls ein Aberkennungsverfahren von deren Asylstatus eingeleitet worden; die bescheidmäßige Aberkennung von deren Asylstatus stehe derzeit jedoch noch aus. Die Behörde stellte zudem fest, dass der BF über familiäre Anknüpfungspunkte in der Russischen Föderation bzw. in Tschetschenien verfüge (Onkel und Tante mütterlicherseits, Großmutter mütterlicherseits) und zu diesen– entgegen seiner eigenen Angaben im gegenständlichen Verfahren – auch Kontakt bestehe. Der BF spreche Deutsch und habe in Österreich seinen schulischen Bildungsweg absolviert. Nach seiner Volljährigkeit sei er in die Kriminalität abgeglitten und weise seitdem keine ernsthaften Integrationsbemühungen mehr auf. Der BF habe die meiste Zeit seit Beendigung seiner Pflichtschulausbildung im Bundesgebiet nicht gearbeitet, sondern von staatlichen Zuwendungen bzw. Unterstützungsleistungen seiner Eltern gelebt und sei der BF, in Anbetracht seiner Aufenthaltsdauer in Österreich, nicht in maßgeblichem Umfange integriert. In Österreich sei der BF massiv straffällig geworden und weise er bislang insgesamt drei rechtskräftige gerichtliche Verurteilungen auf, und zwar wegen versuchten Diebstahls durch Einbruch, wegen gefährlicher Drohung sowie wegen Raubes. Zu seiner Person sei überdies ein Waffenverbot gespeichert. Er habe bereits das Haftübel verspürt bzw. befinde sich derzeit in offener Probezeit. In einer Gesamtabwägung -geänderte Lage im Herkunftsland, keine Verfolgungsgefahr, massive bzw. wiederholte Straffälligkeit, gerichtliche Verurteilungen wegen vorsätzlich begangener strafbarer Handlungen und Raubdelikten, keine dauerhafte Etablierung am Arbeitsmarkt - würden im Fall des BF die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung seiner privaten Interessen am Verbleib im Bundesgebiet überwiegen. Zu den Gründen für die Erlassung des Einreiseverbots verwies die Behörde auf die drei im Strafregister eingetragenen rechtskräftigen Verurteilungen durch das Landesgericht XXXX . Demnach habe der BF den Tatbestand des § 53 Abs. 1 iVm Absatz 3 Ziffer 1 Fremdenpolizeigesetz verwirklicht. Die Tatbegehungen würden die Annahme, dass der weitere Aufenthalt des BF im Bundesgebiet die öffentliche Ordnung und Sicherheit massiv gefährde, rechtfertigen. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem Einreiseverbot sei zur Verhinderung von weiteren strafbaren Handlungen dringend geboten. Die privaten Interessen des BF am Verbleib im Bundesgebiet seien wegen der begangenen Straftaten einem geordneten Fremdenwesen unterzuordnen.

12. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer durch seinen gewillkürten Vertreter mit Schreiben vom 05.06.2020 fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Darin wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass sich, entgegen der Ansicht der Behörde, die Lage in der tschetschenischen Teilrepublik nicht maßgeblich und nachhaltig geändert habe. Das Vorliegen einer solchen Änderung sei von der Behörde nicht ausreichend begründet worden. Neben der Aufenthaltsdauer des BF wurde ins Treffen geführt, dass dem BF die sozialen Kontakte als auch die notwendige Unterstützung anderer, um sich dort wieder ein normales Leben aufbauen zu können, fehlen würden. Ferner habe die Behörde betreffend die strafrechtlichen Verurteilungen keine einzelfallbezogene Prüfung vorgenommen und nicht ausreichend begründet, warum der BF eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit darstelle. Die Behörde habe die Prognose lediglich auf seine früheren Verurteilungen gestützt. Falls von der Erlassung eines Einreiseverbotes dennoch nicht zur Gänze abgesehen werden könne, werde um entsprechende Herabsetzung ersucht.

13. Am 19.10.2020 erfolgte eine mündliche Verhandlung vor dem BVwG. Folgende Dokumente wurde auftragsgemäß nachgereicht:

?        Versicherungsdatenauszug

?        Positives Schulzeugnis polytechnische Schule (neunte Schulstufe) Schuljahr 2014/15

?        Schulzeugnis 4 Klasse NMS inkl. ergänzende differenzierende Leistungsbeschreibung

?        Angebote Wohnungsmöglichkeit Emmausgemeinschaft 15.02.2019

?        Lebenslauf

?        Bewerbungsschreiben August 2020

?        AMS Vormerkung Lehrstellensuchend vom August 2020

?        Urkunde Landesmeisterschaft Kunstturnen 2010

?        Sporturkunden 2007, 2009, 2011, 2013

?        Aktueller Dienstvertrag vom 29.10.2020 bis 18.12.2020

14. Mit Schreiben des LG XXXX , eingelangt am 24.11.2020 wurde ein Zwischenbericht der Bewährungshilfe NEUSTART vom 09.12.2019 vorgelegt. Es wurde hier vorgebracht, dass der BF aktuell beim AMS gemeldet ist. Seine Termine teilweise einhält und bis dato drei Termine wahrgenommen wurden. Dazwischen seien Termine immer wieder unentschuldigt nicht wahrgenommen worden. Den Termin bei der psychiatrischen Betreuung hat der BF nicht wahrgenommen, obwohl er zweimal daran erinnert worden sei. Er zeige sich kaum motiviert, etwas an seiner Lebenssituation zu verändern, weshalb auch eine hohes Rückfallsrisiko gegeben sei. Ein weiterer Termin sei am 09.01.2020 bei Dr. XXXX vereinbart worden. Weiters wurde vorgelegt ein Befundbericht des Dr. XXXX indem festgehalten wurde, dass der BF an einer Anpassungsstörung leidet und Quetialan 3-mal täglich einnimmt. Ein weiterer Zwischenbericht vom 29.09.2020 der Bewährungshilfe NEUSTART wurde festgehalten, dass der BF zwei Bewährungshilfetermine seit der förmlichen Mahnung vom 29.07.2020 wahrgenommen hat. Am 31.07.2020 sowie am 10.08.2020. Die Termine am 03.09.2020, am 18.09.2020 sowie am 22.09.2020 wurden unentschuldigt nicht eingehalten. Am 25.09.2020 wurde der BF telefonisch ersucht in das Büro zu kommen, jedoch verweigerte der Klient einen persönlichen Termin. Der BF wurde am 09.09.2020 mitgeteilt, dass das zuständige Gericht über die Weisungseinhaltung berichtet werde. Es ist dem Bewährungshelfer nicht klar, ob der BF es bewusst und gewollt die Weisung nicht einhalte oder dies ein Symptom seiner Erkrankung sei. Die Bewährungshilfe kann zu einem möglichen Widerruf der bedingten Strafnachsicht keine Stellungnahme abgeben. Ein weiterer Bericht vom 02.11.2020 legte dar, dass der BF am 28.10.2020 selbständig Kontakt aufgenommen habe und daraufhin am 30.11.2020 einen persönlichen Termin wahrgenommen habe. Der Klient habe gebeten einen Termin für die psychiatrische Betreuung zu vereinbaren. Es wurde ein Termin für den 12.11.2020 vereinbart, dieser Termin wurde eingehalten.

15. Die Berichte wurden dem BF zur Abgabe einer Stellungnahme übermittelt. Der BF brachte mit Schreiben vom 02.12.2020 vor, dass er nun bemühe seine Termine für die Bewährungshilfe einzuhalten und ihm es bisher schwergefallen sei, die Termine einzuhalten. Weshalb dem so sei, könne er nicht klar sagen, vielleicht aufgrund seiner psychischen Belastung. Er möchte nunmehr seine Lebenssituation verbessern und die Termine einhalten und arbeite seit 29.10.2020 bei XXXX . Seine Tätigkeiten seien archäologische Grabungsarbeiten. Die Arbeit gefalle ihm und sie strukturiere seinen Alltag. Er werde sich mit seinen psychischen Belastungen und Erkrankungen auseinandersetzen und in psychiatrische Behandlung begeben. Die Bewährungshelferin NEUSTART, gab mit Schreiben vom 01.12.2020 wieder, dass der BF nunmehr seit Wochen (Ende Oktober) kooperativ und paktfähig sei. Aus fachlicher Sicht sei primäres Ziel ihn in eine adäquate psychiatrische Betreuung einzubetten. Der nächste Schritt sei den Kontakt mit Psychiatrischen Dienst der Caritas Kontakt aufzunehmen. Wichtig sei es, dass der BF über seine psychischen Belastungen sprechen könne. Durch seine Beschäftigung erfahre der BF einen strukturierten Alltag. Er sei nun offener, gesprächiger und zeige sich bereit über die psychischen Belastungen zu sprechen. Vorgelegt wurde auch ein Dienstvertrag mit der Firma XXXX für ein befristetes Arbeitsverhältnis vom 29.10.2020 bis 18.12.2020.

1. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der Einsichtnahme in den bezughabenden Verwaltungsakt sowie der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, das Zentrale Fremdenregister und Strafregister werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Zugehöriger der tschetschenischen Volksgruppe. Er reiste gemeinsam mit seinen Eltern und seiner Schwester in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte sein Vater am 03.12.2003 einen Asylantrag und seine Mutter, als dessen gesetzliche Vertreterin für ihn am 07.04.2004 einen Asylerstreckungsantrag, dem mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 25.01.2015, Zl. 03 37.040-BAT, gem. § 10 iVm § 11 Abs. 1 Asylgesetz 1997 stattgegeben und dem Beschwerdeführer gemäß § 11 AsylG Asyl gewährt und kraft Gesetzes festgestellt, dass dem Beschwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Die Zuerkennung des Asylstatus an den Vater, war aufgrund der Unterstützung von tschetschenischen Kämpfern im Tschetschenienkrieg.

Der Beschwerdeführer ist sowohl psychisch, mit Ausnahme einer Anpassungsstörung, als auch physisch gesund. Der Beschwerdeführer leidet an keiner schwerwiegenden oder gar lebensbedrohenden gesundheitlichen Beeinträchtigung. Der Beschwerdeführer ist arbeitsfähig.

1.2 Zum Leben in Österreich:

Der BF war zunächst, nach illegaler Einreise in das österreichische Staatsgebiet und Asylerstreckungsantrag am 07.04.2004, als Asylwerber in Österreich aufhältig und wurde ihm mit Bescheid des Bundesasylamtes am 25.01.2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Der Beschwerdeführer weist folgende rechtskräftige Verurteilungen auf:

1) Urteil des Landesgerichtes XXXX , GZ. 9 Hv 112/17d, vom 17.10.2017, rechtskräftig am 17.10.2017, wegen des Vergehens des Diebstahles durch Einbruch nach § 15 StGB, §§ 127, 129 Abs. 1 Z 1 StGB; zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, bedingt, unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren und der Anordnung einer Bewährungshilfe (Jugendstraftat); Der BF hat mit einem zweiten Verurteilten versucht, fremde, bewegliche Sachen und zwar Bargeld und weitere Wertgegenstände, mit dem Vorsatz sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, durch Einbruch in Geschäftslokale wegzunehmen versucht und zwar am 20.05.2017 dem Verfügungsberechtigten eines Juweliergeschäftes, indem sie versuchten die Eingangstür mit einem Hammer einzuschlagen, am 21.05.2017 den Verfügungsberechtigten eines Lokals, indem sie die hintere Eingangstüre einschlugen, es jedoch beim Versuch blieb, da der Alarm ausgelöst wurde und sie flüchteten. Die Strafbemessungsgründe mildernd waren das reumütige Geständnis, die Tatbegehung vor Vollendung des 21. Lebensjahres und der Umstand, dass es beim Versuch geblieben ist und der bisherige ordentliche Lebenswandel.

2) Urteil des Landesgerichtes XXXX , GZ. 9 Hv 81/18x, vom 21.08.2018, rechtskräftig am 25.08.2018, wegen Vergehen nach § 50 Abs. 1 Z 2 WaffG, der gefährlichen Drohung nach §§ 107 Abs. 1 und Abs. 2 StGB zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen a EUR 4,-- und zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten, bedingt, unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren und der Anordnung einer Bewährungshilfe (Jugendstraftat); Der BF hat am 30. März 2018 einen anderen durch Vorzeigen einer Schreckschusspistole und Abgabe von Schüssen in Richtung des Genannten mit dem Tode gefährlich bedroht, um ihn in Furcht und Unruhe zu versetzen und im Zeitraum vom Jänner 2018 bis 21.08.2018 eine verbotene Waffe, nämlich einen Schlagring, unbefugt besessen. Strafmildernd wurde gewertet das Geständnis, die Tatbegehung im Alter von unter 21 Jahren und die Provokation durch das Opfer und die eigene Verletzung, als erschwerend der rasche Rückfall und die Tatbegehung während offener Probezeit.

3) Urteil des Landesgerichtes XXXX , GZ. 009 HV 31/19w, vom 10.05.2019, rechtskräftig am 09.08.2019, wegen des Verbrechens des Raubes nach § 142 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten, davon 16 Monate, bedingt, unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren und der Anordnung einer Bewährungshilfe (junger Erwachsener). Der BF hat mit einem Mittäter (§ 12 erste Alternative) am 29. Jänner 2019 in XXXX einen anderen dadurch, dass er ihn aufforderte Geld und Handy zu übergeben widrigenfalls ihn schlagen werde, sodass er „gleich hier schlafe“, wobei er ihn an der rechten Schulter ergriff und zu sich zog, woraufhin der andere EUR 390,-- an Bargeld übergab und der Mittäter in die Hosentasche des anderen griff, um dessen Handy wegzunehmen, wobei es diesbezüglich beim Versuch blieb, sohin mit Gewalt sowie durch Drohung mit gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben fremde bewegliche Sachen mit dem Vorsatz abgenötigt bzw. wegzunehmen versucht sich oder einen Dritten durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern. Bei der Strafzumessung wurde berücksichtigt, dass der BF zwei einschlägige Vorstrafen hatte, die Tatbegehung in offener Probezeit war, sowie der rasche Rückfall, als mildernd hingegen die Tatbegehung im Alter von unter einundzwanzig Jahren sowie die geständige Verantwortung.

Mit Beschluss des LG XXXX vom 10. Mai 2019, 9 Hv 31/19w wurde dem BF eine Bewährungshilfe angeordnet und die Weisung erteilt, eine fachpsychiatrische Behandlung samt Einnahme der ihm hiebei verordneten Medikation in Anspruch zunehme und dies dem Landesgericht XXXX unaufgefordert vierteljährlich nachzuweisen.

Der BF kam zunächst den Terminen der Bewährungshilfe nur teilweise nach. Erst seit der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG, kam es zu einem fachpsychiatrischen Gespräch und nunmehrigen Einhalten der vorgesehenen Termine mit dem Bewährungshelfer/in. Die Bewährungshelferin geht von einer positiven Entwicklung des BF aus.

Der Beschwerdeführer ist seit Dezember 2003 in Österreich aufhältig. Der Beschwerdeführer stammt aus der Russischen Föderation, wo er die ersten fünf Lebensjahre verbracht hat. Der Beschwerdeführer ist mit den sozialen und kulturellen Gegebenheiten in der Russischen Föderation vertraut.

Die Eltern sowie die Geschwister, eine Schwester und zwei im österreichischen Bundesgebiet geborene Brüder sowie zwei Cousins des Beschwerdeführers, leben in Österreich. Der Beschwerdeführer ist ledig, kinderlos und hat keine Obsorgeverpflichtungen. Der Beschwerdeführer spricht und versteht Deutsch einwandfrei. Zusätzlich spricht und versteht er Tschetschenisch, Englisch und ein wenig Russisch. Der BF lebt bei seinen Eltern. Der BF hat tschetschenische und österreichische Freunde.

In Österreich besuchte der Beschwerdeführer die Volksschule und folglich die NMS und absolvierte die erste Klasse der polytechnischen Schule im Fachbereich Metall und schloss die neunte Schulstufe im Juni 2015 positiv ab. Der BF hat eine Lehre zum Einzelhandelskaufmann beim XXXX begonnen, aber nicht abgeschlossen. Zudem absolvierte er einen Wifi Kurs. Der BF ist zurzeit bis zum 18.12.2020 bei der XXXX beschäftigt. Sein Einkommen liegt über die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955).

Der Beschwerdeführer verfügt über familiäre Anknüpfungspunkte in seinem Herkunftsland, so lebt seine Großmutter und Tanten, Geschwister der Mutter, in der Russischen Föderation.

1.3. Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF in sein Herkunftsland:

Die Umstände, auf Grund deren der Vater des BF als Flüchtling anerkannt worden ist, bestehen nicht mehr. Die Umstände für die Zuerkennung des Status als Asylberechtigter haben sich wesentlich geändert. Es wird festgestellt, dass der BF oder sein Vater im Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation aus Gründen der Volksgruppenzugehörigkeit, der Rasse, Religion, Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter keiner Gefährdung ausgesetzt ist. Weiters liegen keine stichhaltigen Gründe vor, dass sie konkret Gefahr liefen, im Herkunftsstaat aktuell der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden.

Es wird festgestellt, dass der BF im Falle seiner Rückkehr in die Russische Föderation in keine existenzgefährdende Notlage geraten würde und ihm die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre. Die Verwandten des BF in der Russischen Föderation könnten ihn nach einer Rückkehr im Bedarfsfall anfänglich unterstützen. Zudem könnte er auch Unterstützung durch seine in Österreich lebenden Familienangehörigen erhalten.

Es ist dem BF möglich und zumutbar, sich in der Russischen Föderation auch außerhalb der Teilrepublik Tschetschenien und des Föderationskreises Nordkaukasus niederzulassen und sich dort anzumelden. Die wirtschaftlich stärkeren Metropolen und Regionen in Russland bieten trotz der derzeitigen Wirtschaftskrise und vorhandener Coronapandemie bei vorhandener Arbeitswilligkeit entsprechende Chancen auch für russische Staatsangehörige aus den Kaukasusrepubliken.

Es ist ihm möglich ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befrieden zu können, bzw. ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten, zu leben. Der BF hat Zugang zu Sozialbeihilfen, Krankenversicherung und medizinischer Versorgung. Es ist dem Beschwerdeführer möglich nach anfänglichen Schwierigkeiten in seinem Herkunftsland Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Da der BF keine gesundheitlichen Einschränkungen hat und keine Vorerkrankungen ist nicht davon auszugehen, dass der BF durch eine etwaige Erkrankung an das COVID-19 Virus eine schwere Erkrankung oder gar den Tod erleiden würde.

Der BF hat keine individuellen gefahrenerhöhenden Umstände aufgezeigt, die unter Beachtung seiner persönlichen Situation innewohnenden Umstände eine Gewährung von subsidiären Schutz auch bei einem niedrigen Grad willkürlicher Gewalt angezeigt hätte.

1.4. Zum Herkunftsstaat:

Zur Situation im Herkunftsland wird von den vom Bundesverwaltungsgericht ins Verfahren eingeführten Länderinformationen zur Russischen Föderation bzw. Tschetschenien ausgegangen (Auszug Gesamtaktualisierung am 27.03.2020 letzte Information am 21.07.2020).

2. Politische Lage

Letzte Änderung 21.07.2020

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 7.2020c; vgl. CIA 28.2.2020). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2020a; vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 7.2020a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018; vgl. FH 4.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018; vgl. FH 4.2.2019). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Am 15. Januar 2020 hat Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation eine Neuordnung des politischen Systems vorgeschlagen und eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt. Dmitri Medwedjew hat den Rücktritt seiner Regierung erklärt. Sein Nachfolger ist der Leiter der russischen Steuerbehörde Michail Mischustin. In dem neuen Kabinett sind 15 von 31 Regierungsmitgliedern ausgewechselt worden. Die Verfassungsänderungen ermöglichen Wladimir Putin für zwei weitere Amtszeiten als Präsident zu kandidieren. Der Volksentscheid über eine umfassend geänderte Verfassung fand am 1. Juli 2020 statt, nachdem er aufgrund der Corona Pandemie verschoben worden war. Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65% der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78% für und mehr als 21% gegen die Verfassungsänderungen. Neben der so genannten Nullsetzung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, durch die der amtierende Präsident 2024 und theoretisch auch 2030 zwei weitere Male kandidieren darf, wird das staatliche Selbstverständnis der Russischen Föderation in vielen Bereichen neu definiert. Der neue Verfassungstext beinhaltet deutlich sozialere und konservativere Inhalte als die Ursprungsverfassung aus dem Jahre 1993 (GIZ 7.2020a). Nach dem Referendum kam es zu Protesten von einigen hundert Personen in Moskau. Bei dieser nicht genehmigten Demonstration wurden 140 Personen festgenommen. Auch in St. Petersburg gab es Proteste (MDR 16.7.2020).

Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt. Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 7.2020a; vgl. AA 2.3.2020c).

Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern; die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2020a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016; vgl. Global Security 21.9.2016). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018).

Russland ist eine Föderation, die (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) aus 85 Föderationssubjekten mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2020a; vgl. AA 2.3.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2020a).

Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 7.2020a).

Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei künftig nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer "smarten Abstimmung" aufgerufen. Die Bürgerinnen sollten jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).

2.1.    Tschetschenien

Letzte Änderung: 27.03.2020

Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte von ihnen Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 12.2019).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019, FH 4.3.2020). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den russlandweiten Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen. Auch im Vorfeld der Wahlen hatte Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen der Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 4.3.2020; vgl. AA 13.2.2019). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 4.3.2020).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute „föderale Machtvertikale“ dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Ein Abkommen von September 2018 über die Abtretung von umstrittenem Territorium von Inguschetien an Tschetschenien hatte politische Unruhen in Inguschetien zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Der Konflikt um die Grenzziehung flammt immer wieder auf. Im März 2019 wurden Proteste in Inguschetien gewaltsam aufgelöst, wobei manche Teilnehmer körperlich gegen die Polizei Widerstand leisteten. 33 Personen wurden festgenommen (HRW 14.1.2020). Die Proteste hatten außerdem den Rücktritt des inguschetischen Präsidenten Junus-bek Jewkurow im Juni 2019 zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Jewkurows Nachfolger ist Machmud-Ali Kalimatow (NZZ 29.6.2019).

3.       Sicherheitslage

Letzte Änderung: 27.03.2020

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a; vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a; vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

3.1.    Nordkaukasus

Letzte Änderung: 27.03.2020

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt (SWP 10.2015; vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein „Wilajat Kavkaz“, eine „Provinz Kaukasus“, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2019). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Der größte Anteil an Gewalt im Nordkaukasus entfällt weiterhin auf Dagestan und Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019).

Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz (Caucasian Knot 30.8.2019).

Im Jahr 2019 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] bei 44 Personen, davon wurden 31 getötet (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

3.2.    Tschetschenien

Letzte Änderung: 27.03.2020

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3% (Caucasian Knot 30.8.2019). 2019 wurden in Tschetschenien im Rahmen des bewaffneten Konflikts sechs Personen getötet und fünf verletzt [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

4.       Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 21.7.2020

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuR – Europäischer Rat) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2019). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 4.3.2020).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Am 1. Oktober 2019 trat eine Reform des russischen Gerichtswesens in Kraft, mit der eigene Gerichte für Berufungs-und Kassationsverfahren geschaffen wurden, sowie die Möglichkeit von Sammelklagen eingeführt wurde. Wenngleich diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben grundlegende Mängel des russischen Gerichtswesens bestehen (z.B. de facto „Schuldvermutung“ im Strafverfahren, informelle Einflussnahme auf die Richter, etc.). Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen Ende 2018 rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2019). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019). So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexej Uljukaew im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2019).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, sodass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2019). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung in Einklang stehen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019, USDOS 11.3.2020). Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht. Mit Ende 2018 waren beim EGMR 11.750 Anträge aus Russland anhängig. Im Jahr 2018 wurde die Russische Föderation in 238 Fällen wegen einer Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verurteilt. Besonders zahlreich sind Konventionsverstöße wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Verstöße gegen das Recht auf Leben, insbesondere im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in Tschetschenien oder der Situation in den russischen Gefängnissen. Außerdem werden Verstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gerügt (ÖB Moskau 12.2019).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018). Bei den Protesten im Zuge der Kommunal- und Regionalwahlen in Moskau im Juli und August 2019, bei denen mehr als 2.600 Menschen festgenommen wurden, wurde teils auf diesen Artikel (212.1) zurückgegriffen (AI 16.4.2020).

Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 13.2.2019).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 13.2.2019).

4.1.    Tschetschenien und Dagestan

Letzte Änderung: 27.03.2020

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens und Dagestans. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition (EASO 9.2014).

Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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