TE OGH 2018/4/17 10Ob22/18k

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Veröffentlicht am 17.04.2018
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr.

 Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Stefula als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj 1. F*****, geboren ***** 2000, 2. Isl*****, geboren ***** 2004 und 3. Ism*****, geboren ***** 2006, alle vertreten durch das Land Oberösterreich als Kinder- und Jugendhilfeträger (Bezirkshauptmannschaft Linz-Land, 4020 Linz, Kärntnerstraße 16), wegen Unterhaltsvorschuss, über den Revisionsrekurs der Kinder gegen den Beschluss des Landesgerichts Linz vom 30. August 2017, GZ 15 R 333/17x, 15 R 334/17v, 15 R 335/17s-81, mit dem die Beschlüsse des Bezirksgerichts Traun je vom 1. Juni 2017, GZ 27 Pu 96/10w-70, -71 und -72, abgeändert wurden, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidung des Rekursgerichts wird dahin abgeändert, dass die Beschlüsse des Erstgerichts wiederhergestellt werden.

Text

Begründung:

Die Kinder und ihre Eltern sind Staatsangehörige der Russischen Föderation. Sie stammen aus der Republik Tschetschenien. Mit rechtskräftigen Bescheiden je vom 4. 12. 2007 hat der Unabhängige Bundesasylsenat den Kindern Asyl gewährt und festgestellt, dass den Kindern damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Das Bezirksgericht Traun hat den Kindern mit Beschlüssen je vom 16. 12. 2011 Unterhaltsvorschüsse gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG jeweils für die Zeit vom 1. 11. 2011 bis 31. 10. 2016 gewährt (ON 13–15).

Mit Anträgen vom 10. bzw 11. 11. 2016 (ON 37-39) beantragten die Kinder gemäß § 18 UVG die Weitergewährung der Unterhaltsvorschüsse nach den §§ 3, 4 Z 1 UVG. Die Voraussetzungen für die Gewährung der Unterhaltsvorschüsse seien nicht weggefallen.

Nachdem das Rekursgericht mit Beschluss vom 11. 1. 2017 (ON 51) die Weitergewährungsbeschlüsse des Erstgerichts je vom 18. 11. 2016 (ON 40–42) aufgehoben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen hatte, führte das Erstgericht Erhebungen über den Weiterbestand der Flüchtlingseigenschaft bei den drei Kindern durch. In diesem Zusammenhang wurden auch die Mutter und der Bund zu Stellungnahmen aufgefordert.

Der Bund, vertreten durch die Präsidentin des Oberlandesgerichts Linz, sprach sich gegen eine Weitergewährung der Unterhaltsvorschüsse aus. Maßgeblich sei nur, ob sich seit Ausstellung der Asylbescheide die Verhältnisse im Heimatland der Minderjährigen geändert haben. Dies sei der Fall, weil es mittlerweile für russische Staatsangehörige tschetschenischer Abstammung möglich sei, in ihr Heimatland zurückzukehren und nicht jeder einer Verfolgung oder Menschenrechtsverletzung ausgesetzt sei. Asylanträge von Asylwerbern tschetschenischer Abstammung würden aktuell abgewiesen (ON 63).

Die Mutter gab an, ihr Schwager sei tschetschenischer Widerstandskämpfer gewesen, sie habe ihn mit Lebensmittel- und Medikamentenlieferungen unterstützt. Der Schwager sei verschwunden, nachdem er im April 2002 von russischen Sicherheitskräften mitgenommen worden sei. Sie selbst sei anlässlich der Festnahme ihres Bruders durch russische Militärangehörige mit Gewehrkolbenschlägen derart attackiert worden, dass sie eine Fehlgeburt erlitten habe (sie sei damals im 8. Monat mit Zwilligen schwanger gewesen). Im Fall einer Rückkehr nach Tschetschenien würde sie in eine aussichtslose Lage geraten. Es wäre für sie nicht möglich, sich zu registrieren und sich in verfolgungslosen Regionen niederzulassen. Für Angehörige von ehemaligen Rebellen herrsche ein Klima der Angst. Als eine solche Angehörige hätte sie mit willkürlicher Verfolgung und Verschleppung durch die Behörden zu rechnen. Darüber hinaus fühle sie sich im Fall ihrer Rückkehr gefährdet, weil sie geschieden sei. Die nun 17-jährige Tochter F***** sei schwanger, was im Fall einer Rückkehr zu deren gesellschaftlicher Ächtung führen würde. Außerdem bestehe die Gefahr, dass F***** medizinisch nur mangelhaft versorgt werden könnte.

Auch im zweiten Rechtsgang gewährte das Erstgericht mit Beschlüssen je vom 1. 6. 2017 den Kindern Isl***** und Ism***** Titelvorschüsse vom 1. 11. 2016 bis 31. 10. 2021 und dem Kind F***** Titelvorschüsse vom 1. 11. 2016 bis 30. 4. 2018 weiter.

Es traf zusammengefasst folgende Feststellungen:

Laut einer Auskunft des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl liegt kein Aberkennungsverfahren gegen die Kinder und deren Mutter vor bzw wird ein solches auch nicht eingeleitet. Die Konventionsflüchtlingspässe der Kinder Isl***** und Ism***** sind im Dezember 2016 auf fünf weitere Jahre verlängert worden. Der Konventionsflüchtlingspass des Kindes F***** ist bis 10. 5. 2017 gültig. Laut diversen Schreiben des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) sowie der Länderinformation kann die Frage, ob eine reale Gefahr einer Menschenrechtsverletzung oder Verfolgung oder eine ernsthafte Bedrohung gegeben ist, ohne individuelle Prüfung nicht beantwortet werden. Aktuelle Asylanträge von Asylwerbern aus Tschetschenien werden zum Großteil abgewiesen. Aus der Länderinformation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl für Tschetschenien geht hervor, dass dort weiterhin schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen und Folter auf der Tagesordnung stehen. Nach den Angaben der Mutter muss diese im Fall der Rückkehr nach Tschetschenien berechtigterweise Angst haben, dort als Angehörige eines ehemaligen Rebellen der Verfolgung ausgesetzt zu sein und in eine aussichtslose und existenzbedrohende Lage zu geraten.

Aus diesen Gründen ging das Erstgericht vom Fortbestehen der Flüchtlingseigenschaft der Antragsteller aus, weshalb die Titelvorschüsse weitergewährt wurden.

Das Rekursgericht änderte infolge Rekurses des Bundes die Beschlüsse des Erstgerichts dahin ab, dass die Weitergewährungsanträge abgewiesen wurden.

Das Rekursgericht traf aus dem Länderinformationsblatt der Staatsdokumentation zur Russischen Föderation (Gesamtaktualisierung 1. 6. 2016 – Version 21. 7. 2017) ergänzende Feststellungen, von denen folgende hervorzuheben sind:

Es kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass die tschetschenischen Behörden Unterstützer und Familienmitglieder einzelner Kämpfer auf dem gesamten Territorium der Russischen Föderation suchen und/oder finden würden, was aber bei einzelnen hochrangigen Kämpfern sehr wohl der Fall sein kann. Die Situation der Krankenhäuser für die medizinische Grundversorgung in Tschetschenien hat inzwischen das durchschnittliche Niveau in der Russischen Föderation erreicht …. Dem Auswärtigen Amt sind keine Fälle bekannt, in denen Staatsangehörige der Russischen Föderation nach ihrer Rückkehr nach Russland allein deshalb staatlich verfolgt wurden, weil sie zuvor im Ausland einen Asylantrag gestellt hatten. Es liegen keine Erkenntnisse darüber vor, dass Russen mit tschetschenischer Volkszugehörigkeit nach ihrer Rückführung besonderen Repressionen ausgesetzt sind. Solange die Konflikte im Nordkaukasus, einschließlich der Lage in Tschetschenien nicht endgültig gelöst sind, ist davon auszugehen, dass abgeschobene Tschetschenen besondere Aufmerksamkeit durch russische Behörden erfahren. Dies gilt insbesondere für solche Personen, die sich gegen die gegenwärtigen Machthaber engagiert haben bzw denen ein solches Engagement unterstellt wird, oder die im Verdacht stehen, einen fundamentalistischen Islam zu propagieren. Der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen ist aus Angst vor Terroranschlägen und anderen extremistischen Straftaten erheblich. Russische Menschenrechtsorganisationen berichten von häufigem willkürlichem Vorgehen der Miliz gegen Kaukasier allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Kaukasisch aussehende Personen stünden unter einer Art Generalverdacht. Personenkontrollen und Hausdurchsuchungen (häufig ohne Durchsuchungsbefehl) finden weiterhin statt.

Die ausführliche rechtliche Beurteilung des Rekursgerichts lässt sich dahin zusammenfassen, dass die Flüchtlingseigenschaft vom Gericht jeweils selbständig zu prüfen sei. Der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft im Verwaltungsverfahren komme zwar eine starke Indizwirkung zu, nehme dem Gericht aber nicht die Möglichkeit selbständiger Vorfragenprüfung. Von einer selbständigen Prüfung werde das Gericht mangels gegenteiliger Anhaltspunkte nur dann absehen können, wenn das Verfahren über die Asylgewährung erst kurz vor der gerichtlichen Entscheidung durchgeführt worden sei. Im vorliegenden Fall stammten die Bescheide über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aber aus dem Jahr 2007, sodass allein infolge des Zeitablaufs das Fortbestehen der Flüchtlingseigenschaft zum Zeitpunkt der beantragten Weitergewährung zu überprüfen sei. Ausgehend vom Parteivorbringen und den ergänzend getroffenen Feststellungen sei nicht mehr davon auszugehen, dass für die Kinder bzw deren Mutter als Angehörige eines Widerstandskämpfers auf dem gesamten Territorium der Russischen Föderation die Gefahr der Verfolgung gegeben sei. Dass der Schwager ein derart hochrangiger Widerstandskämpfer gewesen wäre, dass er selbst nach Ablauf von 15 Jahren Gefahr laufe, verfolgt zu werden, sei nicht vorgebracht worden. Es sei auch nicht behauptet worden, dass den Behörden die Identität der Mutter als Unterstützerin eines Widerstandskämpfers überhaupt bekannt geworden sei. Ob auch der Bruder der Mutter aus einem Verfolgungsmotiv im Sinn der Konvention festgenommen worden sei, sei nicht bekannt. Aus diesem Geschehen lasse sich daher keine relative Verfolgungsgefahr ableiten. Es sei gerichtsnotorisch, dass sich Tschetschenien im Wiederaufbau befindet und in jüngster Vergangenheit die Tendenz dahin ging, Asylanträge von aus Tschetschenien stammenden Staatsbürgern der Russischen Föderation abzuweisen. Allgemeine Diskriminierungen – etwa soziale Ächtung – wiesen für sich genommen keine hinreichende Intensität für eine Asylgewährung auf. Im Allgemeinen habe ein Fremder auch nicht das Recht, wegen der besseren medizinischen Behandlung im Aufenthaltsstaat zu verbleiben. Die Flüchtlingseigenschaft sei daher im konkreten Fall nicht mehr gegeben; mangels Fortbestehen der Flüchtlingseigenschaft sei ein Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse zu verneinen.

Das Rekursgericht ließ den Revisionsrekurs nachträglich mit der Begründung zu, dass die Flüchtlingseigenschaft nach der bisherigen Rechtsprechung jeweils selbständig als Vorfrage zu prüfen war, sich nach der nunmehr geltenden Rechtslage aber ex lege aus dem Status als Asylberechtigter ergebe.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zur Klarstellung zulässig und im Sinne des Abänderungsantrags auch berechtigt.

1.1 Flüchtlinge sind nach der Genfer Flüchtlingskonvention (BGBl 1955/55, GFK) und dem Flüchtlingsprotokoll (BGBl 1974/78) österreichischen Staatsbürgern iSd § 2 Abs 1 UVG gleichgestellt. Sie haben demnach Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse (10 Ob 46/10b; 10 Ob 19/17t ua). Flüchtlinge sind iSd Art 1 A Z 2 GFK Personen, die sich „aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb ihres Heimatlandes befinden und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt sind, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen“.

2.1 Das Gericht hat die Flüchtlingseigenschaft jeweils selbständig als Vorfrage zu prüfen (RIS-Justiz RS0110397; RS0037183). Der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft im Verwaltungsverfahren kommt stärkste Indizwirkung zu, sie nimmt dem Gericht aber nicht die Möglichkeit der selbständigen Vorfragenprüfung. Liegt eine solche Feststellung erst kurze Zeit vor der gerichtlichen Entscheidung, in der die Flüchtlingseigenschaft eine Vorfrage bildet, wird das Gericht in der Regel von einer eigenen selbständigen Prüfung mangels gegenteiliger Anhaltspunkte absehen können (RIS-Justiz RS0110397 [T1]). Anders ist es, wenn seit der Feststellung ein geraumer Zeitraum verstrichen ist und sich die Verhältnisse im Heimatstaat des Flüchtlings wesentlich geändert haben (RIS-Justiz RS0037183 [T2]). Bei dem langen seit der Asylgewährung in den Jahren 2007 verstrichenen Zeitraum konnten die Gerichte die Flüchtlingseigenschaft selbständig als Vorfrage prüfen.

2.2 Aus der vom Rekursgericht zitierten Entscheidung 10 Ob 19/17t ist keine Änderung dieser Rechtsprechung abzuleiten. Daraus ergibt sich nur, dass das Ende der Gültigkeitsdauer eines Konventionsreisepasses des Kindes keine Auswirkungen auf dessen Status als Asylberechtigter und damit – ex lege verbunden – auf seine Flüchtlingseigenschaft hat (siehe Pkt 4.3 dieser Entscheidung).

3. Zu berücksichtigen ist, dass es im vorliegenden Fall nicht um die erstmalige Gewährung von Unterhaltsvorschüssen geht. Nach § 18 Abs 1 Z 2 UVG hat das Gericht die Vorschüsse weiter zu gewähren, wenn keine Bedenken dagegen bestehen, dass die Voraussetzungen der Gewährung der Vorschüsse (ausgenommen einer Exekution iSd § 3 Z 2 UVG) weiter gegeben sind. Der Antrag auf Weitergewährung ist damit an weniger strenge Voraussetzungen geknüpft als die Erstgewährung. Das Kind hat im Wesentlichen bloß zu behaupten, dass die Voraussetzungen, die bei der Erstgewährung angenommen wurden, weiterhin gegeben sind (10 Ob 15/16b mwN; RIS-Justiz RS0122248 [T1, T4]).

4. Diese Behauptungspflicht habe die Kinder im vorliegenden Fall erfüllt. Im Antrag sowie in den mit der Mutter aufgenommenen Protokollen wurden konkrete Umstände vorgebracht, welche die Sorge vor Verfolgung bei einer Rückkehr in den Heimatstaat begründen. Sie sind – im individuellen Fall – nicht nur als subjektive Ängste, sondern als objektiv begründet anzusehen. Danach ist bei der konkreten Familie keine wesentliche Verbesserung im Vergleich zu jenen Verhältnissen eingetreten, die der Gewährung von Asyl an die Familienmitglieder und der ursprünglichen Vorschussgewährung zugrunde lag. Die ergänzenden Feststellungen des Rekursgerichts geben
– beruhend auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Russischen Föderation – ein generalisierendes Bild der Situation von in die Russische Föderation zurückkehrenden tschetschenischen Flüchtlingen wieder, ohne dabei jedoch auf die konkrete Situation der hier betroffenen Familie einzugehen. Auch aufgrund der ergänzenden Feststellungen lassen sich die Antragsbehauptungen nicht auf eine rein subjektive, nach objektiven Kriterien unbegründete Sorge vor Verfolgung reduzieren (siehe die einen ähnlich gelagerten Sachverhalt betreffende Entscheidung 10 Ob 3/18s vom 14. 3. 2018). Der Umstand, dass Flüchtlinge aus Tschetschenien, die erst jetzt einen Antrag stellen, aktuell nicht mit einem positiven Asylbescheid rechnen können, steht dem Weiterbestehn der Flüchtlingseigenschaft bei den hier zu beurteilenden Kindern nicht entgegen.

4. Die entsprechenden Erkenntnisse der Fremdenbehörde lagen zum Zeitpunkt der Beschlussfassung des Erstgerichts bereits vor. Den Kindern kommt demnach weiterhin ex lege die Flüchtlingsstellung zu.

Dem Revisionsrekurs war daher dahin Folge zu geben, dass die antragstattgebenden Entscheidungen des Erstgerichts wiederhergestellt werden.

Textnummer

E121957

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2018:0100OB00022.18K.0417.000

Im RIS seit

14.07.2018

Zuletzt aktualisiert am

31.10.2018
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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