TE OGH 2020/9/10 12Os23/20d

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Veröffentlicht am 10.09.2020
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 10. September 2020 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Solé als Vorsitzenden sowie durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oshidari, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel-Kwapinski und Dr. Brenner sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Weinhandl in der Strafsache gegen Emma A***** und andere Beschuldigte wegen Vergehen der Verleumdung nach § 297 Abs 1 erster Fall StGB, AZ 5 St 62/19k der Staatsanwaltschaft Salzburg, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg vom 4. September 2019, AZ ***** (ON 6), erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Dr. Geymayer, und der Verteidigerin Mag. Radschek zu Recht erkannt:

Spruch

Der Beschluss des Landesgerichts Salzburg vom 4. September 2019, AZ ***** (ON 6), verletzt in der in seiner Begründung vertretenen Rechtsansicht, wonach die Beischaffung des Akts AZ ***** des Landesgerichts Salzburg durch die Staatsanwaltschaft nicht als Ermittlung im Sinn des § 91 Abs 2 erster und zweiter Satz StPO, sondern als bloße Nutzung einer behördeninternen Informationsquelle im Sinn des § 91 Abs 2 letzter Satz StPO anzusehen sei, das Gesetz in § 91 Abs 2 StPO.

Text

Gründe:

Bei der Staatsanwaltschaft Salzburg langte am 29. April 2019 eine als „Strafanzeige wegen schwerer Verleumdung, übler Nachrede, schwerer Beleidigung und Persönlichkeits-, Identitäts- und Ehrverletzung, schwerer Verletzung meiner Datenschutzrechte bei laufendem Verfahren *****“ bezeichnete Eingabe der Dr. Sarah S***** ein (ON 2; AZ *****). Darin wirft sie Emma A*****, Sherry P*****, Daniel O***** [als Verantwortliche der O***** Limited, die die Internetsuchmaschine ***** betreibt] sowie deren Rechtsvertretern Dr. G***** und Dr. Pi***** vor, sie unter ihrem jetzigen und ihrem früheren Namen Isabella M***** „öffentlich als kriminelle Verbrecherin, flüchtige Betrügerin etc“ bezeichnet zu haben.

Nach Beischaffung des bezughabenden Aktes AZ ***** des Landesgerichts Salzburg (ON 1 S 1) und Anfertigung von Kopien (ON 1 S 3, ON 3) verfügte die Staatsanwaltschaft Salzburg am 17. Mai 2019 die Einstellung des wegen § 297 StGB eingeleiteten Ermittlungsverfahrens gemäß § 190 Z 2 StPO. Darüber setzte sie die Anzeigerin mit dem Verständigungsformular „S 41“ und der Mitteilung „[...] Verfahrenseinstellung aus Beweisgründen, zumal schon der Anzeige keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte für ein strafrechtlich relevantes Verhalten der Verdächtigen zu entnehmen sind und sich darüber hinaus auch nach Einsicht in den bezughabenden Zivilakt des Landesgerichts Salzburg ***** keine geeignete Grundlage für weiter führende Ermittlungen ergeben hat“ in Kenntnis (ON 1 S 3).

Mit ihrem an die Staatsanwaltschaft Salzburg gerichteten und als „Beschwerde und Dienstaufsichtsbeschwerde“ sowie „Fortführungsantrag“ bezeichneten Schreiben vom 6. Juni 2019 begehrte die Anzeigerin die Fortführung des Verfahrens (ON 4).

In ihrer dazu erstatteten Stellungnahme (§ 195 Abs 3 zweiter Satz StPO; ON 5) führte die Staatsanwaltschaft Salzburg aus, dass die Anzeigerin in ihrem Schreiben nicht hinreichend konkret darzustellen vermochte, worin „nun die verleumderischen Tathandlungen“ der Angezeigten „konkret bestehen sollen“ und dass die „vage bleibende Anzeige nach Einsicht in den bezughabenden Zivilakt keine geeignete Grundlage für weitere Ermittlungen“ bilde.

Mit Beschluss vom 4. September 2019, AZ ***** (ON 6), wies das Landesgericht Salzburg den Antrag der Dr. Sarah S***** auf Fortführung des Verfahrens als unzulässig zurück (1./) und trug ihr die Zahlung eines Pauschalkostenbeitrags von 90 Euro auf (2./).

Begründend führte das Gericht aus, die Staatsanwaltschaft Salzburg habe nach Kenntnisnahme der Anzeige und Beischaffung des Akts AZ ***** des Landesgerichts Salzburg „schon den Anfangsverdacht einer von Amts wegen zu verfolgenden gerichtlich strafbaren Handlung (§ 1 Abs 3 StPO) verneint“. Damit habe sie
– ungeachtet der Bezeichnung und Beurteilung des eigenen Vorgehens und der Verständigung der Anzeigerin als Opfer – die Anzeige tatsächlich (a limine) zurückgelegt und „somit der Sache nach von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens abgesehen (§ 35c StAG)“. Die „dargelegte Beischaffung und Anfertigung von Kopien des genannten Zivilakts des Landesgerichts Salzburg“ stellte „gerade keine Ermittlungen iSd § 91 Abs 2 erster Satz StPO dar“, sondern sei als „bloße Benutzung einer behördeninternen Informationsquelle zur Aufklärung, ob ein Anfangsverdacht iSd § 1 Abs 3 StPO vorliegt“, zu werten (ON 6 S 2). Gegen ein solches Vorgehen nach § 35c StAG stehe (gemäß dem zweiten Satz dieser Bestimmung) ein Fortführungsantrag nicht zu.

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrer gegen den genannten Beschluss erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt, steht dieser in der in seiner Begründung vertretenen Rechtsansicht, wonach die von der Staatsanwaltschaft vorgenommene Beischaffung und Anfertigung von Kopien des Akts AZ ***** des Landesgerichts Salzburg „gerade keine Ermittlungen iSd § 91 Abs 2 StPO erster Satz StPO“ darstellten, sondern als „bloße Benutzung einer behördeninternen Informationsquelle“ anzusehen seien, mit § 91 Abs 2 StPO nicht im Einklang:

Gemäß § 1 Abs 2 erster Satz StPO beginnt das Strafverfahren, sobald Kriminalpolizei oder Staatsanwaltschaft zur Aufklärung eines Anfangsverdachts ermitteln. Ein Anfangsverdacht (§ 1 Abs 3 StPO) liegt vor, wenn aufgrund bestimmter Anhaltspunkte angenommen werden kann, dass eine Straftat begangen, demnach ein Verhalten gesetzt worden ist, das Gegenstand eines Ausspruchs gemäß § 260 Abs 1 Z 2 StPO sein kann, das also tatbestandsmäßig, rechtswidrig und (von § 21 Abs 1 StGB abgesehen) schuldhaft ist und auch den zusätzlichen Voraussetzungen (wie insbesondere dem Fehlen von Strafausschließungsgründen) genügt (17 Os 3/18x; vgl auch Ratz in WK² StGB Vorbemerkungen zu §§ 28–31 Rz 1).

Liegen keine Anhaltspunkte vor, die annehmen lassen, dass eine Straftat begangen wurde, sieht das Gesetz Ermittlungshandlungen – demnach Tätigkeiten, die der Gewinnung, Sicherstellung, Auswertung oder Verarbeitung einer Information zur Aufklärung des Verdachts einer Straftat dienen und in Form von Erkundigungen (§§ 151 f StPO) oder Beweisaufnahmen (gemäß dem 8. Hauptstück der StPO) erfolgen (§ 91 Abs 2 erster und zweiter Satz StPO) – überhaupt nicht vor. In einem solchen Fall hat die Staatsanwaltschaft vielmehr – mangels Anfangsverdachts – von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens abzusehen und den Anzeiger hievon mit dem Hinweis in Kenntnis zu setzen, dass ein Antrag auf Fortführung gemäß § 195 StPO nicht zusteht (§ 35c StAG).

Bestehen auf Basis einer Anzeige insofern jedoch Zweifel, ermöglicht § 91 Abs 2 letzter Satz StPO zur Klärung der Frage, ob ein Anfangsverdacht vorliegt (oder nicht), Vorfeldermittlungen minderer Intensität, die noch nicht als „Ermitteln“ im Sinn des Abs 2 erster Satz des § 91 StPO gelten und daher auch nicht den Beginn des Strafverfahrens begründen (Vogl, WK-StPO § 91 Rz 10; vgl auch Markel, WK-StPO § 1 Rz 26): Darunter fallen die bloße Nutzung bestimmter Informationsquellen und die Durchführung von Erkundigungen.

Eine „Erkundigung“ ist definitionsgemäß (nur) das Verlangen von (freiwilliger) Auskunft und das Entgegennehmen einer Mitteilung von einer Person (§ 151 Z 1 StPO; zur Abgrenzung einer Erkundigung von einer Vernehmung vgl Kirchbacher, WK-StPO § 152 Rz 1 ff).

Bei der bloßen Nutzung von Informationsquellen, deren Einsatz im Zuge einer Anfangsverdachtsermittlung aufgrund der gesetzlichen Anordnung im letzten Satz des § 91 Abs 2 StPO noch kein „Ermitteln“ bildet, unterscheidet das Gesetz zwischen allgemein (also jedermann) zugänglichen Informationsquellen (wie etwa Internet, Telefonbuch, Grundbuch, Firmenbuch und andere öffentlich zugängliche Register; vgl Erlass des BMJ vom 12. Dezember 2014, BMJ-S578.028/0021-IV 3/2014, S 6 f; Vogl, WK-StPO § 91 Rz 11/1) und sogenannten „behördeninternen“ Informationsquellen.

Der im Kontext der Definition des Zwecks des Ermittlungsverfahrens (2. Teil, 6. Hauptstück, 1. Abschnitt StPO) verwendete Begriff „behördenintern“ in § 91 Abs 2 letzter Satz StPO ist im Zusammenhang mit § 1 Abs 2 erster Satz StPO zu sehen, wonach sich der Beginn des Strafverfahrens mit dem (Anfangs-)Zeitpunkt des Ermittelns (nach den Bestimmungen des 2. Teils der StPO) der Kriminalpolizei oder der Staatsanwaltschaft zur Aufklärung eines Anfangsverdachts bestimmt. Ausschließlich das Tätigwerden dieser Behörden (siehe zur Kriminalpolizei § 18 Abs 2 StPO und § 76 Abs 2 StPO) in bestimmter Weise ist also für den Beginn des Strafverfahrens entscheidend (vgl Ratz, WK-StPO Vor §§ 280–296a Rz 8/4; Ratz, Vom Übergang in ein Ermittlungs- und Hauptverfahren, ÖJZ 2020, 353 [356], der

betont, dass bei Informationsbeschaffung, die über das nach § 91 Abs 2 letzter Satz StPO Zulässige hinausgeht, unwiderlegbar die Annahme [zumindest] eines Anfangsverdachts durch Kriminalpolizei oder auch Staatsanwaltschaft, somit ein nach § 1 Abs 2 StPO geführtes Ermittlungsverfahren vorliegt).

Daraus ist abzuleiten, dass (nur) Informationsquellen der Genannten, die diese ohne Inanspruchnahme Dritter nutzen können und dürfen, als „behördenintern“ im Sinn des § 91 Abs 2 letzter Satz StPO anzusehen sind (vgl 15 Os 20/19h = JSt-Slg 2019/64, 562 [Birklbauer], wonach solche Informationsquellen „jedenfalls“ als behördeninterne im Sinn des § 91 Abs 2 letzter Satz StPO anzusehen sind; diesem Verständnis folgend Erlass des Bundesministeriums für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz vom 26. August 2019, BMVRDJ-S578.028/0005-IV 3/2019, S 8; vgl auch Stricker, Aktuelle Probleme im Strafprozess, in Schriftenreihe des BMVRDJ, Band 165, 5 [12], der die Abfrage des Strafregisters durch die Staatsanwaltschaft für zulässig hält; anders Hinterhofer/Oshidari, Strafverfahren Rz 7.5, die auf den Bereich der – auch Strafgerichte umfassenden – „Strafjustiz“ abstellen; vgl jedoch Kroschl in Schmölzer/Mühlbacher StPO1.02 § 1 Rz 2c, 2d; Nimmervoll, Strafverfahren2 Kap I Rz 209, nach denen jeweils nur die Einsichtnahme in Informationsquellen der eigenen Behörde (Dienststelle) im Sinn des § 91 Abs 2 letzter Satz StPO in Betracht kommt; aA 14 Os 21/19y [RIS-Justiz RS0132639], EvBl 2019/116, 779 [Ratz] = JSt-Slg 2019/51, 458 [krit Birklbauer], wonach alle Aufzeichnungen oder Speicherungen von Informationen, die bereits Gegenstand der Datenverarbeitung irgendeiner Behörde waren, Informationsquellen im Sinn des § 91 Abs 2 letzter Satz StPO sind; in diesem Sinn auch Fuchs, Beginn des Strafverfahrens und Beschuldigtenstellung, in Lewisch/Nordmeyer [Hrsg], Liber Amicorum Eckart Ratz, 31 [38]; Koller in Schmölzer/Mühlbacher, StPO1.02 § 91 Rz 5b).

Dies erschließt sich auch aus dem vom Gesetzgeber gewählten semantisch engeren Wortlaut „behördeninterne Informationsquellen“ anstelle der Formulierung „Informationsquellen einer Behörde“ (in diesem Sinn auch Sadoghi in ihrem Vortrag im Rahmen des Ottensteiner Fortbildungsseminars aus Strafrecht und Kriminologie 2020, im Druck).

Diesem Verständnis entsprechend räumt § 76 Abs 2a StPO der Staatsanwaltschaft im Fall der Weigerung eines Gerichts, Akten im Wege der Rechtshilfe zu übersenden, ein Antragsrecht an das dem ersuchten Gericht übergeordnete Oberlandesgericht ein, welches ohne vorhergehende mündliche Verhandlung über die Rechtmäßigkeit der unterlassenen Rechtshilfe zu entscheiden hat (vgl 15 Os 73/19b; Lendl, WK-StPO § 76 Rz 19).

Dieses Ergebnis trägt überdies dem Umstand Rechnung, dass das Gesetz den von den Vorfeldermittlungen Betroffenen keinen Rechtsschutz zugesteht (vgl Fuchs, Beginn des Strafverfahrens und Beschuldigtenstellung, in Lewisch/Nordmeyer [Hrsg], Liber Amicorum Eckart Ratz, 31 [41 f], wonach Mittel der Auslegung keinen Transfer solcher Verfahrensrechte der Strafprozessordnung in dieses Verfahrensstadium zulassen; zur fehlenden Möglichkeit, Akteneinsicht zu erlangen siehe Oshidari, WK-StPO § 77 Rz 1/1; aA Ratz, WK-StPO Vor §§ 280–296a Rz 8/4, der aus „logisch-systematischen“ Gründen Analogie befürwortet; vgl auch Ratz, Vom Übergang in ein Ermittlungs- und Hauptverfahren, ÖJZ 2020, 356, der den Rechtsschutz durch die Kontrolle des Amtshilfeersuchens auf dessen Rechtsmäßigkeit durch die ersuchte Behörde betont).

Demgemäß ist die Beischaffung eines Gerichtsakts durch die Staatsanwaltschaft zur Einsicht und Anfertigung von Kopien nicht mehr als Nutzung einer behördeninternen Informationsquelle im Sinn dieser Bestimmung anzusehen.

Da sich die aufgezeigte Gesetzesverletzung nicht zum Nachteil der (ehemals) Beschuldigten ausgewirkt hat, sah sich der Oberste Gerichtshof nicht veranlasst, ihre Feststellung mit konkreter Wirkung zu verbinden (vgl § 292 letzter Satz StPO).

Textnummer

E129368

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:0120OS00023.20D.0910.000

Im RIS seit

16.10.2020

Zuletzt aktualisiert am

07.06.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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