TE OGH 2021/3/25 8Ob102/20p

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Veröffentlicht am 25.03.2021
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Tarmann-Prentner und Mag. Korn, den Hofrat Dr. Stefula und die Hofrätin Mag. Wessely-Kristöfel als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei E***** O*****, vertreten durch Mag. Eliane Hasenfuß, Rechtsanwältin in Linz, gegen die beklagte Partei S***** L*****, vertreten durch Rechtsanwälte Hawel Eypeltauer Gigleitner Huber & Partner in Linz, wegen 20.753,11 EUR sA und Feststellung, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 8. Juli 2020, GZ 2 R 84/20s-13, mit dem das Urteil des Landesgerichts Linz vom 28. Februar 2020, GZ 29 Cg 36/19v-8, teilweise abgeändert und teilweise aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Das Teilzwischenurteil des Berufungsgerichts wird dahin abgeändert, dass die Entscheidung hinsichtlich des Leistungsbegehrens als Teil- und Teilzwischenurteil lautet:

„Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei 20.753,11 EUR samt 4 % Zinsen seit 6. Mai 2019 zu zahlen, besteht dem Grunde nach im Ausmaß von 50 % zu Recht.

Das Mehrbegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei 10.376,55 EUR samt Anhang zu bezahlen, wird abgewiesen.“

Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens aller drei Instanzen bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

Text

Entscheidungsgründe:

[1]            Die Klägerin erlitt am 19. 12. 2017 als Fußgängerin auf dem von der Beklagten gehaltenen Platz vor dem Linzer „Wissensturm“ einen Unfall, bei dem sie verletzt wurde.

[2]            Aus dem gegenüber gelegenen Hotelgebäude kommend, wollte die nicht ortskundige Klägerin in die unter dem Areal befindliche Tiefgarage gelangen. Die in unmittelbarer Nähe vorhandenen Wegweiser zu den Garagenabgängen bemerkte sie nicht.

[3]            Unmittelbar neben der Ein- und Ausfahrt der Tiefgarage und 1,2 m neben einer Fahrradabstellanlage befindet sich auf dem Platz ein Treppenabgang, der zum Unfallzeitpunkt frei zugänglich, an drei Seiten mit einem Metallgitter gegen Absturz gesichert und ungekennzeichnet war. Die Klägerin vermutete in diesem Treppenabgang wegen seiner Lage einen Tiefgaragenzugang, tatsächlich aber führt die Treppe nur zu einer Trafostation des Wissensturms.

[4]            Es herrschte zum Unfallzeitpunkt winterliches Wetter mit Minusgraden. Während der Bereich um den Fahrradabstellplatz geräumt war, lag vor dem Treppenabgang Schnee. Die Klägerin wollte die Treppe betreten, um vermeintlich in die Tiefgarage zu gelangen, wobei sie noch vor der ersten Stufe auf dem unter dem Schnee vereisten Treppenabsatz ausrutschte und stürzte.

[5]            Die Beklagte bediente sich zur Schneeräumung im Bereich der streitgegenständlichen Gehsteigflächen und des Fahrradabstellplatzes eines Dienstleistungsunternehmens, dessen Auftrag aber nicht die Räumung des Bereichs um den ggenständlichen Treppenabgang umfasste.

[6]            Die Klägerin begehrt Schadenersatz für die erlittenen Verletzungsfolgen sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für zukünftige unfallkausale Schäden. Die Beklagte habe durch Unterlassen einer ausreichenden Schneeräumung die sie als Wegehalterin treffende Verkehrssicherungspflicht grob fahrlässig missachtet.

[7]            Die Beklagte wandte ein, die Klägerin habe den Unfall durch Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten selbst verschuldet, weil sie nicht ausreichend auf ihren Weg geachtet habe. Bei gehöriger Aufmerksamkeit wäre ihr leicht erkennbar gewesen, dass es sich bei dem Treppenabgang um keinen Garagenzugang handelte. Die Beklagte sei zur Räumung dieses Bereichs nicht verpflichtet gewesen.

[8]            Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Die Beklagte habe ihre Pflichten als Wegehalterin nicht im Sinne des § 1319 ABGB grob fahrlässig verletzt. Es habe kein Verkehrsbedürfnis bestanden, die Fläche vor einem Treppenabgang, der nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist, ständig zu räumen und zu streuen. Der Klägerin sei die Gefahr des Ausrutschens auf dem mit Schnee bedeckten Treppenabsatz bei gehöriger Aufmerksamkeit erkennbar gewesen.

[9]            Das Berufungsgericht gab dem Rechtsmittel der Klägerin Folge und sprach mit Teilzwischenurteil aus, dass das Zahlungsbegehren dem Grunde nach zu Recht bestehe. Im Umfang des Feststellungsbegehrens hob es das Urteil des Erstgerichts zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf.

[10]           Das Berufungsgericht führte aus, die Beklagte habe angesichts der festgestellten örtlichen Gegebenheiten damit rechnen müssen, dass Passanten den nicht abgesperrten Treppenabgang irrigerweise betreten, weil für Ortsunkundige sein Zweck und eine etwaige Unzulässigkeit der Benützung nicht klar erkennbar gewesen seien. Der Klägerin sei zuzubilligen gewesen, die Treppe näher in Augenschein zu nehmen und dazu den schneebedeckten Absatz zu betreten. Ein Hinweis auf eine besondere, ihr Mitverschulden begründende Unvorsichtigkeit ergebe sich aus dem Sachverhalt nicht.

[11]     Gemäß § 508 ZPO erklärte das Berufungsgericht über Antrag der Beklagten die ordentliche Revision (mangels darauf gerichteten Antrags aber nicht den Rekurs) für zulässig, weil eine den Winterdienst auf bzw vor frei zugänglichen, aber unbeschilderten Treppenabgängen betreffende Konkretisierung der oberstgerichtlichen Judikatur zu § 1319a ABGB wünschenswert und allgemein bedeutsam wäre.

[12]           Die auf den Anfechtungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte Revision der Beklagten gegen das Teilzwischenurteil des Berufungsgerichts strebt die Wiederherstellung der erstgerichtlichen Entscheidung an, in eventu wird die Abänderung der Berufungsentscheidung unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens der Klägerin begehrt. Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

[13]     Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht in seiner Entscheidung teilweise von den Grundsätzen der höchstgerichtlichen Rechtsprechung abgewichen ist. Die Revision ist dementsprechend teilweise berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[14]           1. Der Halter einer öffentlichen Fußgängerverkehrsfläche, in der sich gleich neben einer Tiefgaragenausfahrt und einem Fahrradabstellplatz ein unbeschilderter, frei zugänglicher Treppenabgang öffnet, muss damit rechnen, dass Passanten auch zu diesem Treppenabsatz hingehen. Es spielt dabei keine entscheidende Rolle, ob jemand die Treppe benützen will, weil er tatsächlich den Traforaum aufsuchen muss, ob er dort irrtümlich einen Tiefgaragenzugang sucht oder aus schlichter Neugier herausfinden möchte, wohin die Treppe führt, ob er sich auf den Stufen ausruhen oder sich an das Geländer lehnen möchte. Die Schutz- und Sorgfaltspflichten der Beklagten als Weghalterin erstreckten sich aufgrund der Vorhersehbarkeit solcher und anderer, durchwegs erlaubter Nutzungshandlungen, wie die Vorinstanzen zutreffend ausgesprochen haben, auch auf den Bereich vor dem Stiegenabgang.

[15]           2. Eine Haftung nach § 1319a ABGB besteht nur bei grober Fahrlässigkeit des Wegehalters. Darunter fällt eine auffallende Sorglosigkeit, bei der die gebotene Sorgfalt nach den Umständen des Falls in ungewöhnlicher Weise verletzt wird und der Eintritt des Schadens nicht nur als möglich, sondern geradezu als wahrscheinlich vorauszusehen ist (RIS-Justiz RS0030171; vgl RS0030644).

[16]     Welche Maßnahmen im Einzelnen zu ergreifen sind, richtet sich gemäß § 1319a Abs 2 letzter Satz ABGB danach, was nach der Art des Weges, besonders nach seiner Widmung, seiner Situierung in der Natur und das daraus resultierende Maß seiner vernünftigerweise zu erwartenden Benutzung, dem Verkehrsbedürfnis, angemessen und objektiv zumutbar ist (RS0087605 [T2]; RS0087607 [T6]).

[17]     Zumutbar ist, was nach allgemeinen und billigen Grundsätzen vom Halter erwartet werden kann. Generell wird der öffentlichen Hand gegenüber der Allgemeinheit mehr Verantwortung aufgebürdet als Privaten (2 Ob 235/15w; jüngst 6 Ob 117/20d).

[18]           Es kommt jeweils darauf an, ob der Wegehalter die ihm zumutbaren Maßnahmen getroffen hat, um die gefahrlose Benützung dieses Weges zu erreichen (RS0087605, RS0087607, RS0030202). Das völlige Unterbleiben einer Schneeräumung im Winter indiziert bei zu erwartender Nutzung grobe Fahrlässigkeit (vgl auch 6 Ob 117/20d [36]).

[19]           3. Im vorliegenden Fall steht fest, dass die Beklagte ein Unternehmen mit dem Winterdienst beauftragt hat, das unter anderem den Bereich um die Fahrradabstellplätze, aber nicht jenen der späteren Unfallstelle zu betreuen hatte. Ein Grund, aus dem es der Beklagten unzumutbar gewesen wäre, auch die nur 1,2 m neben dem Ende des Abstellplatzes gelegene Fläche vor dem Treppenabgang in den vertraglich festgelegten Winterbetreuungsbereich einzubeziehen, wurde nicht vorgebracht und ist auch nicht erkennbar.

[20]     Nach der Rechtsprechung könnte den Sorgfaltspflichten des Wegehalters unter Umständen im Einzelfall auch durch konkrete Hinweise entsprochen werden, an denen Benutzer vernünftigerweise ihr Verhalten ausrichten können (4 Ob 536/87; 6 Ob 117/20d). Bei einem offenen Treppenabgang kämen etwa ein von weitem erkennbares Betretungsverbotsschild, eine vorgelegte Kette oder eine Gittertür am Treppenabsatz, wie sie von der Beklagten nach dem Unfall der Klägerin montiert wurde, als Hinweise in Frage, die vernünftige Passanten vom Betreten des Treppenabsatzes abhalten können.

[21]           Tatsächlich hat die Beklagte nach dem Sachverhalt überhaupt keine Maßnahmen gesetzt, um den Unfallbereich bei Schnee- und Eisglätte abzusichern. Das Berufungsgericht hat dieses Versäumnis im Rahmen des bei der Verschuldensbeurteilung anzuwendenden Ermessensspielraums zu Recht als grobe Sorgfaltswidrigkeit beurteilt, die eine Haftung der Beklagten nach § 1319a ABGB begründete.

[22]     4. Die Revision ist aber damit im Recht, dass das Berufungsgericht bei der Beurteilung des Mitverschuldenseinwands von der höchstgerichtlichen Rechtsprechung abgewichen ist.

[23]           5. Wenn sich jemand einer ihm bekannten oder zumindest erkennbaren Gefahr aussetzt, handelt er auf eigene Gefahr (vgl RS0023006). Dabei ist zwischen dem echten und dem unechten Handeln auf eigene Gefahr zu unterscheiden.

[24]           Ein echtes Handeln auf eigene Gefahr ist nur gegeben, wenn dem Gefährder keine Schutzpflichten gegenüber jenem obliegen, der die Gefahr kannte oder erkennen konnte, und dem daher eine Selbstsicherung zugemutet werden konnte (RS0023101). Beim echten Handeln auf eigene Gefahr ist aufgrund einer umfangreichen Interessenabwägung zu beurteilen, ob die Rechtswidrigkeit des Handelns des Gefährders entfällt (RS0023006 [T5]).

[25]     Unechtes Handeln auf eigene Gefahr liegt dann vor, wenn den Gefährder Schutzpflichten gegenüber der sich selbst gefährdenden Person treffen. Bei Nichteinhaltung dieser Pflichten handelt der Gefährder rechtswidrig. Beim unechten Handeln auf eigene Gefahr ist Selbstgefährdung nur im Rahmen des Mitverschuldens zu prüfen (RS0023101 [T4]; 6 Ob 117/20d).

[26]     Die Behauptungs- und Beweislast für ein anrechenbares Mitverschulden trifft die beklagte Partei (RS0022560).

[27]           6. Der in erster Instanz an die Klägerin gerichtete Verschuldensvorwurf bestand darin, dass sie den Treppenabsatz ohne jede Notwendigkeit und trotz erkennbarer winterlicher Witterungsverhältnisse betreten habe, ohne sich vorher der Gefahrlosigkeit dieses Unterfangens zu versichern.

[28]     Bei Schadenersatzansprüchen wegen Verletzung von Verkehrssicherungspflichten liegt ein Mitverschulden nur dann vor, wenn ein sorgfältiger Mensch rechtzeitig erkennen konnte, dass Anhaltspunkte für eine solche Verletzung bestehen, und die Möglichkeit hatte, sich darauf einzustellen.

[29]     Von jedem Fußgänger ist zu verlangen, vor die Füße zu schauen, der einzuschlagenden Wegstrecke Aufmerksamkeit zuzuwenden und einem auftauchenden Hindernis oder einer gefährlichen Stelle nach Möglichkeit auszuweichen (vgl RS0027447; RS0023787 [T3]). Ein Mitverschulden scheidet dann aus, wenn die Gefährlichkeit einer Stelle bei gebotener Aufmerksamkeit nicht rechtzeitig zu erkennen ist und der Geschädigte bei rutschigem Boden auch keine überflüssigen Wege oder Schritte setzt (RS0023704 [T8]).

[30]           7. Für die Klägerin war die Schneeschicht beim Treppenabgang vor dem Unfall nach den Feststellungen ohne weiteres erkennbar. Die Wegfläche, auf der sie sich angenähert hatte, und der Bereich um die Fahrradständer waren geräumt, sodass ihr der Wechsel des Untergrundes besonders auffallen musste. Es steht auch fest, dass zum Unfallzeitpunkt Minusgrade herrschten und die Klägerin sich einer witterungsbedingten Rutschgefahr bewusst war.

[31]           Unter diesen Umständen wäre es der Klägerin bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten oblegen, den Schneebereich vor den abwärts führenden Stufen nur aufmerksam und vorsichtig zu betreten, unter Prüfung der Glätte des Untergrundes und bereit, sich erforderlichenfalls an der bis zum Treppenabsatz reichenden Gitterumzäunung des Abgangs anzuhalten.

[32]           Eine solche den Verhältnissen angepasste Gehweise wurde von der Klägerin ungeachtet des Mitverschuldenseinwands der Beklagten nicht behauptet und dementsprechend nicht festgestellt. Sie hat sich deshalb nach den Grundsätzen der Rechtsprechung ein Mitverschulden anrechnen zu lassen. Angesichts der sehr deutlich vorhandenen Gefahrenhinweise kann eine Verschuldensteilung von 1 : 1 zwischen den Streitteilen für angemessen erachtet werden.

[33]           8. Der Revision der Beklagten war daher im Umfang der Anfechtung teilweise Folge zu geben und der dem Grunde nach nicht berechtigte Anteil des Leistungsbegehrens mit Teilurteil abzuweisen.

[34]     Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.

Textnummer

E131601

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:0080OB00102.20P.0325.000

Im RIS seit

20.05.2021

Zuletzt aktualisiert am

20.05.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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