TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/15 W253 1406463-3

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 15.10.2020
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Entscheidungsdatum

15.10.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z5
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §9 Abs1
AsylG 2005 §9 Abs4
AVG §13 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z4
FPG §52 Abs5
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
VwGVG §17
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs5
VwGVG §31 Abs1

Spruch


W253 1406463-3/18E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Jörg C. Binder als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX ( XXXX ), geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den Rechtsanwalt Dr. Andreas Waldhof, Reichsratsstraße 13, 1010 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.04.2019, Zl. 438030707-181106880/BMI-BFA_NOE_RD, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 01.09.2020:

A)

I. beschlossen:

Das Verfahren betreffend die Beschwerde gegen Spruchpunkt I., II. und III. des angefochtenen Bescheides wird eingestellt.

II. zu Recht erkannt:

Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte IV., V., VI. und VII des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und diese Spruchpunkte ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und stellte am 21.12.2007 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Das Bundesasylamt wies mit Bescheid vom XXXX den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 bis zum 20.04.2010 (Spruchpunkt III.).

3. Die gegen den Spruchpunkt I. des unter Pkt. I.2. genannten Bescheides erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofs vom 17.06.2010, GZ C18 406.463-1/2009/18E, als unbegründet abgewiesen.

4. Die befristete Aufenthaltsberechtigung wurde in der Folge mehrfach, zuletzt mit Bescheid vom XXXX mit Gültigkeit bis zum 20.04.2015, verlängert.

5. Mit Schreiben vom 07.10.2012 wurde das Bundesasylamt von der Ausreise des Beschwerdeführers nach Pakistan verständigt.

6. In seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 11.04.2013 führte der Beschwerdeführer zusammengefasst aus, dass er einen afghanischen Reisepass von der afghanischen Botschaft ausgestellt bekommen habe. Seine Mutter habe Krebs, er habe sich den Reisepass besorgt um nach Pakistan fliegen zu können, er sei keinesfalls in Afghanistan gewesen. Der Beschwerdeführer habe sich, zwecks Erlangung der „NAG“, bei der MA 35 erkundigt, dort sei ihm gesagt worden, dass er einen Deutschkurs nachweisen müsse. Dies sei ihm bisher nicht möglich gewesen, da er arbeiten müsse, um seiner Mutter Geld schicken zu können. Mit der Einreichung für die „NAG“ wolle er nun bis 2014 zuwarten und dann noch einmal beim Bundesasylamt vorsprechen.

7. Mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom XXXX , rechtskräftig am XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des Betruges (§ 146 StGB) zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu je € 4,00 verurteilt.

8. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom XXXX , rechtskräftig am selben Tag, wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des gewerbsmäßigen Betruges (§§ 146, 148 1.Fall StGB), des Vergehens der beharrlichen Verfolgung (§ 107a Abs. 1, Abs. 2 Z 1, 2 und 4 StGB), des Vergehens der fortgesetzten Belästigung im Wege einer Telekommunikation oder eines Computersystems (§ 107c Abs. 1 Z 1 und 2 StGB), des Vergehens der versuchten Nötigung (§§ 15, 105 Abs. 1 StGB) und des Vergehens des Diebstahls (§ 127 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt. Die Freiheitsstrafe wurde unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen.

9. Das Schreiben vom 26.11.2018, mit welchem das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) dem Beschwerdeführer mitgeteilt hat, dass ein Aberkennungsverfahren gemäß § 9 Abs. 2 AsylG 2005 eingeleitet worden sei, wurde mit dem Vermerk „nicht behoben“ an die belangte Behörde retourniert.

10. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom XXXX , rechtskräftig am selben Tag, wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der Entfremdung unbarer Zahlungsmittel (§ 241e Abs. 1 StGB), des Vergehens des schweren und gewerbsmäßigen Betruges (§§ 146, 147 Abs. 1 Z 1, 148 1.Fall StGB) und des Verbrechens des versuchten gewerbsmäßigen und räuberischen Diebstahls (§§ 15, 127, 130 Abs. 1, 131 1.Fall StGB) zu einer Zusatzfreiheitsstrafe, unter Bedachtnahme auf das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom XXXX , von sechs Monaten verurteilt. Die Zusatzfreiheitsstrafe wurde unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen.

11. Mit Schreiben vom 20.12.2018 teilte das BFA dem Beschwerdeführer mit, dass ein Aberkennungsverfahren gemäß § 9 Abs. 2 AsylG 2005 eingeleitet worden sei. Begründend führte die belangte Behörde dabei an, der Beschwerdeführer sei mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX verurteilt worden und die Staatsanwaltschaft XXXX habe erneut gegen ihn Anklage erhoben.

12. Am 07.01.2019 erging seitens des – nunmehr rechtsfreundlich vertretenen - Beschwerdeführer eine Stellungnahme, der zusammengefasst zu entnehmen ist, dass der gegenständlichen Mitteilung nicht zu entnehmen sei, auf welche der drei Ziffern des § 9 Abs. 2 AsylG 2005 sich das BFA beziehe. Der Beschwerdeführer sei nur zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden, welche bedingt nachgesehen worden sei. Daraus ergebe sich klar, dass er keinesfalls eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich darstelle. Seit 16.05.2014 leite der Beschwerdeführer sein Aufenthaltsrecht aus dem Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt-EU“ ab. Dieser sei nach wie vor gültig, weshalb eine Änderung der Rechtstellung durch das gegenständliche Aberkennungsverfahren nicht ersichtlich sei.

13. Mit Schreiben vom 06.03.2019 teilte das BFA dem Beschwerdeführer mit, dass ein Aberkennungsverfahren gemäß § 9 Abs. 1 AsylG 2005 eingeleitet worden sei. Dazu führte das BFA an, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht mehr vorliegen würden.

14. Mit Schreiben vom 15.03.2019 teilte der Beschwerdeführer mit, dass er bezüglich der Mitteilung über die Einleitung eines Aberkennungsverfahrens vom 06.03.2019 auf eine Stellungnahme verzichtet.

15. Am 15.04.2019 ersuchte die XXXX per Schreiben gemäß § 28 Abs. 1 NAG iVm § 52 Abs. 5 FPG (Rückstufung eines unbefristeten Niederlassungsrechts) das BFA um Mitteilung, ob aufgrund der vorliegenden strafrechtlichen Verurteilung die objektiven Voraussetzungen für die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den Beschwerdeführer vorliegen, diese Maßnahme aber im Hinblick auf § 9 BFA-VG nicht verhängt werden könnte. Außerdem wurde im Falle einer aufenthaltsbeendenden Entscheidung um Mitteilung gebeten.

16. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid erkannte das BFA den mit Bescheid vom XXXX , Zl.: XXXX , zuerkannten Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 AsylG 2005 von Amts wegen ab (Spruchpunkt I.). Die dem Beschwerdeführer erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter wurde ihm gemäß § 9 Abs. 4 AsylG 2005 entzogen (Spruchpunkt II.). Dem Beschwerdeführer wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Weiters wurde ausgesprochen, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei und die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt V. und VI.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG wurde gegen den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von sieben Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

Dabei führte die belangte Behörde begründend aus, die Voraussetzungen für die Aberkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 9 Abs. 1 AsylG 2005 würden – unter Bedachtnahme auf die den Beschwerdeführer individuell betreffenden Faktoren im Zusammenhang mit der aktuellen Situation in seinem Herkunftsstaat – vorliegen. Die seinerzeitigen Gründe für die Erteilung des subsidiären Schutzes seien insofern nicht mehr gegeben. Die Lage in Afghanistan habe sich hinsichtlich der innerstaatlichen Fluchtalternative deutlich gebessert. Auch angesichts der psychotherapeutischen und medikamentösen Maßnahmen die seinerzeit ergriffen worden wären, sei nun davon auszugehen, dass der Zustand des Beschwerdeführers stabil sei bzw. sich gebessert habe und eben einer Rückführung nach Afghanistan nicht entgegenstehe. Der Beschwerdeführer sei ein junger, selbstständiger, arbeitsfähiger Mann, als solcher sei er in der Lage in den Städten Kabul, Mazar-e-Sharif und Herat sich ein ausreichendes Auskommen und seine Existenzgrundlage zu sichern. Zur Erlassung des Einreiseverbots führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass angesichts des Gesamtverhalten des Beschwerdeführers, eine schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit von ihm ausgehe. Bei jeder seiner drei Verurteilungen habe er die gleiche schädliche Neigung seiner strafbaren Handlungen verstärkt, zudem sei er auch wegen einem Verbrechen verurteilt worden. Eine positive Zukunftsprognose könne betreffend seine Person nicht abgeleitet werden. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem Einreiseverbot sei daher dringend geboten.

17. Der Beschwerdeführer erhob fristgerecht Beschwerde gegen den gegenständlichen Bescheid. Dabei machte er die inhaltliche Rechtswidrigkeit sowie die Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend und führte auf das Wesentliche zusammengefasst Folgendes aus: Die belangte Behörde habe sich bei ihren Feststellungen, bei der sich daraus abzuleitenden Beweiswürdigung und schließlich bei der rechtlichen Beurteilung auf die Länderinformationen bezogen. Dem Gutachter, der bei der Zusammenstellung der Länderinformationen federführen gewesen sei, sei der Sachverständigenstatus mangels entsprechender Kompetenz entzogen worden. Die Länderinformationsblätter hätten nichts mit den tatsächlichen Gegebenheiten in Afghanistan zu tun, bereits dies stelle einen groben Verfahrensmangel dar. Letztlich sei eine Überprüfung des von der Behörde festgestellten Sachverhalts gar nicht möglich. Dem Genfer Abkommen zufolge könne ein Ausländer oder ein Staatenloser aus- oder zurückgewiesen werden, ein Verlust der Flüchtlingseigenschaft sei jedoch nicht vorgesehen, in diesem Lichte müsse auch die Rechtsprechung des EuGHs zu den darauf aufbauenden Richtlinien berücksichtigt werden. Für den Status als subsidiär Schutzberechtigter müsse im Größenschluss, dasselbe wie für die Flüchtlingseigenschaft gelten. Es erscheine absurd, die Sicherheitslage in Afghanistan als „unbedenklich“ zu beschreiben, da vor Ort bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen würden. Die belangte Behörde habe außerdem die gesteigerte Gefährdung durch die Volksgruppenzugehörigkeit des Beschwerdeführers bei einer Rückkehr in ihrer Beweiswürdigung „großflächig“ ignoriert. Internationale Experten seien sich einig, dass Angehörige der Volksgruppe der Hazara bei einer Rückkehr nach Afghanistan einem nicht nur realen, sondern extrem hohen Risiko einer Verletzung der Art. 2, 3 EMRK, ausgesetzt seien. Weiters sei das Aberkennungsverfahren für den Beschwerdeführer größtenteils bedeutungslos gewesen, da er über einen „Daueraufenthalt-EU“ verfüge, jedoch habe die belangte Behörde es verabsäumt ihn zu informieren, dass diese beabsichtige eine Rückkehrentscheidung und ein Einreiseverbot zu erlassen. Mangels Information habe er dazu auch keine Stellungnahme abgeben können. Abschließend wurde festgehalten, dass der Beschwerdeführer seit über zehn Jahren durchgehend im österreichischen Bundesgebiet lebe. Er spreche Deutsch auf dem Niveau B2-C1, gehe einer erlaubten Erwerbstätigkeit nach, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze erreicht werde, sei bestens integriert und führe ein schützenswertes Privatleben im Sinne des Art. 8 EMRK.

18. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 17.06.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

19. Mit Schreiben vom 09.07.2020 stellte der Beschwerdeführer einen Fristsetzungsantrag an den Verwaltungsgerichtshof. Dazu brachte er im Wesentlichen vor, dass das BFA ihm mit dem gegenständlichen Bescheid den zuerkannten Staus des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt, die befristete Aufenthaltsberechtigung entzogen, keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, die Rückkehrentscheidung erlassen und die Abschiebung nach Afghanistan für zulässig erklärt habe. Das BFA habe rechtlich nicht anerkannt, dass der Aufenthalt des Beschwerdeführers seit 2014 nicht mehr auf der Bestimmung des Asylrechtes beruhe, sondern er das Aufenthaltsrecht „Daueraufenthalt –EU“ erhalten habe. Die erstausgestellte Karte sei bis zum XXXX befristet gewesen, dazu habe er auch fristgerecht die Neuausstellung beantragt, worüber die Behörde ebenfalls nicht entschieden habe. Mit Hinblick auf die gegenständliche Beschwerde, habe das Bundesverwaltungsgericht seine Entscheidungspflicht in schuldhafterweise verletzt, da entscheidungshemmende Tatsachen und Umstände nicht bekannt seien.

20. Am 21.07.2020 erging seitens des Verwaltungsgerichtshofes eine verfahrensleitende Anordnung, welche am 29.07.2020 beim Bundesverwaltungsgericht einlangte. Damit trug der Verwaltungsgerichtshof dem Bundesverwaltungsgericht auf, binnen drei Monaten die Entscheidung zu erlassen und eine Ausfertigung, Abschrift oder Kopie derselben sowie eine Kopie des Nachweises über die Zustellung der Entscheidung an die antragstellende Partei dem Verwaltungsgerichtshof vorzulegen oder anzugeben warum eine Verletzung der Entscheidungspflicht nicht vorliegt.

21. Am 07.08.2020 übermittelte der Beschwerdeführer per E-Mail einen Dienstvertrag, einen Mietvertrag, eine Meldebestätigung und eine Gehaltsabrechnung vom XXXX . Ergänzend führte der Beschwerdeführer aus, dass alle Strafsachen durch Probleme mit seiner damaligen Ehegattin verursacht worden seien. Er habe sämtliche daraus resultierenden Schäden seiner Opfer mittlerweile ersetzt. Der Beschwerdeführer habe ständig gearbeitet und nur wegen COVID-19 seinen Arbeitsplatz verloren, nunmehr sei er bei der Firma „ XXXX “ als Chefkoch beschäftigt. Er verfüge über ein monatliches Nettoeinkommen von XXXX , habe eine Wohnung und sei aufgrund seiner Arbeit krankenversichert, wodurch alle Bedingungen für den Erhalt einer Niederlassungsbewilligung erfüllt seien. Seit bereits zwei Jahren sei er nicht mehr strafrechtlich in Erscheinung getreten, dies solle auch nie wieder in seinem Leben vorkommen, sodass sein Aufenthalt in Österreich für die Ordnung und Sicherheit keinen Schaden darstelle.

22. Am 01.09.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seines Vertreters und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari statt, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu den Gründen der Aberkennung des subsidiären Schutzes befragt wurde und die Beschwerde betreffend die Spruchpunkte I. bis III. zurückzog. Zudem wurde ein B1-Zeugnis, ein Lohnzettel vom XXXX , ein Mietvertrag, ein Arbeiterdienstvertrag und ein Schreiben an das Magistrat betreffend Probleme in der Ehe und Vorhaben einer Scheidung vorgelegt.

23. Zu XXXX erhob die Staatsanwaltschaft XXXX gegen den Beschwerdeführer im XXXX beim Landesgericht für Strafsachen XXXX Anklage wegen vorsätzlich begangener Straftaten nach §§ 127, 130 erster Fall und 146, 148 erster Fall StGB.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zum Verfahrensgang

Der Beschwerdeführer stellte am 21.12.2007 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Das Bundesasylamt wies mit Bescheid vom XXXX den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 bis zum 20.04.2010 (Spruchpunkt III.). Die gegen den Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofs vom 17.06.2010, GZ C18 406.463-1/2009/18E, als unbegründet abgewiesen.

Mit Bescheid vom XXXX , XXXX bzw. XXXX wurde die befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 bis zum 20.04.2011, 20.04.2012 bzw. 20.04.2015 verlängert.

Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid erkannte das BFA den mit Bescheid vom XXXX , Zl.: XXXX , zuerkannten Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 AsylG 2005 von Amts wegen ab (Spruchpunkt I.) und entzog dem Beschwerdeführer die ihm erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 9 Abs. 4 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.). Dem Beschwerdeführer wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Weiters wurde ausgesprochen, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei und die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt V. und VI.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG wurde gegen den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von sieben Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.). Gegen den im Spruch bezeichneten Bescheid erhob der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 24.05.2019, eingelangt am selben Tag, fristgerecht Beschwerde.

Am 09.07.2020 stellte der Beschwerdeführer einen Fristsetzungsantrag an den Verwaltungsgerichtshof. Per verfahrensleitender Anordnung vom 21.07.2020, eingelangt am 29.07.2020, trug der Verwaltungsgerichtshof dem Bundesverwaltungsgericht auf, binnen drei Monaten die Entscheidung zu erlassen und eine Ausfertigung, Abschrift oder Kopie derselben sowie eine Kopie des Nachweises über die Zustellung der Entscheidung an die antragstellende Partei dem Verwaltungsgerichtshof vorzulegen oder anzugeben warum eine Verletzung der Entscheidungspflicht nicht vorliegt.

Am 01.09.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seines Vertreters und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari statt, in welcher der Rechtsvertreter bekannt gab, dass die Beschwerde hinsichtlich der Spruchpunkte I. bis III. zurückgezogen wird.

1.2. Zum Beschwerdeführer

Der volljährige Beschwerdeführer führt den im Spruch angeführten Namen und ist zum dort angegebenen Datum geboren. Er ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Er ist schiitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari, außerdem spricht er Englisch. Der Beschwerdeführer ist geschieden und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer stammt aus dem Dorf XXXX , Bezirk XXXX , Provinz Ghazni und ist dort aufgewachsen. Er besuchte vier Jahre lang die Koranschule und half gelegentlich bei der hauseigenen Landwirtschaft mit, welche hauptsächlich von seinem schon verstorbenen Onkel bewirtschaftet wurde.

Die Kernfamilie des Beschwerdeführers besteht aus seiner Schwester, seine Eltern sind bereits verstorben. Die Schwester des Beschwerdeführers lebt in den Niederlanden, seit vier Jahren spricht diese nicht mehr mit ihm. Er verfügt in Afghanistan über keine familiären Angehörigen.

Der Beschwerdeführer ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert.

Der Beschwerdeführer ist – abgesehen von Asthma und Beinbeschwerden - gesund. Dass der Beschwerdeführer eine Beinoperation benötigt, kann nicht festgestellt werden.

Der Beschwerdeführer litt an einer schweren posttraumatischen Stresserkrankung mit Selbstschädigungstendenzen, Somatisierungsneigung und ausgeprägten dissoziativen Zuständen. Er wurde dazu medikamentös behandelt und befand sich mehrfach in ambulanter Therapie sowie von September 2008 bis Oktober 2008 in stationärer Behandlung im XXXX . Eine psychische Erkrankung liegt derzeit nicht vor.

Seit dem 16.05.2014 verfügt der Beschwerdeführer über den Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“.

Der Beschwerdeführer beherrscht die deutsche Sprache zumindest auf B1 Niveau und hat die Prüfung des XXXX auf dem Sprachniveau B1 ausreichend bestanden. Ab September 2009 war der Beschwerdeführer bei verschiedenen Arbeitgebern – immer wieder unterbrochen durch den Bezug von Leistungen der Arbeitslosenversicherung – als Arbeiter beschäftigt; seit Juli 2020 ist er als Koch bei der Firma „ XXXX “ beschäftigt.

Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich über keine familiären Anknüpfungspunkte. In seiner Freizeit geht der Beschwerdeführer regelmäßig ins Fitnesscenter, früher hat er auch Fußball gespielt. Substanzielle Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens (wie z.B. intensive Freundschaften oder Beziehungen) können nicht festgestellt werden.

Der Beschwerdeführer wurde in Österreich mehrfach straffällig und ist wie folgt gerichtlich (rechtskräftig) verurteilt worden:

Mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom XXXX , rechtskräftig am XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des Betruges (§ 146 StGB) zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu je € 4,00 verurteilt. Die Geldstrafe hat der Beschwerdeführer am 09.11.2017 vollzogen.

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom XXXX , rechtskräftig am selben Tag, wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des gewerbsmäßigen Betruges (§§ 146, 148 1.Fall StGB), des Vergehens der beharrlichen Verfolgung (§ 107a Abs. 1, Abs. 2 Z 1, 2 und 4 StGB), des Vergehens der fortgesetzten Belästigung im Wege einer Telekommunikation oder eines Computersystems (§ 107c Abs. 1 Z 1 und 2 StGB), des Vergehens der versuchten Nötigung (§§ 15, 105 Abs. 1 StGB) und des Vergehens des Diebstahls (§ 127 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt. Die Freiheitsstrafe wurde unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen. Als mildernd wertete das Gericht, dass es beim Versuch geblieben ist und das Geständnis, als erschwerend hingegen den raschen Rückfall, das Zusammentreffen zahlreicher Vergehen, eine einschlägige Vorstrafe und die Fortsetzung des strafbaren Verhaltens trotz Kenntnis über das Ermittlungsverfahren.

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom XXXX , rechtskräftig am selben Tag, wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der Entfremdung unbarer Zahlungsmittel (§ 241e Abs. 1 StGB), des Vergehens des schweren und gewerbsmäßigen Betruges (§§ 146, 147 Abs. 1 Z 1, 148 1.Fall StGB) und des Verbrechens des versuchten gewerbsmäßigen und räuberischen Diebstahls (§§ 15, 127, 130 Abs. 1, 131 1.Fall StGB) zu einer Zusatzfreiheitsstrafe, unter Bedachtnahme auf das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom XXXX , von sechs Monaten verurteilt. Die Zusatzfreiheitsstrafe wurde unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen. Als mildernd wertete das Gericht, dass es teilweise beim Versuch geblieben ist und die Schadensgutmachung, als erschwerend das Zusammentreffen zweier Vergehen mit einem Verbrechen.

Zu XXXX wurde gegen den Beschwerdeführer im XXXX beim Landesgericht für Strafsachen XXXX Anklage wegen vorsätzlich begangener Straftaten nach §§ 127, 130 erster Fall und 146, 148 erster Fall StGB erhoben.

1.3. Zur Situation im Herkunftsstaat

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 (LIB),

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR)

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO)

1.3.1   Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 4).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 2).

1.3.1.1.  Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 1).

Dieser Konflikt in Afghanistan kann nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Kapitel 2).

Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 1).

Die Verhandlungen mit den Taliban stocken auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).

1.3.2. Zur Heimatprovinz des Beschwerdeführers, Ghazni

Die Provinz Ghazni liegt im Südosten Afghanistans. Fast die Hälfte der Bevölkerung von Ghazni sind Paschtunen, etwas weniger als die Hälfte sind Hazara und rund 5% sind Tadschiken. Ghazni hat 1.338.597 Einwohner (LIB, Kapitel 2.10).

Ghazni gehört zu den relativ volatilen Provinzen im Südosten Afghanistans. Taliban-Kämpfer sind in einigen der unruhigen Distrikte der Provinz aktiv, wo sie oft versuchen, terroristische Aktivitäten gegen die Regierung und Sicherheitseinrichtungen durchzuführen. Gleichzeitig führen die Regierungskräfte regelmäßig Operationen in Ghazni durch, um die Aufständischen aus der Provinz zu vertreiben. In der Provinz kommt es regelmäßig zu militärischen Operationen, Luftangriffen und Zusammenstößen zwischen Taliban und Sicherheitskräften. Im Jahr 2019 gab es 673 zivile Opfer (213 Tote und 460 Verletzte) in der Provinz Ghazni. Dies entspricht einer Steigerung von 3% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordattentate, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und Kämpfen am Boden (LIB, Kapitel 2.10).

In der Provinz Ghazni reicht eine „bloße Präsenz“ in dem Gebiet nicht aus, um ein reales Risiko für ernsthafte Schäden gemäß Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie festzustellen. Es wird dort jedoch ein hohes Maß an willkürlicher Gewalt erreicht, und dementsprechend ist ein geringeres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um die Annahme zu begründen, dass ein Zivilist, der dieses Gebiet zurückgekehrt ist, einem realen Risiko eines ernsthaften Schadens im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie ausgesetzt ist (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

1.3.3. Provinz Kabul

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans. Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Die Stadt Kabul ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, sie hat 5.029.850 Einwohner. Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt (LIB, Kapitel 3.1). Die Stadt Kabul ist über Hauptstraßen mit den anderen Provinzen des Landes verbunden und verfügt über einen internationalen Flughafen (LIB Kapitel 2.1 und Kapitel 2.35).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele durch, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Im Jahr 2019 gab es 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 16% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordangriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 2.1).

Kabul zählt zu jenen Provinzen, in denen es zu willkürlicher Gewalt kommt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

In Kabul leben 70.000 bis 80.000 Binnenvertriebene (LIB, Kapitel 2.1).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war in den letzten Jahren das Zentrum dieses Wachstums. Schätzungsweise 70% der Bevölkerung Kabuls lebt in informellen Siedlungen (Slums), welche den meisten Einwohnern der Stadt preiswerte Wohnmöglichkeiten bieten. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Kabul ist das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans und hat ein größeres Einzugsgebiet in den Provinzen Parwan, Logar und Wardak. Es gibt eine dynamischere Wirtschaft mit einem geringeren Anteil an Arbeitssuchenden, Selbständigen und Familienarbeitern. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um landwirtschaftliche Produkte zu handeln oder als Wachen, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten. Die besten (Arbeits-)Möglichkeiten für Junge existieren in Kabul. Trotz der niedrigeren Erwerbsquoten ist der Frauenanteil in hoch qualifizierten Berufen in Kabul (49,6 %) am größten (LIB, Kapitel 20).

Die Gehälter in Kabul sind in der Regel höher als in anderen Provinzen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Das Hunger-Frühwarnsystem (FEWS) stufte Kabul im Dezember 2018 als „gestresst“ ein, was bedeutet, dass Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch aufweisen und nicht in der Lage seien sich wesentliche, nicht nahrungsbezogenen Güter zu leisten, ohne irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Schätzungen zufolge haben 32% der Bevölkerung Kabuls Zugang zu fließendem Wasser, und nur 10% der Einwohner erhalten Trinkwasser. Diejenigen, die es sich leisten können, bohren ihre eigenen Brunnen. Viele arme Einwohner von Kabul sind auf öffentliche Zapfstellen angewiesen, die oft weit von ihren Häusern entfernt sind. Der Großteil der gemeinsamen Wasserstellen und Brunnen in der Hauptstadt ist durch häusliches und industrielles Abwasser verseucht, das in den Kabul-Fluss eingeleitet wird, was ernste gesundheitliche Bedenken aufwirft. Fast die Hälfte der Bevölkerung in Kabul verfügt über sanitäre Grundversorgung (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In der Stadt Kabul besteht Zugang zu öffentlichen und privaten Gesundheitsdiensten. Nach verschiedenen Quellen gibt es in Kabul ein oder zwei öffentliche psychiatrische Kliniken (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

1.3.4. Mazar-e Sharif/ Herat Stadt

Mazar-e Sharif ist die Provinzhauptstadt von Balkh, einer ethnisch vielfältigen Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Sie hat 469.247 Einwohner und steht unter Kontrolle der afghanischen Regierung (LIB, Kapitel 2.5).

Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).

Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) legal zu erreichen (LIB, Kapitel 21). Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz, ein regionales Handelszentrum sowie ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen (LIB, Kapitel 21). Mazar-e Sharif gilt im Vergleich zu Herat oder Kabul als wirtschaftlich relativ stabiler. Die größte Gruppe von Arbeitern in der Stadt Mazar-e Sharif sind im Dienstleistungsbereich und als Verkäufer tätig (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In der Stadt Mazar-e Sharif gab bzw. gibt es aufgrund der Corona Pandemie Ausgangssperren. Durch diese Ausgangssperren sind insbesondere Taglöhner, welche auf ihre tägliche Arbeit und ihren täglichen Lohn angewiesen sind, und Familien, welche nicht auf landwirtschaftliche Einkünfte zugreifen können, besonders betroffen (ACCORD Masar-e Sharif).

Die Unterkunftssituation stellt sich in Mazar-e Sharif, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Mazar-e Sharif besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Die in der Stadt Mazar-e Scharif und Umgebung befindlichen Orte, an denen die Mehrheit der IDPs und RückkehrerInnen letztlich unterkommen, teilt UNHCR in drei Kategorien ein: Die erste Kategorie ist das Stadtzentrum, wo die Lebenshaltungskosten vergleichsweise hoch sind. In der zweiten Kategorie befinden sich längerfristige und dauerhafte Siedlungen bzw. Stätten („sites“), welche sich in den Vororten oder am Stadtrand befinden. Dort gibt es ein gewisses Maß an Infrastruktur, und humanitäre Organisationen bieten dort ein gewisses Ausmaß an Unterstützung an. Es gibt dort einen gewissen Zugang zu soliden Unterkünften, Bildung und medizinischer Versorgung. Die beiden größten längerfristigen Siedlungen bzw. Stätten sind das Sakhi-Camp (20 km nordöstlich der Stadt), Qalen Bafan (im westlichen Teil von Mazar-e Scharif), sowie Zabihullah (etwa 20 km südöstlich der Stadt). Die dritte Kategorie von Gebieten sind jene Siedlungen oder Stätten, die erst vor kürzerer Zeit und aufgrund der anhaltenden und zunehmenden Vertreibung entstanden sind. Diese Siedlungen, die in der Regel von der Regierung nicht anerkannt werden, befinden sich häufig auf Landstrichen mit unklaren Eigentumsverhältnissen. In diesen neueren Siedlungen leben viele Menschen in Zelten, oft unter prekären Bedingungen und mit stark eingeschränktem Zugang zu humanitärer Hilfe. Es mangelt dort an Wasser, Strom und sozialen Einrichtungen. Im Prinzip ist die Situation hinsichtlich des Zugangs zu Bildung, Gesundheitsversorgung, Wasser und anderen Dienstleistungen umso schlimmer, je weiter außerhalb der Stadt jemand lebt, wobei die Situation in den informellen Siedlungen bzw. Stätten am schlimmsten ist. Ob allerdings die Situation in der Innenstadt besser ist, hängt von den individuellen - insbesondere finanziellen - Umständen eines Binnenvertriebenen oder Rückkehrers ab (ACCORD Masar-e Sharif).

Die meisten Menschen in Mazar-e Sharif haben Zugang zu erschlossener Wasserversorgung (76%), welche in der Regel in Rohrleitungen oder aus Brunnen erfolgt. 92% der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Während Mazar-e Sharif im Zeitraum Juni 2019 bis September 2019 noch als IPC Stufe 1 „minimal“ (IPC - Integrated Phase Classification) klassifiziert wurde, wird Mazar-e Sharif im Zeitraum April bis Mai 2020 in Stufe 3 „crisis“ eingestuft. In Stufe 1 sind die Haushalte in der Lage, den Bedarf an lebensnotwenigen Nahrungsmitteln und Nicht-Nahrungsmitteln zu decken, ohne atypische und unhaltbare Strategien für den Zugang zu Nahrung und Einkommen zu verfolgen. In Stufe 3 weisen Haushalte Lücken im Nahrungsmittelkonsum mit hoher oder überdurchschnittlicher akuter Unterernährung auf oder sind nur geringfügig in der Lage, ihren Mindestnahrungsmittelbedarf zu decken, und dies nur indem Güter, die als Lebensgrundlage dienen, vorzeitig aufgebraucht werden bzw. durch Krisenbewältigungsstrategien (ECOI, Kapitel 3.1).

In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es 10 - 15 – teils öffentliche, teils private – Krankenhäuser. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Private Krankenhäuser sind sehr teuer, jede Nacht ist kostenpflichtig. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken die zu 80% öffentlich finanziert sind (LIB, Kapitel 21).

Herat-Stadt ist die Provinzhauptstadt der Provinz Herat. Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert, der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 durch Iran-Rückkehrer und Binnenvertriebene besonders gestiegen. Sie hat 556.205 Einwohner (LIB, Kapitel 2.13).

Herat ist durch die Ring-Road sowie durch einen Flughafen mit nationalen und internationalen Anbindungen sicher und legal erreichbar (LIB, Kapitel 3.13). Der Flughafen Herat (HEA) liegt 13 km südlich der Stadt im Distrikt Gozara. Die Straße, welche die Stadt mit dem Flughafen verbindet wird laufend von Sicherheitskräften kontrolliert. Unabhängig davon gab es in den letzten Jahren Berichte von Aktivitäten von kriminellen Netzwerken, welche oft auch mit Aufständischen in Verbindung stehen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten auszuüben. Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als „sehr sicher“ gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban. Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Herat so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).

Im Vergleich mit anderen Teilen des Landes weist Herat wirtschaftlich und sicherheitstechnisch relativ gute Bedingungen auf. Es gibt Arbeitsmöglichkeiten im Handel, darunter den Import und Export von Waren mit dem benachbarten Iran, wie auch im Bergbau und Produktion. Die Industrie der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMUs) ist insbesondere im Handwerksbereich und in der Seiden- und Teppichproduktion gut entwickelt und beschäftigt Tagelöhner sowie kleine Unternehmer (LIB, Kapitel 20).

In der Stadt Herat gab bzw. gibt es aufgrund der Corona Pandemie Ausgangssperren. Durch diese Ausgangssperren sind insbesondere Taglöhner, welche auf ihre tägliche Arbeit und ihren täglichen Lohn angewiesen sind, und Familien, welche nicht auf landwirtschaftliche Einkünfte zugreifen können, besonders betroffen (ACCORD Herat).

Die Unterkunftssituation stellt sich in Herat, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Herat besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Die größten und bedeutendsten IDP- und RückkehrerInnen-Siedlungen in Herat- Stadt und Umgebung sind: Shahrak-e-Sabz (im Distrikt Gusara), Kahddestan (im Distrikt Indschil), Shaidayee (5km östlich der Stadt Herat) und Urdo Bagh. Die Versorgung der dort lebenden Menschen ist schlecht, der Zugang zur Grundversorgung ist eingeschränkt (ACCORD Herat).

Die meisten Menschen in Herat haben Zugang zu Elektrizität (80 %), zu erschlossener Wasserversorgung (70%) und zu Abwasseranlagen (30%). 92,1 % der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen und 81,22 % zu besseren Wasserversorgungsanlagen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Herat ist Zeitraum April 2020 bis Mai 2020 als IPC Stufe 3 „crisis“ (IPC - Integrated Phase Classification) eingestuft. In Stufe 3 weisen Haushalte Lücken im Nahrungsmittelkonsum mit hoher oder überdurchschnittlicher akuter Unterernährung auf oder sind nur geringfügig in der Lage, ihren Mindestnahrungsmittelbedarf zu decken, und dies nur indem Güter, die als Lebensgrundlage dienen, vorzeitig aufgebraucht werden bzw. durch Krisenbewältigungsstrategien (ECOI, Kapitel 3.1).

1.3.4. Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 15).

Schiiten

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 - 19% geschätzt. Zu der schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und die Jafari-Schiiiten (Zwölfer-Schiiten). 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten, die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen (LIB, Kapitel 15.1).

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Einige schiitische Muslime bekleiden höhere Regierungsposten. Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25-30%. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB, Kapitel 15.1).

1.3.5. Hazara

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9-10% der Bevölkerung aus. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind die schiitische Konfession (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) und ihre ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ihre Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Es bestehen keine sozialen oder politischen Stammesstrukturen (LIB, Kapitel 16.3).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (LIB Kapitel 16.3).

1.3.6. Situation für Rückkehrer

Im Zeitraum vom 01.01.2019 bis 04.01.2020 kehrten insgesamt 504.977 Personen aus dem Iran und Pakistan nach Afghanistan zurück: 485.096 aus dem Iran und 19.881 aus Pakistan. Seit 01.01.2020 sind 279.738 undokumentierter Afghan/innen aus dem Iran nach Afghanistan zurückgekehrt. Im Jahr 2018 kamen 775.000 aus dem Iran und 46.000 aus Pakistan zurück (LIB, Kapitel 22).

Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken sowie politische Netzwerke usw. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar. Die Rolle sozialer Netzwerke – der Familie, der Freunde und der Bekannten – ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (LIB, Kapitel 22).

Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Es gibt jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt (LIB, Kapitel 22).

Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Es sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (LIB, Kapitel 22).

Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab. Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch (LIB, Kapitel 22).

Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbstgebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen (LIB, Kapitel 22).

Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, können verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Rückkehrer erhalten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) (LIB, Kapitel 22).

Unter Rückkehrhilfe wird in Österreich Beratung und – bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen auf Antrag - Unterstützung in Form von Organisation und Übernahme der Reise- und Dokumentenkosten sowie ein finanzieller Beitrag verstanden.

Die Höhe der finanziellen Starthilfe bemisst sich grundsätzlich nach einem „2-Phasen Modell“:

-        500 EUR für Asylwerber im laufenden Verfahren I. Instanz,

-        250 EUR nach abgeschlossenem negativen Asylverfahren I. Instanz bzw. Fremde (BMI Rückkehrhilfe).

Zudem kann bei Erfüllung der Kriterien eine zusätzliche Reintegrationsunterstützung (Geld- und Sachleistung) vor Ort erfolgen. Das Projektziel dieses Reintegrationsprojektes mit dem Namen RESTART II mit IOM Österreich ist es, die freiwillige Rückkehr und Reintegration der Projektteilnehmer sowie der mit ihnen gemeinsam zurückgekehrten Familienmitglieder zu erleichtern. Rückkehrer sollen mithilfe der gewährten individuellen Unterstützung befähigt werden, sich erfolgreich in ihrem Herkunftsland einzugliedern. Die Reintegrationsleistung betragen 500 EUR Bargeldleistung und 2.800 EUR Sachleistung (BMI Rückkehrhilfe).

Erfolgt keine freiwillige Rückkehr, wird bei Zwangsrückführungen, sofern keine eigenen Mittel vorhanden sind, ein Zehrgeld in der Höhe von 50 EUR gewährt. Dieser Betrag kann im Fall von besonderen Bedürfnissen erhöht werden (BMI Rückkehrhilfe).

Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit in Afghanistan Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Es gibt keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer. Der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer aus Europa kehrt direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Es befinden sich viele Rückkehrer in Gebieten, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind (LIB, Kapitel 22).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:

-        Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)

-        Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Die „Reception Assistance“ umfasst sofortige Unterstützung oder Hilfe bei der Ankunft am Flughafen: IOM trifft die freiwilligen Rückkehrer vor der Einwanderungslinie bzw. im internationalen Bereich des Flughafens, begleitet sie zum Einwanderungsschalter und unterstützt bei den Formalitäten, der Gepäckabholung, der Zollabfertigung, usw. Darüber hinaus arrangiert IOM den Weitertransport zum Endziel der Rückkehrer innerhalb des Herkunftslandes und bietet auch grundlegende medizinische Unterstützung am Flughafen an. 1.279 Rückkehrer erhielten Unterstützung bei der Weiterreise in ihre Heimatprovinz. Für die Provinzen, die über einen Flughafen und Flugverbindungen verfügen, werden Flüge zur Verfügung gestellt. Der Rückkehrer erhält ein Flugticket und Unterstützung bezüglich des Flughafen-Transfers. Der Transport nach Herat findet in der Regel auf dem Luftweg statt (LIB, Kapitel 22).

Familien in Afghanistan halten in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren (LIB, Kapitel 22).

1.3.7. Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).

Der durchschnittliche Lohn beträgt in etwa 300 Afghani (ca. USD 4,3) für Hilfsarbeiter, während gelernte Kräfte bis zu 1.000 Afghani (ca. USD 14,5) pro Tag verdienen können (EASO Netzwerke, Kapitel 4.1).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Aufgrund der COVID-19 Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu v

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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