TE Bvwg Erkenntnis 2020/4/16 W119 2173583-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 16.04.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

16.04.2020

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4
StGB §224
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W119 2173583-1/17E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Eigelsberger als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22. 9. 2017, Zl 1051306209-150119639, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer stellte gemeinsam mit seiner Ehefrau (Zl W119 2173576) und seinen minderjährigen Kindern (Zlen W119 2173562, W119 2173579 und W119 2173585) am 4. 2. 2015 jeweils Anträge auf internationalen Schutz. Für seine in Österreich geborene Tochter (Zl 2173566) wurde am 1. 10. 2015 ein solcher Antrag gestellt.

Anlässlich der am selben Tag durchgeführten Erstbefragung nach dem AsylG gab er an, dass sich die Familie seiner Ehefrau gegen die mit ihm geschlossene Ehe gestellt habe. Die Brüder seiner Ehefrau hätten ihn mit dem Umbringen bedroht.

Der Beschwerdeführer legte mehrere Bestätigungen über die von ihm ausgeübten gemeinnützigen bzw freiwilligen Tätigkeiten sowie seine bei der Volkshilfe durchgeführte Dolmetschertätigkeit vor.

Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 25. 11. 2015 wegen Urkundenfälschung gemäß § 223 Abs 2 StGB und wegen der Fälschung besonders geschützter Urkunden gemäß § 224 StGB zu einer dreimonatigen bedingten Freiheitsstrafe verurteilt.

Am 19. 9. 2017 wurde der Beschwerdeführer beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) einvernommen und gab dort eingangs an, dass er in Kabul geboren sei und der tadschikischen Volksgruppe angehöre. Er habe im Jahr 2005 in Mazar-e Sharif seine nunmehrige Ehefrau geheiratet. Zuvor habe er sich von XXXX bis XXXX in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten, wo er auch einen Asylantrag gestellt habe. Er sei nach Afghanistan zurückgekehrt, weil sein Vater erkrankt sei. Von XXXX bis XXXX habe er alleine in Schweden gelebt. Nachdem er einen negativen Bescheid erhalten habe, sei er freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt.

In Afghanistan habe er von seinem Vater ein Haus geerbt, zudem habe er ein eigenes besessen, das er vermietet habe sowie ein Lebensmittelgeschäft, das ihm ebenfalls gehört habe.

Seine Mutter und seine beiden Brüder würden in der Bundesrepublik Deutschland leben, zwei Schwestern würden sich weiterhin in Afghanistan aufhalten. Er habe überdies zahlreiche Verwandte in Kabul.

Zu seinem Fluchtgrund befragt, gab er an, dass, als er aus der Bundesrepublik Deutschland zurückgekehrt sei, sein Vater gestorben sei. Er habe einen hohen Erbanteil erhalten, weshalb er beschlossen habe, in Afghanistan zu bleiben. Bei einer Hochzeit eines Bekannten habe er seine nunmehrige Ehefrau kennengelernt. Zwei ihrer Brüder seien Taliban gewesen. Seine künftige Schwiegermutter habe ihm mitgeteilt, dass ihre Tochter einem älteren Kommandanten versprochen worden sei, der bereits zwei Ehefrauen gehabt habe. Sie habe ihm vorgeschlagen, ihre Tochter rasch zu heiraten und danach wegzugehen. Sein Bruder habe ihm versprochen, ihm dabei zu helfen. Drei Tage später habe er seine Ehefrau in Mazar-e Sharif geheiratet. Aus Angst sei er mit seiner Ehefrau ein Jahr dortgeblieben. Die Brüder seiner Ehefrau hätten in Kandahar gelebt und nichts von der Eheschließung erfahren. Circa drei oder vier Wochen später hätten ihre Brüder jedoch die Hochzeit mit dem Kommandanten geplant. Als diese nach Hause gekommen seien, hätten sie ihre Schwester nicht vorgefunden. Daraufhin hätten diese ihre Mutter unter Druck gesetzt, um zu erfahren, wo sich ihre Schwester aufhalte. Dann habe seine Schwiegermutter den Aufenthaltsort des Beschwerdeführers und seiner Ehefrau verraten. Danach hätten sowohl die Brüder seiner Ehefrau als auch der Kommandant nach ihm gesucht. Im Jahr 2006 habe er von seiner Schwiegermutter erfahren, dass ihre beiden Söhne und der Kommandant von amerikanischen Truppen festgenommen worden seien. Deshalb sei er mit seiner Ehefrau nach Kabul zurückgegangen. Er habe jedoch ständig Angst gehabt, dass etwas passieren könne, weshalb er im Jahr XXXX nach Schweden gereist sei. Nach einem Jahr sei er wieder zurückgekehrt und habe weiterhin in Kabul gelebt. Ende 2014 hätten die amerikanischen Truppen Gefangene freigelassen, worunter sich auch die Brüder seiner Ehefrau und der Kommandant befunden hätten. Zwei Wochen später habe er einen Anruf seiner Schwiegermutter erhalten, die ihm gesagt habe, dass ihre Söhne wieder für die Taliban kämpfen würden und sie Angst habe, dass diese wieder nach ihm suchen würden. Daraufhin habe er beschlossen, Afghanistan zu verlassen. Einen Monat später habe jemand an die Haustür geklopft. Er habe drei maskierte und bewaffnete Personen gesehen. Daraufhin habe er vom Haus seines Bruders die Polizeibehörden verständigt. Als diese erschienen seien, habe sich niemand mehr vor seinem Haus befunden. Eine Woche später habe er einen Drohbrief des Kommandanten gefunden, in dem er mit dem Leben bedroht worden sei. Er vermute, dass diese Personen, wenn sie gefasst werden würden, bestimmt in ein Gefängnis kämen.

Auch seine Mutter und sein Bruder hätten aus Furcht vor diesen Personen Afghanistan verlassen.

Mit Bescheid des Bundesamtes vom 22. 9. 2017, Zl 1051306209-150119639, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 57 AsylG wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen, wobei gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt wurde, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III). Gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV).

Mit Verfahrensanordnung vom 26. 9. 2017 wurde dem Beschwerdeführer der Verein Menschenrechte Österreich als Rechtsberater zur Seite gestellt.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer durch seinen Rechtsberater mit Schriftsatz vom 5. 10. 2017 Beschwerde.

Am 12. 2. 2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, an der sich sowohl der Beschwerdeführer als auch seine Ehefrau beteiligten. Ein Vertreter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl nahm an der Verhandlung nicht teil. Der Beschwerdeführer gab - wie bereits anlässlich seiner Befragung beim Bundesamt - an, dass er seine Ehefrau im Jahr 2005 bei einer Hochzeitsfeier kennengelernt habe. Zwei Brüder seiner nunmehrigen Ehefrau seien Anhänger der Taliban gewesen und hätten ihre Schwester einem Kommandanten der Taliban, der wesentlich älter gewesen sei, zur Ehefrau versprochen. Die Mutter seiner nunmehrigen Ehefrau habe ihn gebeten, dass er ihre Tochter retten und mit ihr Kabul verlassen solle. Er sei in weiterer Folge mit seiner nunmehrigen Ehefrau nach Mazar-e Sharif gefahren, wo er sie geheiratet habe. Nachdem die beiden Brüder von amerikanischen Truppen festgenommen und in ein Gefängnis überstellt worden seien, sei er mit seiner Ehefrau nach Kabul zurückgekehrt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der tadschikischen Volksgruppe an. Er wurde in Kabul geboren und lebte dort, bis er im Jahr XXXX in die Bundesrepublik Deutschland reiste und sich dort bis zum Jahr XXXX aufhielt. Danach kehrte er wieder nach Kabul zurück, wo er seine nunmehrige Ehefrau kennengelernte. Diese war von ihren beiden Brüdern, die den Taliban angehörten, einem Taliban-Kommandanten zur Ehefrau versprochen worden. Da die Mutter seiner nunmehrigen Ehefrau gegen die Zwangsverheiratung war, ersuchte sie den Beschwerdeführer mit dieser Kabul zu verlassen. Er ehelichte im selben Jahr seine nunmehrige Ehefrau in Mazar-e Sharif, wo sie sich ein Jahr aufhielten. Die Brüder seiner Ehefrau weilten in Kandahar, sodass sie keine Kenntnis über den Aufenthaltsort ihrer Schwester besaßen. 2006 wurden die beiden Brüder seiner Ehefrau und auch der Kommandant von amerikanischen Truppen verhaftet und in ein Gefängnis gebracht. Daraufhin kehrte der Beschwerdeführer mit seiner Ehefrau nach Kabul zurück. Aus Furcht, die Brüder seiner Ehefrau könnten freikommen, reiste er im Jahr XXXX alleine nach Schweden und hielt sich dort ein Jahr auf. Ende 2014 ließen die amerikanischen Truppen Gefangene frei, worunter sich auch die beiden Brüder seiner Ehefrau und auch der Kommandant befunden hatten. Daraufhin beschloss er mit seiner Familie Afghanistan zu verlassen. Zuvor erschienen drei maskierte und bewaffnete Personen vor seiner Haustür, worauf er die Polizeibehörden informierte, die auch erschienen waren, aber niemanden antreffen konnten. Eine Woche später erhielt er einen Brief des Kommandanten, der ihn mit dem Leben bedrohte. Daraufhin verließ er mit seiner Familie Afghanistan und stellte am 4. 2. 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Die Mutter und zwei Brüder des Beschwerdeführers verließen ebenfalls Afghanistan und leben nunmehr in der Bundesrepublik Deutschland. Die Schwestern des Beschwerdeführers sind in Afghanistan verheiratet, weitere Verwandte leben ebenfalls dort.

Der Beschwerdeführer ist aufgrund der Eheschließung mit seiner Ehefrau mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von Blutrache und Ehrenmord bedroht, weil sich die Ehefrau des Beschwerdeführers mit Unterstützung und mit Hilfe des Beschwerdeführers weigerte, der Aufforderung ihrer Brüder nachzukommen und den Kommandanten zu ehelichen.

Der Ehefrau und den minderjährigen Kindern des Beschwerdeführers wurde mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichtes vom 27. 3. 2020 der Status von Asylberechtigten zuerkannt.

Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 25. 11. 2015 wegen Urkundenfälschung gemäß § 223 Abs 2 StGB und wegen der Fälschung besonders geschützter Urkunden gemäß § 224 StGB zu einer dreimonatigen bedingten Freiheitsstrafe verurteilt.

Zur Situation in Afghanistan:

Provinz Kabul:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation 13.11.2019 (bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans (PAJ o.D.) und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt (NPS o.D.). Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi (CSO 2019; vgl. IEC 2018).

Laut dem UNODC Opium Survey 2018 verzeichnete die Provinz Kabul 2018 eine Zunahme der Schlafmohnanbaufläche um 11% gegenüber 2017. Der Schlafmohnanbau beschränkte sich auf das Uzbin-Tal im Distrikt Surubi (UNODC/MCN 11.2018).

Kabul-Stadt - Geographie und Demographie

Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 5.029.850 Personen für den Zeitraum 2019-20 (CSO 2019). Die Bevölkerungszahl ist jedoch umstritten. Einige Quellen behaupten, dass sie fast 6 Millionen beträgt (AAN 19.3.2019). Laut einem Bericht, expandierte die Stadt, die vor 2001 zwölf Stadtteile - auch Police Distrikts (USIP 4.2017), PDs oder Nahia genannt (AAN 19.3.2019) - zählte, aufgrund ihres signifikanten demographischen Wachstums und ihrer horizontalen Expansion auf 22 PDs (USIP 4.2017). Die afghanische zentrale Statistikorganisation (Central Statistics Organization, CSO) schätzt die Bevölkerung der Provinz Kabul für den Zeitraum 2019-20 auf 5.029.850 Personen (CSO 2019). Sie besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus (PAJ o.D.; vgl. NPS o.D.).

Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014). In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit internationalen und nationalen Passagierflügen bedient wird (BFA Staatendokumentation 25.3.2019).

Die Stadt besteht aus drei konzentrischen Kreisen: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Karte Se, Karte Chahar, Karte Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den "jüngsten Einwanderern" (USIP 4.2017) (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert (AAN 19.3.2019), mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs (USIP 4.2017).

Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen: Dies gilt für die Altstadt ebenso wie für weiter entfernte Stadtviertel, und sie wird in den ungeplanten Gebieten immer deutlicher (Noori 11.2010). In den zuletzt besiedelten Gebieten sind die Bewohner vor allem auf Qawmi-Netzwerke angewiesen, um Schutz und Arbeitsplätze zu finden sowie ihre Siedlungsbedingungen gemeinsam zu verbessern. Andererseits ist in den zentralen Bereichen der Stadt die Mobilität der Bewohner höher und Wohnsitzwechsel sind häufiger. Dies hat eine disruptive Wirkung auf die sozialen Netzwerke, die sich in der oft gehörten Beschwerde manifestiert, dass man "seine Nachbarn nicht mehr kenne" (AAN 19.3.2019).

Nichtsdestotrotz, ist in den Stadtvierteln, die von neu eingewanderten Menschen mit gleichem regionalen oder ethnischen Hintergrund dicht besiedelt sind, eine Art "Dorfgesellschaft" entstanden, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls (USIP 4.2017). Einige Beispiele für die ethnische Verteilung der Kabuler Bevölkerung sind die folgenden: Hazara haben sich hauptsächlich im westlichen Viertel Chandawal in der Innenstadt von Kabul und in Dasht-e-Barchi sowie in Karte Se am Stadtrand niedergelassen; Tadschiken bevölkern Payan Chawk, Bala Chawk und Ali Mordan in der Altstadt und nördliche Teile der Peripherie wie Khairkhana; Paschtunen sind vor allem im östlichen Teil der Innenstadt Kabuls, Bala Hisar und weiter östlich und südlich der Peripherie wie in Karte Naw und Binihisar (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017), aber auch in den westlichen Stadtteilen Kota-e-Sangi und Bazaar-e-Company (auch Company) ansässig (Noori 11.2010); Hindus und Sikhs leben im Herzen der Stadt in der Hindu-Gozar-Straße (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018).

Aufgrund eben dieser öffentlichkeitswirksamer Angriffe auf Kabul-Stadt kündigte die afghanische Regierung bereits im August 2017 die Entwicklung eines neuen Sicherheitsplans für Kabul an (AAN 25.9.2017). So wurde unter anderem das Green Village errichtet, ein stark gesichertes Gelände im Osten der Stadt, in dem unter anderem, Hilfsorganisationen und internationale Organisationen (RFERL 2.9.2019; vgl. FAZ 2.9.2019) sowie ein Wohngelände für Ausländer untergebracht sind (FAZ 2.9.2019). Die Anlage wird stark von afghanischen Sicherheitskräften und privaten Sicherheitsmännern gesichert (AJ 3.9.2019). Die Green Zone hingegen ist ein separater Teil, der nicht unweit des Green Villages liegt. Die Green Zone ist ein stark gesicherter Teil Kabuls, in dem sich mehrere Botschaften befinden - so z.B. auch die US-amerikanische Botschaft und andere britische Einrichtungen (RFERL 2.9.2019).

In Bezug auf die Anwesenheit von staatlichen Sicherheitskräften liegt die Provinz Kabul mit Ausnahme des Distrikts Surubi im Verantwortungsbereich der 111. ANA Capital Division, die unter der Leitung von türkischen Truppen und mit Kontingenten anderer Nationen der NATO-Mission Train, Advise and Assist Command - Capital (TAAC-C) untersteht. Der Distrikt Surubi fällt in die Zuständigkeit des 201. ANA Corps (USDOD 6.2019). Darüber hinaus wurde eine spezielle Krisenreaktionseinheit (Crisis Response Unit) innerhalb der afghanischen Polizei, um Angriffe zu verhindern und auf Anschläge zu reagieren (LI 5.9.2018).

Im Distrikt Surubi wird von der Präsenz von Taliban-Kämpfern berichtet (TN 26.3.2019; vgl. SAS 26.3.2019). Aufgrund seiner Nähe zur Stadt Kabul und zum Salang-Pass hat der Distrikt große strategische Bedeutung (WOR 10.9.2018).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

Der folgenden Tabelle kann die Zahl sicherheitsrelevanter Vorfälle bzw. Todesopfer für die Provinz Kabul gemäß ACLED und Globalincidentmap (GIM) für das Jahr 2018 und die ersten drei Quartale 2019 entnommen werden (Quellenbeschreibung s. Disclaimer, hervorgehoben: Distrikt der Provinzhauptstadt):

Tabelle kann nicht dargestellt werden

(ACLED 5.10.2019; ACLED 12.7.2019; GIM o.D.)

Im Jahr 2018 dokumentierte UNAMA 1.866 zivile Opfer (596 Tote und 1.270 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einer Zunahme von 2% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmord- und komplexe Angriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs) und gezielten Tötungen (UNAMA 24.2.2019).

Die afghanischen Sicherheitskräfte führten insbesondere im Distrikt Surubi militärische Operationen aus der Luft und am Boden durch, bei denen Aufständische getötet wurden (KP 27.3.2019; vgl. TN 26.3.2019, SAS 26.3.2019, TN 23.10.2018,. KP 23.10.2018, KP 9.7.2018). Dabei kam es unter anderem zu zivilen Opfern (TN 26.3.2019; vgl. SAS 26.3.2019). Außerdem führten NDS-Einheiten Operationen in und um Kabul-Stadt durch (TN 7.8.2019; vgl. PAJ 7.7.2019, TN 9.6.2019, PAJ 28.5.2019). Dabei wurden unter anderem Aufständische getötet (TN 7.8.2019) und verhaftet (TN 7.8.2019; PAJ 7.7.2019; vgl TN 9.6.2019, PAJ 28.5.2019), sowie Waffen und Sprengsätze konfisziert (TN 9.6.2019; vgl. PAJ 28.5.2019).

IDPs - Binnenvertriebene

UNOCHA meldete für den Zeitraum 1.1.-31.12.2018 35 konfliktbedingt aus dem Distrikt Surubi vertriebene Personen, die alle in der Provinz Logar Zuflucht fanden (UNOCHA 28.1.2019). Im Zeitraum 1.1.-30.6.2019 meldete UNOCHA keine durch gewaltsamen Konflikt aus der Provinz Kabul vertriebene Personen (UNOCHA 18.8.2019). Im Zeitraum 1.1.-31.12.2018 meldete UNOCHA 9.422 Vertriebene, welche in die Provinz Kabul kamen, die meisten davon in den Distrikt Kabul (UNOCHA 28.1.2019). Im Zeitraum 1.1.-30.6.2019 meldete UNOCHA 2.580 Vertriebene in die Provinz Kabul, alle in den Distrikt Kabul. Sie stammten aus Kapisa, Kunar, Nangarhar wie auch Logar, Ghazni, Baghlan und Wardak (UNOCHA 18.8.2019).

Bis zu zwei Drittel aller Afghanen, die außerhalb ihrer Provinz vertrieben wurden, bewegen sich in Richtung der fünf Regionalhauptstädte (NRC 30.1.2019) und Kabuls Wachstum war besonders umfangreich. Die Gesamtzahl der Binnenvertriebenen in Kabul ist nicht bekannt. Die Bewegung in und innerhalb der Stadt fluktuiert und viele kehren regelmäßig in friedlicheren Zeiten in ihr Herkunftsgebiet zurück (Metcalfe et al. 6.2012; vgl. AAN 19.3.2019). Im September 2018 schätzte der afghanische Minister für Flüchtlinge und Repatriierung die Gesamtzahl der Binnenvertriebenen in Kabul auf 70.000 bis 80.000 Menschen (TN 21.9.2018).

Religionsfreiheit

Etwa 99,7% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon zwischen 84,7 und 89,7% Sunniten (CIA 2017; vgl. USCIRF 2017). Schätzungen zufolge sind etwa 10 - 19% der Bevölkerung Schiiten (AA 5.2018; vgl. CIA 2017). Andere in Afghanistan vertretene Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha¿i und Christen machen ca. 0,3% der Bevölkerung aus. Offiziell lebt noch ein Jude in Afghanistan (USDOS 15.8.2017).

Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (USDOS 15.8.2017). Der politische Islam behält in Afghanistan die Oberhand; welche Gruppierung - die Taliban (Deobandi-Hanafismus), der IS (Salafismus) oder die afghanische Verfassung (moderater Hanafismus) - religiös korrekter ist, stellt jedoch weiterhin eine Kontroverse dar. Diese Uneinigkeit führt zwischen den involvierten Akteuren zu erheblichem Streit um die Kontrolle bestimmter Gebiete und Anhängerschaft in der Bevölkerung (BTI 2018).

Das afghanische Strafgesetzbuch, das am 15.2.2018 in Kraft getreten ist, enthält keine Definition von Apostasie (vgl. MoJ 15.5.2017). Laut der sunnitisch-hanafitischen Rechtsprechung gilt die Konversion vom Islam zu einer anderen Religion als Apostasie. Jeder Konvertit soll laut islamischer Rechtsprechung drei Tage Zeit bekommen, um seinen Konfessionswechsel zu widerrufen. Sollte es zu keinem Widerruf kommen, gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, während Frauen mit lebenslanger Haft bedroht werden. Ein Richter kann eine mildere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Auch kann die Regierung das Eigentum des/der Abtrünnigen konfiszieren und dessen/deren Erbrecht einschränken. Des Weiteren ist gemäß hanafitischer Rechtssprechung Proselytismus (Missionierung, Anm.) illegal. Dasselbe gilt für Blasphemie, die in der hanafitischen Rechtssprechung unter die Kapitalverbrechen fällt (USDOS 15.8.2017) und auch nach dem neuen Strafgesetzbuch unter der Bezeichnung "religionsbeleidigende Verbrechen" verboten ist (MoJ 15.5.2017: Art. 323). Zu Verfolgung von Apostasie und Blasphemie existieren keine Berichte (USDOS 15.8.2017).

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsale gegen religiöse Minderheiten und reformerische Muslime behindert (FH 11.4.2018).

Anhänger religiöser Minderheiten und Nicht-Muslime werden durch das geltende Recht diskriminiert (USDOS 15.8.2017; vgl. AA 5.2018); so gilt die sunnitisch-hanafitische Rechtsprechung für alle afghanischen Bürger/innen unabhängig von ihrer Religion (AA 5.2018). Wenn weder die Verfassung noch das Straf- bzw. Zivilgesetzbuch bei bestimmten Rechtsfällen angewendet werden können, gilt die sunnitisch-hanafitische Rechtsprechung. Laut Verfassung sind die Gerichte dazu berechtigt, das schiitische Recht anzuwenden, wenn die betroffene Person dem schiitischen Islam angehört. Gemäß der Verfassung existieren keine eigenen, für Nicht-Muslime geltende Gesetze (USDOS 15.8.2017).

Ein Muslim darf eine nicht-muslimische Frau heiraten, aber die Frau muss konvertieren, sofern sie nicht Anhängerin einer anderen abrahamitischen Religion (Christentum oder Judentum) ist. Einer Muslima ist es nicht erlaubt, einen nicht-muslimischen Mann zu heiraten (USDOS 15.8.2017). Ehen zwischen zwei Nicht-Muslimen sind legal, solange das Paar nicht öffentlich ihren nicht-muslimischen Glauben deklariert (HO U.K. 2.2017; vgl. USDOS 10.8.2016). Die nationalen Identitätsausweise beinhalten Informationen über die Konfession des Inhabers/der Inhaberin. Das Bekenntnis zum Islam wird für den Erwerb der Staatsbürgerschaft nicht benötigt (USDOS 15.8.2017). Religiöse Gemeinschaften sind gesetzlich nicht dazu verpflichtet, sich registrieren zu lassen (USDOS 15.8.2017).

Laut Verfassung soll der Staat einen einheitlichen Lehrplan, der auf den Bestimmungen des Islam basiert, gestalten und umsetzen; auch sollen Religionskurse auf Grundlage der islamischen Strömungen innerhalb des Landes entwickelt werden. Der nationale Bildungsplan enthält Inhalte, die für Schulen entwickelt wurden, in denen die Mehrheiten entweder schiitisch oder sunnitisch sind; ebenso konzentrieren sich die Schulbücher auf gewaltfreie islamische Bestimmungen und Prinzipien. Der Bildungsplan beinhaltet Islamkurse, nicht aber Kurse für andere Religionen. Für Nicht-Muslime an öffentlichen Schulen ist es nicht erforderlich, am Islamunterricht teilzunehmen (USDOS 15.8.2017).

Christen berichteten, die öffentliche Meinung stehe ihnen und der Missionierung weiterhin feindselig gegenüber. Mitglieder der christlichen Gemeinschaft, die meistens während ihres Aufenthalts im Ausland zum Christentum konvertierten, würden aus Furcht vor Vergeltung ihren Glauben alleine oder in kleinen Kongregationen in Privathäusern ausüben (USDOS 15.8.2017).

Hindus, Sikhs und Schiiten, speziell jene, die den ethnischen Hazara angehören, sind Diskriminierung durch die sunnitische Mehrheit ausgesetzt (CRS 13.12.2017).

Beobachtern zufolge sinkt die gesellschaftliche Diskriminierung gegenüber der schiitischen Minderheit weiterhin; in verschiedenen Gegenden werden dennoch Stigmatisierungsfälle gemeldet (USDOS 15.8.2017).

Mitglieder der Taliban und des IS töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung (USDOS 15.8.2017; vgl. CRS 13.12.2017, FH 11.4.2018). Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen (USDOS 15.8.2017).

Ethnische Minderheiten

In Afghanistan leben laut Schätzungen vom Juli 2017 mehr als 34.1 Millionen Menschen (CIA Factbook 18.1.2018). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. CIA Factbook 18.1.2018). Schätzungen zufolge sind 40% Paschtunen, rund 30% Tadschiken, ca. 10% Hazara und 9% Usbeken. Auch existieren noch andere ethnische Minderheiten, wie z.B. die Aimaken, die ein Zusammenschluss aus vier semi-nomadischen Stämmen mongolisch-iranischer Abstammung sind, sowie die Belutschen, die zusammen etwa 4% der Bevölkerung ausmachen (GIZ 1.2018; vgl. CIA Factbook 18.1.2018).

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: "Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimaq, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ?Afghane' wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet." (BFA Staatendokumentation 7.2016). Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri (AA 5.2018; vgl. MPI 27.1.2004). Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (USDOS 20.4.2018).

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag besteht fort und wird nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert (AA 5.2018). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 20.4.2018).

Tadschiken

Die Dari-sprachige Minderheit der Tadschiken ist die zweitgrößte (CRS 12.1.2015; vgl. LIP 5.2018) und zweitmächtigste Gemeinschaft in Afghanistan (CRS 12.1.2015). Sie machen etwa 30% der afghanischen Gesellschaft aus (LIP 5.2018). Außerhalb der tadschikischen Kerngebiete in Nordafghanistan bilden Tadschiken in weiten Teilen Afghanistans ethnische Inseln, namentlich in den größeren Städten: In der Hauptstadt Kabul sind sie knapp in der Mehrheit (LIP 5.2018). Aus historischer Perspektive identifizierten sich Sprecher des Dari-Persischen in Afghanistan nach sehr unterschiedlichen Kriterien, etwa Siedlungsgebiet oder Herkunftsregion. Dementsprechend nannten sie sich zum Beispiel kaboli (aus Kabul), herati (aus Herat), mazari (aus Mazar-e Scharif), panjsheri (aus Pajshir) oder badakhshi (aus Badakhshan). Sie konnten auch nach ihrer Lebensweise benannt werden. Der Name tajik (Tadschike) bezeichnete traditionell sesshafte persischsprachige Bauern oder Stadtbewohner sunnitischer Konfession (BFA Staatendokumentation 7.2016).

Der Hauptführer der "Nordallianz", einer politisch-militärischen Koalition, ist Dr. Abdullah Abdullah, dessen Mutter Tadschikin und dessen Vater Pashtune ist (CRS 12.1.2015). Trotz seiner gemischten Abstammung sehen ihn die Menschen als Tadschiken an (BBC 29.9.2014). Auch er selbst identifiziert sich politisch gesehen als Tadschike, da er ein hochrangiger Berater von Ahmad Shah Masoud war (CRS 12.1.2015). Mittlerweile ist er "Chief Executive Officer" in Afghanistan (CRS 12.1.2015); ein Amt, das speziell geschaffen wurde und ihm die Rolle eines Premierministers zuweist (BBC 29.2.2014).

Die Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (Brookings 25.5.2017).

Auszug aus den UNHCR-Richtlinien zu Afghanistan vom 30.08.2018 (bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):

"Internationaler Schutzbedarf

[...]

A. Risikoprofile

8. Frauen und Männer, die vermeintlich gegen die sozialen Sitten verstoßen[...]

[...] Da Anklagen aufgrund von Ehebruch und anderen ?Verstößen gegen die Sittlichkeit' Anlass zu Gewalt oder Ehrenmorden[...] geben können, versuchen die Behörden Berichten zufolge in einigen Fällen, die Inhaftierung von Frauen als Schutzmaßnahmen zu rechtfertigen.[...] Männer, die vermeintlich gegen vorherrschende Gebräuche verstoßen, können ebenfalls einem Misshandlungsrisiko ausgesetzt sein, insbesondere in Fällen von mutmaßlichem Ehebruch und außerehelichen sexuellen Beziehungen.[...] In Gebieten, die sich unter der tatsächlichen Kontrolle der Taliban und anderer regierungsfeindlicher Kräfte (AGEs) befinden, besteht für Frauen und Männer, die unmoralischer Verhaltensweisen bezichtigt werden, das Risiko, über die parallelen Justizstrukturen dieser regierungsfeindlichen Kräfte (AGEs) zu harten Strafen, einschließlich zu Auspeitschung und zum Tod, verurteilt zu werden.

UNHCR ist auf Grundlage der oben dargelegten Begründungen der Ansicht, dass für Personen, die vermeintlich gegen die gesellschaftlichen Sitten verstoßen, - abhängig von den jeweiligen Umständen des Falles - ein Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz aufgrund einer begründeten Furcht vor Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure wegen ihrer Religion, ihrer (ihnen zugeschriebenen) politischen Überzeugung, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder aus anderen relevanten Konventionsgründen, in Verbindung mit der allgemeinen Unfähigkeit des Staates, Schutz vor einer solchen von nichtstaatlichen Akteuren ausgehenden Verfolgung zu bieten, bestehen kann.

[...]"

Auszug aus der Schnellrecherche der Schweizer Flüchtlingshilfe vom 07.06.2017 zu Blutrache und Blutfehden in Afghanistan (bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):

Blutrache und Blutfehde

Ehre und Vergeltung bei Ehrverletzungen (badal) spielen eine zentrale Rolle im paschtunischen Ehrenkodex (Paschtunwali)

In den Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016 weist UNHCR mit Bezug auf verschiedene Quellen darauf hin, dass Vergeltung durch Blutrache auf einem traditionellen Verständnis von Verhalten und Ehre beruht. Eine Blutfehde besteht zwischen zwei Familien, wobei Mitglieder der einen Familie solche der anderen zur Vergeltung einer Tat töten. Die Blutrache sei hauptsächlich eine paschtunische Tradition und im paschtunischen Ehrenkodex (Paschtunwali) verankert, werde aber auch von anderen ethnischen Gruppen praktiziert. Auslöser einer Blutfehde könne ein Mord oder eine ungelöste Streitigkeit sein.

Gemäß einem in den UNHCR-Richtlinien zitierten Landinfo-Bericht vom 1. November 2011, der sich auf eine Publikation von Thomas Barfield, Anthropologe mit Schwerpunkt Afghanistan an der Boston University, aus dem Jahr 2003 beruft, ist Vergeltung (badal) bei verletzter Ehre eine zentrale Institution des Paschtunwali. Thomas Ruttig, Kodirektor des Afghanistan Analysts Network in Kabul, gab am 23. Februar 2017 gegenüber dem Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD) an, bei badal handle es sich um einen Austausch zwischen zwei Familien infolge einer Ehrverletzung. Das Prinzip des badal entspreche dem gesas/gu/sas-Prinzip der Scharia. Laut einem Bericht der Afghanistan Research and Evaluation Unit (AREU) vom Januar 2016 steht der Begriff badal für Austausch und kann sich beispielsweise auch auf den Austausch von zwei Frauen zwischen zwei Familien beziehen, indem eine Tochter aus jeder Familie mit einem Mann aus der jeweils anderen Familie verheiratet wird.

Das Recht auf Rache und die Erwartung einer Vergeltung ist gemäß dem Landinfo- Bericht zentral für das nichtstaatliche Rechtssystem des Paschtunwali. Die Verantwortung für die Bestrafung von immoralischem Verhalten wie Diebstahl, Vergewaltigung oder Mord liege nicht bei der Gemeinschaft, sondern beim Opfer, und Rache sei eine akzeptable Reaktion. Die Grenzen der Legitimität der Rache würden durch lokale Traditionen, die öffentliche Meinung und den Paschtunwali bestimmt. Wird keine Rache ausgeübt, könne dies als moralische Schwäche ausgelegt werden, die auf ganze Familienverbände bezogen werden könne. Sowohl das Anzeigen eines Mordes bei den staatlichen Behörden als auch Verhandlungen über finanzielle Entschädigung mit der Täterfamilie können als Schwäche und als Zeichen ausgelegt werden, dass die Familie nicht stark genug ist, ihre Ehre zu verteidigen. Der Familienverband des Opfers habe eine kollektive Verantwortung, Vergeltung zu üben und die Ehre wiederherzustellen. Laut Angaben eines Vertreters der Peace Training & Research Organization (PTRO) in Kabul gegenüber der SFH vom 1. Juni 2017 ist die Ausübung von Vergeltung auch ein Signal an andere, dass die betroffene Familie stark ist und sich verteidigen kann. Dies gelte unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit.

Blutrache wird überall in Afghanistan sowie von und zwischen allen Volksgruppen praktiziert

Thomas Ruttig, Kodirektor des Afghanistan Analysts Network in Kabul, gab gegenüber der SFH am 30. Mai 2017 folgendes an: Blutrache sei in Afghanistan kein ausschließlich ländliches Phänomen, sondern überall und auch zwischen allen Ethnien möglich. Die kriegsbedingten großen Wanderungsbewegungen vom Land in die Städte hätten dazu beigetragen, dass Gebräuche wie Blutrache auch in den Städten praktiziert würden.

[...]

Keine festen Regeln wie beispielsweise Mindestalter

Blutrache kann auch nach Jahren oder Jahrzehnten ausgeübt werden. Laut Thomas Barfield (30. Mai 2017) zielt eine Blutrache hauptsächlich auf diejenige Person ab, die einer Tat wie beispielsweise eines Mordes bezichtigt wird, unabhängig von ihrem Alter. Unter bestimmten Bedingungen könne gemäß dem Landinfo-Bericht aber auch die Tötung des Bruders des Täters oder eines anderen Verwandten der väterlichen Linie eine Alternative darstellen. Thomas Ruttig (30. Mai 2017) gab an, es gebe keine klaren Regeln für die Ausübung von Blutrache wie beispielsweise ein Mindestalter, ab dem eine Person Ziel einer Blutrache werden könne. [...]

Staatliche Prozesse und traditionelle Bräuche wie Blutrache laufen unabhängig voneinander ab.

Ein Urteil eines staatlichen Gerichts beendet eine Blutrache nicht. Bei staatlichen Prozessen und traditionellen Bräuchen wie der Blutrache handelt es sich gemäß Angaben von Thomas Ruttig (30. Mai 2017) um ?zwei völlig verschiedene Welten'. Laut Thomas Barfield (30. Mai 2017) hat Blutrache keinen Zusammenhang mit formalen rechtlichen Abläufen, sondern ist illegal. Ein Freispruch durch ein Gericht kann gemäß Angaben von Thomas Barfield und Noah Coburn eine Blutrache beenden. Für eine Tat inhaftierte Personen bleiben laut Thomas Barfield (30. Mai 2017) daher über die Inhaftierung hinaus Ziel einer Blutrache durch die Tötung einer Person beendet werden, wobei eine solche Tötung andererseits auch einen neuen Racheakt der Gegenseite auslösen könne. Üblicherweise ende eine Blutrache, wenn beide Seiten einer förmlichen Beendigung durch einen Versöhnungsprozess zustimmten, bei dem Blutgeld gezahlt würde. Gemäß UNHCR (19. April 2016) können Akte der Blutrache auch dann ausgeübt werden, wenn ein Täter bereits im Rahmen des staatlichen Rechtssystems bestraft wurde. Laut Landinfo (1. November 2011) schließt eine Entscheidung im Rechtssystem der Regierung das Risiko einer gewaltsamen Vergeltung nicht notwendigerweise aus. Von der Opferfamilie könne immer noch erwartet werden, dass sie den Mörder nach seiner Entlassung tötet, außer die Fehde sei beigelegt worden. Eine lokale Gemeinschaft betrachte eine Tötung aus Rache, die durch die Tradition legitimiert ist, nicht als ein Verbrechen.

[...]

Schutz durch den Staat

Weit verbreitete Straflosigkeit und Korruption bei den Behörden; Bürgerinnen und Bürger misstrauen der Polizei und fürchten sie

Gemäß den UNHCR-Richtlinien vom 19. April 2016 ergeben sich Afghanistans schwache rechtsstaatliche Strukturen unter anderem aus der sehr weit verbreiteten Korruption und einer Kultur der Straflosigkeit. Urheber von Menschenrechtsverletzungen werden kaum bestraft, und Angehörige von staatlichen Institutionen wie der afghanischen nationalen und der afghanischen lokalen Polizei begehen selbst Menschenrechtsverletzungen, ohne dafür verurteilt zu werden. Staatliche Behörden und Institutionen einschließlich Polizei und Justiz sind auf allen Ebenen von Korruption betroffen. Ein Bericht des Congressional Research Service vom 19. Mai 2017 hebt hervor, dass der Zustand der afghanischen nationalen Polizei von unabhängiger Seite negativ beurteilt wird. Die Korruption habe ein solches Ausmaß erreicht, dass Bürgerinnen und Bürger der Polizei misstrauen und sie fürchten. Unter anderem sei diese auch oft in lokale Streitigkeiten verwickelt. [...]

[...]"

Auszug aus der gutachterlichen Stellungnahme der Ländersachverständigen Mag. MALYAR vom 27.07.2009 zu Blutrache in Afghanistan im Verfahren betreffend einen anderen Asylwerber vor dem Asylgerichtshof, zitiert vom Bundesverwaltungsgericht im Erkenntnis vom 21.01.2016, Zl. W174 1436214-1 (bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):

"Der Rechts- und Ehrenkodex der Paschtunen, der Paschtunwali, zählt zu den sogenannten Stammesgesetzen. Es handelt sich um Normen und Werte zur Anleitung der sozialen Interaktion in der paschtunischen Gesellschaft. Von großer Bedeutung ist das auf die ?Verteidigung der eigenen Interessen' gerichtete Tura-Konzept. Danach lebt das männliche Individuum in einer ihm feindlich gesonnen Umwelt, die ihm jederzeit seine Lebensressourcen (Frauen, Land etc.) und seine Position innerhalb der Gesellschaft streitig machen will. Diese Umstände fordern ein aggressives und kriegerisches Verhalten vom Paschtunen, mit dem er alles verteidigt, ?worauf er einen Anspruch zu machen glauben kann'. Manifestiert wird dieses Weltbild insbesondere in der Forderung nach Badal. Badal bedeutet ?Ausgleich' in der Form von ?Vergeltung nach dem Prinzip, Aug um Aug, Zahn um Zahn, Leben um Leben'. Bei Verlust eines verteidigungsfähigen Mannes einer Gruppe muss ?dem Aggressor ebenfalls eine Verminderung seiner Verteidigungsfähigkeit zugefügt werden, um das vorher bestehende Ausgangsstadium und Gleichgewicht der Kräfte wiederherzustellen'. Zwar beinhaltet das Tura-Konzept auch die Forderung nach Nanawate, das als befriedendes Mittel eingesetzt wird. Doch fördert dieses nur nach erfolgtem Badal das Prestige des Paschtunen, und Angebot und Annahme von Nanawate vor der Vergeltung gelten als Zeichen für Feigheit und Verteidigungsunfähigkeit und haben einen Ehrverlust zur Folge.

Zu den schweren Normverstößen (Terai) zählen insbesondere

1. Tötung oder versuchte Tötung eines Menschen, ob unverschuldet oder verschuldet,

2. Körperverletzung oder versuchte Körperverletzung, d.h. ?jede dauerhafte und nicht dauerhafte Einschränkung eines Individuums in seiner körperlichen Funktionsfähigkeit' und

3. Ehrverletzung oder versuchte Ehrverletzung, d.h. ?der durch Aktionen oder verbale Äußerungen dokumentierte Zweifel an der moralischen und ethischen Integrität des Individuums oder Gemeinwesens'.

Kommt es zu einem Normbruch, so wird dieser vom betroffenen Individuum festgestellt, und die weitere Sanktionierung der Tat liegt in seiner Hand. Die Öffentlichkeit schreitet nicht in den Konflikt ein. Befriedungsversuche scheitern meist. Um ihre Ehre wiederherzustellen und sich nicht der Feigheit verdächtig zu machen, bevorzugen meist beide Parteien die Konfliktlösung durch Badal. Das Badal stellt eine legitime Reaktion dar, wenn es in seinem Ausmaß der Tat gleichgestellt ist. Das erreichte Badal bedeutet jedoch nicht immer das Ende des Konflikts. Eine Reaktion der Gegenpartei bricht zwar erneut mit der Norm, jedoch ist sie im Sinne des Rechts auf Blutrache legitim und wird auch vom Gemeinwesen anerkannt. Aus diesem Grund ist eine Eskalation der Konflikte nicht selten.

Das Paschtunwali führte zu einer Ordnung und bot die Existenzgarantie für die Paschtunen. Ein Teil dieses Kodex, mit modernen Rechtsnormen verwoben, könnte eine zukünftige afghanische Rechtsnorm bilden, die auch einfacher von der afghanischen Gesellschaft akzeptiert werden würde. Viele Elemente des Paschtunwali, z.B. die Jirgas, wurden vom afghanischen Staat übernommen. Als die Amerikaner nach dem 11.09.2001 auf der Suche nach einer Neustrukturierung Afghanistans waren, war es die Loya Jirga, die der Regierung Karzai ihre Legitimität gab.

Im Laufe der Zeit wurde das Paschtunwali überwiegend mündlich, teilweise auch schriftlich fixiert. Die zunächst für die Zusammenarbeit der Stämme und Sippen konzipierten Direktiven des Paschtunwali avancierten nicht nur zu Werten der Gemeinschaft, sondern nahmen auch regulative Funktionen ein. Gesetze wie Gastrecht, Asadi (Freiheit), Esteqlal oder Khpolwaki (Unabhängigkeit) sind in allen afghanischen Volksgruppen und Ethnien vorhanden, allerdings nicht unter dem Begriff Paschtunwali. Über ein straffes Stammesrecht verfügen jedoch nur Turkmenen und Paschtunen.

Die Blutrache ist ein Prinzip zur Sühnung von Verbrechen, indem Tötungen durch Tötungen gerächt werden. Innerhalb der Fehde stellt die Blutrache die ultima ratio der Konfliktbewältigung dar.

Der Ehrenmord bezeichnet die vorsätzliche Tötung bzw. Ermordung eines Menschen, durch die, aus der Sicht des Täters, die Ehre einer bestimmten Person oder einer Personengruppe oder des Getöteten vermeintlich wiederhergestellt werden soll. In der Praxis ist eine klare Unterscheidung oftmals nur schwer möglich, da in vielen Fällen ein Ehrenmord die Ursache für eine Blutrache sein kann. Bei der Blutrache straft die Familie des Opfers den Täter und seine Familie aus der Absicht heraus, die vermeintlich verlorene Familienehre wiederherzustellen. Motive und die Praxis der Blutrache sind eins zu eins auch in Afghanistan zu finden. Auch dort üben die Familie und Angehörigen bzw. der Stamm des Opfers - je nach der Schwere der Tat - Rache an dem Täter, seiner Familie bzw. seinen biologischen männlichen Verwandten oder - im Falle der Ausbreitung des Konfliktes auf die Stammesebene - an den Stammesangehörigen, was eine hohe Anzahl an Opfern fordern kann. Die Tat wird durch den Paschtunwali gerechtfertigt.

Der Staat und die Regierung in Afghanistan waren noch nie in der Lage, im ganzen Land die Selbstjustiz zu verhindern und die Täter zur Verantwortung zu ziehen, besonders nicht in den letzten drei Jahrzehnten, in denen im ganzen Land Kriegszustand herrschte. Durch die kriegerischen Auseinandersetzungen wurden zudem zahlreiche Schulen und Ausbildungszentren zerstört, dementsprechend ist das Bildungsniveau zurückgegangen.

Häufigste Auslöser von Konflikten, die in weiterer Folge Blutrache verursachen, sind bei den Afghanen Sar (Kopf), Zan (Frau) und Zamin (Land). Sar (Kopf) umfasst Tötungsdelikte, Körperverletzungen und Verstöße gegen die Ehre des Individuums oder Gemeinwesens. Nach Tötungen beginnt die Blutrache. Der Täter wird von der Gegner-Familie getötet, oder er flieht und verlässt die Ortschaft. Das trifft meist zu, wenn der Täter behördlich nicht festgenommen und gerichtlich verfolgt wird. Die Gründe und Umstände, unter denen es zu Blutrache kommt, unterscheiden sich im gesamten Land kaum voneinander.

In den paschtunischen Gebieten steht das Gewohnheitsrecht, bedingt durch die Stammesstruktur und deren Gepflogenheiten, meist an erster Stelle. Die Menschen wenden sich dort für gewöhnlich nur dann an den Staat, wenn alle gewohnheitsrechtlichen Bemühungen aussichtslos geblieben sind und ein Konflikt bereits jahrelang andauert. Unterschiede sind allerdings in der Frage nach dem Betroffenenkreis zu beobachten. In den paschtunischen Gebieten breitet sich der Kreis auf die männlichen Verwandten ersten Grades der auf- und absteigende Linie der männlichen Geschwister und deren männlicher Abkömmlinge, weiters auf Onkel und deren Söhne, Cousins und deren Söhne und sogar auf diejenigen, die dem Feind Schutz gewährt haben, aus. Dieselbe Verwandtschaftslinie ist auch bei der verfeindeten Partei betroffen. Das ist der Grund, warum sich Konflikte, die länger dauern, zunächst auf die Ebene des Dorfes und in weiterer Folge auf die Stammesebene ausbreiten. In Norden, Nordosten sowie dem Zentrum des Landes, die von anderen afghanischen Volksgruppen besiedelt sind, ist der Betroffenenkreis auf den Vater, den Bruder und dessen Söhne sowie den Onkel und dessen Söhne beschränkt.

In Nord- und Zentralafghanistan fühlen sich die Menschen zur Selbstjustiz verpflichtet, wenn die Zentralregierung zu schwach ist, um den Menschen den notwendigen Schutz zu gewähren und ihre Rechte zu sichern. Somit kann eine Verpflichtung zur Blutrache entstehen. Der Gesellschaftsdruck ist ähnlich groß wie in den paschtunischen Gebieten. Die Pflicht zur Blutrache wird de facto von der Gemeinschaft vorgeschrieben. Gleiches gilt für den Nordosten. Um den Namen und die Ehre der Familie zu schützen, wird die Blutrache verübt, und zwar als Pflicht. Es ist in dieser Provinz, die auch teilweise von Paschtunen besiedelt ist, und unter den Paschtunen zum großen Teil üblich, dass, wenn es dem Betroffenen in seinem Leben nicht gelingt, Rache zu nehmen, diese Verpflichtung an seine Kinder übertragen wird. Diese sind dann verpflichtet, die Rache, die der Vater zu Lebzeiten nicht nehmen konnte, auszuführen.

Zur Annahme einer Kompensationszahlung (Nek) ist die Opfer-Familie im Falle einer Tötung meist nur bereit, wenn sie zu schwach ist, um eine legitime Rache mit den daraus folgenden Reaktionen der gegnerischen Gruppe durchzufechten, denn nur dann wäre die Annahme der Zahlung ohne Prestigeverlust möglich. Auch die Täter-Familie wird in der Regel das Zahlen eines Nek weit von sich weisen, um nicht in den Verdacht der Feigheit zu kommen und mit dem Vorwurf konfrontiert zu werden, Angst vor der Badal-Reaktion der Gegner zu haben. Nur im Falle eines offensichtlichen und eindeutigen Unglücksfalles kann Zahlung und Annahme eines Nek auf eine Ersttötung ohne Prestigeverlust für beiden Seiten erfolgen.

Zwischen der letzten Aktion innerhalb der Auseinandersetzung und Konfliktbeilegung vergehen in der Regel mehrere Jahre, denn die Parteien warten auf den richtigen Moment und zeigen meist keine Eile. Nach der Ausübung des Racheaktes, durch den die Ehre wiederhergestellt wird, ist es möglich, dass die Familie wieder an den Geburtsort bzw. Hauptwohnsitz zurückkehrt. Wenn sie aber weiterhin nicht in der Lage ist, neben dem mächtigen Feind zu leben, wird sie die Gegend für immer verlassen. In den Städten wenden sich die Familien auch an die staatlichen Behörden. Wenn ihre Erwartungen nicht erfüllt werden, kommt zum Schutz der Familienehre wieder Selbstjustiz in Betracht.

Vor dem Krieg war es dem Staat möglich, sich in diese Konflikte einzumischen und somit die Kämpfe einzudämmen. Nachdem die jeweiligen Zentralregierungen in den letzten drei Jahrzehnten jedoch nicht in der Lage waren, das ganze Land unter ihre Kontrolle zu bringen, sowie aufgrund des andauernden Kriegszustandes und einer nicht funktionierenden Staatsgewalt, kommt es immer öfter zu Fällen von Selbstjustiz, und die regionalen Machthaber bzw. Kommandanten haben das Sagen."

Auszug aus der gutachterlichen Stellungnahme der Ländersachverständigen Mag. MALYAR vom 23.09.2017 zur Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit von afghanischen Behörden im Verfahren betreffend einen anderen Asylwerber vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Zl. W246 2137371-1 (bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):

"[...]

[Fragestellung des Gerichts:] Ist in Afghanistan im Allgemeinen Schutzfähig- und Schutzwilligkeit des Polizei- und Justizapparats vor Gewalthandlungen durch Privatpersonen vorhanden?

In der Strategie der westlichen Besatzer, bis 2014 durch Aufrüstung der afghanischen Sicherheitskräfte, kommt der afghanischen Polizei eine wichtige Rolle zu: Sie soll die vom Militär befreiten Gebiete halten und die Sicherheit garantieren, die für einen zivilen Aufbau notwendig ist. Die afghanische Polizei sowie der Justizapparat sind jedoch als hochgradig korrupt bekannt. Der schlechte Ruf der Sicherheitskräfte und der Justiz ist seit Jahren konstant. Somit sind Justiz und Polizei weiterhin häufig schlecht ausgestattet und ausgebildet.

Diese mangelhafte Ausbildung der Polizisten stellt ein großes Problem dar. Beim Aufbau des Polizeiapparates wurde lange Zeit die Quantität der Qualität bevorzugt. Dennoch sind die Armee und Polizei gewachsen. Allerdings sind bei der Besetzung höherer Stellen innerhalb der Polizei persönliche Beziehungen wichtiger als der professionelle Hintergrund. Auch die schlechte Ausrüstung wurde immer wieder bemängelt, so fehlt es beispielsweise vielen Polizisten an Munition und Fahrzeugen.

All dies führt dazu, dass weder die Polizei noch die Justiz wirklich in der Lage sind, der Bevölkerung Schutz zu gewähren.

[...]"

2. Beweiswürdigung:

Die Länderfeststellungen gründen auf den jeweils angeführten Länderberichten angesehener staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen. Angesichts der Seriosität der Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln, sodass sie den Feststellungen zur Situation in Afghanistan zugrunde gelegt werden konnten.

Die Feststellung zum Namen des Beschwerdeführers folgt aus seinen dahingehenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, dem Bundesamt und dem Bundesverwaltungsgericht. Die Feststellungen zur Staats-, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit des Beschwerdeführers gründen sich auf seine auch diesbezüglich glaubhaften Angaben; das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen - im gesamten Verfahren gleich gebliebenen und sich mit den Länderberichten zu Afghanistan deckenden - Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln. Die Feststellungen zu seinem Geburtsort, seinen Aufenthaltsorten in Europa, seinem beruflichen Werdegang, seiner Ausreise und seinen Familienangehörigen ergeben sich aus seinen im Verfahren getätigten, im Wesentlichen gleichlautenden und daher glaubhaften Angaben. Das Datum der Antragstellung ergibt sich aus dem Akteninhalt.

Die Feststellung zur strafgerichtlichen Verurteilung des Beschwerdeführers ergibt sich aus dem vom Bundesverwaltungsgericht eingeholten Strafregisterauszug.

Zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers ist Folgendes festzuhalten:

Die Feststellungen zu der gegen den Willen der Brüder der Beschwerdeführerin und jenes Kommandanten, der diese ehelichen wollte, geschlossenen Ehe ergeben sich aus den sehr detaillierten, glaubhaften und während des gesamten Verfahrens gleichbleibenden Angaben des Beschwerdeführers.

Auch dem Bescheid des Bundesamtes ist nicht zu entnehmen, dass das Bundesamt die Angaben des Beschwerdeführers zu seinen Fluchtgründen für nicht glaubwürdig erachtete. Vielmehr begründete es seine Entscheidung damit, dass der Beschwerdeführer zwar möglicherweise subjektiv empfundene Furcht verspürt haben will, doch aufgrund der bis dato vergangenen Zeitdauer von keiner aktuellen Verfolgungsgefährdung die Rede sein könne.

Dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der Eheschließung mit jener Frau, die deren Brüder einem Taliban-Kommandanten versprochen hatten, die Gefahr eines Ehrenmordes seitens der genannten Personen drohen würde, ergibt sich aus den diesbezüglich glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers im gesamten Verfahren, zumal er auch Verfolgungshandlungen seiner Gegner geltend machte. Diese stimmen auch mit dem in das Verfahren eingeführten - unbedenklichen - Länderberichtsmaterial überein, wonach auch Männer, die - wie der Beschwerdeführer - ein solches Verhalten setzen, vermeintlich gegen in Afghanistan vorherrschende Gebräuche verstoßen und deshalb einem Misshandlungsrisiko ausgesetzt sein können.

3. Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt Einzelrichterzuständigkeit vor.

Gemäß § 1 VwGVG regelt dieses Bundesgesetz das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der BAO, des AgrVG und des DVG und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte. Entgegenstehende Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht sind, bleiben unberührt (§ 58 Abs. 2 VwGVG, in der Fassung BGBl. I Nr. 122/2013).

§ 1 BFA-VG, BGBl I 2012/87 idF BGBL I 2013/144 bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG 2005 und FPG bleiben unberührt. Gemäß §§ 16 Abs. 6 und 18 Abs. 7 BFA-VG sind die §§ 13 Abs. 2 bis 5 und 22 VwGVG nicht anwendbar.

Mit 01.01.2006 ist das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl in Kraft getreten (AsylG 2005) und ist auf die ab diesem Zeitpunkt gestellten Anträge auf internationalen Schutz, sohin auch auf den vorliegenden, anzuwenden.

Zu A)

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK), droht.

Als Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist nach ständiger Rechtsprechung des VwGH die "wohlbegründete Furcht vor Verfolgung" (vgl. VwGH 22.12.1999, Zl. 99/01/0334; 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131; 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011). Eine solche liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 21.09.2000, Zl. 2000/20/0286).

Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen (VwGH 24.11.1999, Zl. 99/01/0280). Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 19.12.1995, Zl. 94/20/0858; 23.09.1998, Zl. 98/01/0224; 09.03.1999, Zl. 98/01/0318;

09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 06.10.1999, Zl. 99/01/0279 mwN;

19.10.2000, Zl. 98/20/0233; 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131;

25.01.2001, Zl. 2001/20/0011).

Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen muss (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0318

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten