TE OGH 2020/9/1 10Ob11/20w

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Veröffentlicht am 01.09.2020
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Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann, den Hofrat Mag. Ziegelbauer, sowie die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Pflegschaftssache der ***** 2012 geborenen A*****, vertreten durch das Land Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger (Magistrat der Stadt Wien, Kinder- und Jugendhilfe, Rechtsvertretung Bezirk *****), wegen Unterhaltsvorschuss, über den Revisionsrekurs des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 2. Oktober 2019, GZ 43 R 478/19s-71, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Favoriten vom 8. Juli 2019, GZ 34 Pu 44/14f-60, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Pflegschaftssache wird zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Text

Begründung:

Nach dem Akteninhalt verfügt die ***** 2012 in Wien geborene minderjährige A***** über einen vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ausgestellten Konventionspass mit einer Gültigkeitsdauer von 22. 7. 2014 bis 21. 7. 2019, ihre Mutter über einen Konventionspass mit einer Gültigkeitsdauer von 27. 5. 2014 bis 26. 5. 2019. Die Mutter hat in einer Niederschrift vor dem Kinder- und Jugendhilfeträger am 24. 6. 2014 erkennbar auf sich selbst, den Vater und ihre beiden Kinder bezogen vorgebracht, sie seien alle Konventionsflüchtlinge. Die Eltern der minderjährigen A***** sind beide in der Russischen Föderation geboren. Feststellungen zur Asylberechtigung des Kindes wurden nicht getroffen; ein Asylbescheid wurde im Verfahren nicht vorgelegt.

Mit Beschluss des Erstgerichts vom 30. 4. 2019 wurde der Vater des Kindes, M*****, zu einer monatlichen Unterhaltsleistung von 235 EUR verpflichtet.

Mit Beschluss vom 8. 7. 2019 (ON 60) gewährte das Erstgericht dem Kind für die Zeit von 1. 7. 2019 bis 30. 6. 2024 Unterhaltsvorschüsse gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG in Titelhöhe.

Das Rekursgericht gab dem dagegen erhobenen Rekurs des Bundes nicht Folge. Es ließ den ordentlichen Revisionsrekurs nachträglich zu, um die Rechtssicherheit im Zusammenhang mit dem Prüfungsumfang des Gerichts hinsichtlich der Flüchtlingseigenschaft des Kindes zu wahren.

Rechtlich folgerte es aus der Entscheidung 10 Ob 19/17t des Obersten Gerichtshofs, der Umstand, dass das Kind über einen gültigen Konventionspass verfüge, reiche für die Vorschussgewährung aus, da eine Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft des Kindes im Rekurs nicht behauptet werde.

Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs des Bundes mit dem erkennbaren Antrag, den angefochtenen Beschluss im antragsabweisenden Sinn abzuändern, hilfsweise, ihn aufzuheben und die Rechtssache an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Es wurden keine Rechtsmittelbeantwortungen erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig, er ist auch im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.

1.1. Flüchtlinge sind nach der Genfer Flüchtlingskonvention (BGBl 1955/55, GFK) und dem Flüchtlingsprotokoll (BGBl 1974/78) österreichischen Staatsbürgern iSd § 2 Abs 1 UVG gleichgestellt. Sie haben demnach Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse (10 Ob 46/10b; 10 Ob 22/18k mwN).

1.2. Flüchtlinge sind iSd Art 1 A Z 2 GFK Personen, die sich „aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb ihres Heimatlandes befinden und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt sind, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen“.

1.3. Gemäß § 3 Abs 5 AsylG 2005 ist die Entscheidung, mit der einem Fremden von Amts wegen oder aufgrund eines Antrags auf internationalen Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, mit der Feststellung zu verbinden, dass diesem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Diese Feststellung hat nur deklarativen Charakter (vgl 10 Ob 19/17t). Damit übereinstimmend bestimmt § 7 Abs 4 AsylG 2005, dass die Behörde in den Fällen der Aberkennung des Asyls (deklarativ) festzustellen hat, dass dem Betroffenen die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt (vgl 10 Ob 19/17t).

1.4. Nach ständiger Rechtsprechung hat das Gericht die Flüchtlingseigenschaft jeweils selbständig als Vorfrage zu prüfen (RS0110397; RS0037183; ausführlich Hueber, Zur Anspruchsberechtigung anerkannter Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigter auf Unterhaltsvorschüsse, iFamZ 2018, 275 [277]). Der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft im Verwaltungsverfahren kommt stärkste Indizwirkung zu, sie nimmt dem Gericht aber nicht die Möglichkeit der selbständigen Vorfragenprüfung. Liegt eine solche Feststellung erst kurze Zeit vor der gerichtlichen Entscheidung, in der die Flüchtlingseigenschaft eine Vorfrage bildet, wird das Gericht in der Regel von einer eigenen selbständigen Prüfung mangels gegenteiliger Anhaltspunkte absehen können (RS0110397 [T1]). Anders ist es, wenn seit der Feststellung ein geraumer Zeitraum verstrichen ist und sich die Verhältnisse im Heimatstaat des Flüchtlings wesentlich geändert haben (RS0037183 [T2]).

2.1. Gemäß § 94 Fremdenpolizeigesetz 2005 sind Konventionsreisepässe einem Fremden, dem in Österreich der Status eines Asylberechtigten zukommt, auf Antrag auszustellen. Diese Bestimmung enthält keine Aussage über die – hier allein maßgebliche – Flüchtlingseigenschaft eines Fremden: Diese ergibt sich vielmehr ex lege aus seinem von § 94 Abs 1 FPG vorausgesetzten Status als Asylberechtigter (10 Ob 19/17t).

2.2. Daher hat auch das Ende der Gültigkeitsdauer eines Konventionsreisepasses des Kindes für sich genommen keine Auswirkungen auf dessen Status als Asylberechtigter und damit – ex lege verbunden – auf seine Flüchtlingseigenschaft (10 Ob 19/17k; vgl 10 Ob 22/18k). Allein das Ende der Gültigkeitsdauer des Konventionsreisepasses steht daher – sofern keine anderen Gründe vorliegen, aus denen zu erwarten wäre, dass die Voraussetzungen für die Gewährung der Vorschüsse früher wegfallen könnten – einer Gewährung von Unterhaltsvorschüssen für die gemäß § 8 UVG vorgesehene Höchstdauer von fünf Jahren nicht entgegen (vgl 10 Ob 19/17t).

3.1. Im vorliegenden Fall wurden keine Feststellungen über die Asylberechtigung des Kindes getroffen. Daher ist nicht ersichtlich, wie viel Zeit seit der Feststellung, dass dem Kind kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt, die der Ausstellung des Konventionspasses zugrunde liegt, vergangen ist. Es fehlen auch Feststellungen dazu, ob sich die Verhältnisse im Heimatstaat des Flüchtlings – hier: in der Russischen Föderation – gegenüber der Beurteilung im Verwaltungsverfahren wesentlich geändert haben.

3.2. Damit kann aber die Intensität der Indizwirkung, die der im Verwaltungsverfahren getroffenen deklarativen Feststellung der Flüchtlingseigenschaft des Kindes für das Gerichtsverfahren je nach der seither vergangenen Zeitspanne entfaltet (vgl RS0110397), nicht beurteilt werden. Darüber hinaus kann nicht beurteilt werden, ob Anhaltspunkte für das Fortbestehen, oder – aufgrund geänderter Verhältnisse – für den Wegfall der Flüchtlingseigenschaft vorliegen. Die getroffenen Feststellungen reichen daher zur Beurteilung der Anspruchsberechtigung des Kindes nicht aus.

Dies macht die Aufhebung der angefochtenen Beschlüsse und die Zurückverweisung der Rechtssache an das Erstgericht erforderlich.

4. Im fortgesetzten Verfahren wird gegebenenfalls gemäß § 8 UVG darauf Bedacht zu nehmen sein, dass der Vater des Kindes am 24. 11. 2019 verstorben ist.

Textnummer

E129539

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:0100OB00011.20W.0901.000

Im RIS seit

18.11.2020

Zuletzt aktualisiert am

18.11.2020
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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