TE Bvwg Erkenntnis 2020/5/4 W191 2178953-2

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Veröffentlicht am 04.05.2020
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Entscheidungsdatum

04.05.2020

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §15b Abs1
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
AVG §68 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52
FPG §53
FPG §55

Spruch

W191 2178953-2/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwältin Mag. Julia Kolda, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.08.2019, Zahl 15-1098314608-190468934, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 09.12.2019 zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird gemäß § 68 Abs. 1 AVG, §§ 10 und 57 Asylgesetz 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG sowie §§ 52, 53 und 55 Fremdenpolizeigesetz 2005 sowie § 15b Abs. 1 Asylgesetz 2005 stattgegeben und der angefochtene Bescheid behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

1. Verfahrensgang:

1.1. Vorverfahren:

1.1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste irregulär und schlepperunterstützt in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 23.11.2015 einen (ersten) Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).

1.1.2. Bei seiner Erstbefragung am 09.12.2015 vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie bei seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) am 31.10.2017, jeweils im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari, machte der BF Angaben zu seiner Person, zu seinen Lebensumständen, zu seiner Reise und zu seinen Fluchtgründen.

Der BF gab an, er stamme aus der Provinz Ghazni, sei Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, sunnitischer Moslem und verheiratet. Er habe zwei Kinder.

Er habe in Afghanistan gemeinsam mit seinem ebenfalls in Österreich asylsuchenden Bruder ein Gasthaus/Hotel geführt, in dem ein fünfzehnjähriger Bursche Hilfsarbeiten in der Küche ausgeführt habe. Eines Tages sei in der Küche ein Feuer ausgebrochen und der Bursche sei dabei verstorben. Der BF und sein Bruder seien geflohen, da sie von der Familie des Verstorbenen für den Tod verantwortlich gemacht und wegen Blutrache mit dem Tod bedroht würden.

1.1.3. Mit Bescheid vom 07.11.2017 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 23.11.2015 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (in der Folge FPG). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI. [Anmerkung: richtig: IV.]).

Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF sein Fluchtvorbringen nicht habe glaubhaft machen können, was im Wesentlichen mit vagen Angaben und mehreren angeführten Unstimmigkeiten begründet wurde. Eine Rückkehr des BF in sein in der Provinz Ghazni gelegenes Heimatdorf sei entsprechend den Länderfeststellungen nicht "zumutbar", jedoch sei ihm "jedenfalls" eine Rückkehr in die Hauptstadt Kabul zumutbar. Der BF verfüge sowohl über eine Schulausbildung als auch über Arbeitserfahrung und sei in einem arbeitsfähigen Alter. Es sei ihm zuzumuten, sich mit Hilfe der eigenen Arbeitsleistung und der Unterstützung von Angehörigen den Lebensunterhalt in Afghanistan zu sichern.

1.1.4. Mit Schreiben seines damaligen anwaltlichen Vertreters vom 27.11.2017 erhob der BF Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) und wendete zusammengefasst ein, dass die Rechtsansicht der belangten Behörde verfehlt sei. Diese habe sich nicht ausreichend mit dem Sachverhalt auseinandergesetzt. Im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan sei der BF mit einer ausweglosen Lage konfrontiert und aufgrund der derzeit schlechten Sicherheits- und Versorgungslage einer realen Gefahr der Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur Konvention ausgesetzt.

1.1.5. Mit Schreiben vom 21.03.2018 legte der Vertreter des BF den Bescheid des BFA betreffend den Bruder des BF vor und wies darauf hin, dass diesen betreffend ebenfalls ein Beschwerdeverfahren beim BVwG anhängig sei.

1.1.6. Das BVwG führte am 22.03.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari durch, zu der der BF im Beisein seines Vertreters, seines Bruders, einer Vertrauensperson und zweier stellig gemachter Zeugen persönlich erschien.

1.1.7. Zu den vom BVwG dabei in das Verfahren eingebrachten Länderberichten nahm der BF mit Eingabe seines Vertreters vom Stellung und führte aus, er laufe bei einer Rückkehr nach Afghanistan Gefahr, der Blutrache ausgesetzt zu werden.

1.1.8. Mit Erkenntnis vom 30.03.2018, W210 2178953-1/9E, wies das BVwG die Beschwerde des BF vom 27.11.2017 als unbegründet ab. In der Begründung traf das Gericht Feststellungen zur Person des BF und zur Lage im Herkunftsstaat. Beweiswürdigend wurde das Vorbringen des BF als unglaubhaft beurteilt und dies im Wesentlichen mit angeblich unstimmigen bzw. widersprüchlichen Aussagen des BF und seines Bruders zum Namen des Verstorbenen, zur Frage, ob es sich bei dem Lokal um ein Hotel oder um ein Gasthaus gehandelt habe sowie zur Frage, ob es sich um Miet- oder Pachtverhältnis gehandelt habe, begründet. Hinsichtlich des Aufenthaltsorts der Ehefrau und der Kinder des BF wurde festgestellt, dass sich diese in Maidan Wardak bei den Schwiegereltern des BF aufhalten würden. Der BF sei gesund, benötige keine medizinische Behandlung, weise keine spezifischen Vulnerabilitäten auf und es stehe ihm die Stadt Kabul als innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung.

1.2. Gegenständliches Verfahren:

1.2.1. Am 08.05.2019 stellte der BF, nachdem er zwischenzeitlich in die Schweiz weitergeflüchtet war und sich dort in den Jahren 2018 und 2019 jeweils drei Monate aufgehalten hatte und am 16.04.2019 zur "Durchsetzung und Effektuierung Ausreiseentscheidung" festgenommen worden war, einen (zweiten, Folge-) Antrag auf internationalen Schutz.

1.2.2. Bei seiner Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 08.05.2019 und seiner Einvernahme vor dem BFA am 28.05.2019, jeweils im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari, gab der BF an, dass sich die Lage in Afghanistan verschlechtert habe. Seine Feinde hätten seine Familie bedroht. Sie gehörten den Taliban an und hätten von seiner Familie verlangt, dass er zurückkomme. Seine Familie hätte deswegen vor ca. einem Jahr Afghanistan verlassen und nach Pakistan flüchten müssen. Wenn er nach Afghanistan zurückkehre, werde er getötet. Seine Familie rufe ihn ca. alle zwei Monate an.

Der BF gab an, dass er mehrere Medikamente nehme, um schlafen zu können, und legte diese vor. Er habe psychische Störungen. In seiner Freizeit betreibe er Sport und lese Bücher. Er habe österreichische Freunde - die auch als Vertrauenspersonen bei seiner Einvernahme anwesend waren - und arbeite mit ihnen ehrenamtlich im Verein IGOR mit.

Der BF legte Belege zu seiner Integration (Zeugnis Integrationsprüfung, Kurs- und sonstige Bestätigungen, Empfehlungsschreiben) und zu seiner Gesundheit (Ambulanter Patientenbrief des AKH Wien vom 06.03.2019, wonach der BF Schlafstörungen, Kopfschmerzen und massive Ängste habe und medikamentös eingestellt worden sei) vor.

1.2.3. Am 17.06.2019 fand beim BVwG die öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung betreffend den Bruder des BF, XXXX , statt, in der sich herausstellte, dass die Angaben des Bruders in allen wesentlichen Punkten mit jenen des BF übereinstimmten.

1.2.4. Mit Bescheid vom 02.08.2019, Zahl 15-1098314608-190468934, wies das BFA den Folgeantrag des BF vom 08.05.2019 gemäß § 68 Abs. 1 AVG hinsichtlich des Status des Asylberechtigten sowie des subsidiär Schutzberechtigten wegen entschiedener Sache zurück (Spruchpunkte I. und II.). Eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz wurde ihm gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). In den Spruchpunkten IV., V. und VI. wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1a FPG bestehe keine Frist für die freiwillige Ausreise des BF. In Spruchpunkt VII. wurde gegen den BF eine auf die Dauer von "2" [zwei] Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen und ihm in Spruchpunkt VIII. gemäß § 15b Abs. 1 AsylG aufgetragen, ab 08.05.2019 in einem bestimmten Quartier (in Traiskirchen) Unterkunft zu nehmen.

Zum Fluchtvorbringen des BF wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass sich dieses auf das bereits rechtskräftig im Vorverfahren als unglaubhaft beurteilte damalige Fluchtvorbringen bezöge, das um ein unglaubhaft gesteigertes Verfolgungsvorbringen ergänzt worden sei. Da somit kein neuer entscheidungsrelevanter Sachverhalt feststellbar sei, sei der Folgeantrag wegen entschiedener Sache zurückzuweisen. Es habe sich auch nicht ergeben, dass der BF an einer schweren psychischen Störung leide, er sei weder in ärztlicher Behandlung, noch seien "ausstehende Therapien in Aussicht". Der BF habe in Österreich keine sozialen Kontakte, die ihn an Österreich binden würden und lebe ein Großteil seiner Angehörigen lebe noch immer in seinem Heimatland. Es bestehe durch die erlassene Entscheidung kein unverhältnismäßiger Eingriff in Rechte gemäß Art. 3 und 8 EMRK.

Die Erlassung eines Einreiseverbotes begründete das BFA mit dem Umstand, dass der BF nicht freiwillig ausgereist sei und somit offensichtlich nicht bereit sei, die österreichische Rechtsordnung zu beachten, und auf seine Mittellosigkeit.

Die Anordnung der Unterkunftnahme begründete das BFA damit, dass sich sein Antrag auf einen "Staat gemäß § 19 BFA-VG (sicherer Herkunftsstaat)" beziehe und von ihm keine Verfolgungsgründe vorgebracht worden seien.

1.2.5. Mit Schreiben seines damals zur Vertretung bevollmächtigten Rechtsberaters vom 20.08.2019 brachte der BF gegen diesen Bescheid fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde an das BVwG ein. Er verwies darauf, dass in der Beschwerdeverhandlung beim BVwG am 17.06.2019 betreffend den Bruder des BF die vermeintlichen Widersprüche zwischen den Angaben der Brüder (etwa der Name des Todesopfers) aufgeklärt worden seien. Weiters habe die belangte Behörde den Gesundheitszustand nicht hinreichend berücksichtigt und überprüft. Die Begründung eines Einreiseverbotes mit Mittellosigkeit gehe fehl, da er über keine Arbeitserlaubnis verfüge. Bezüglich sozialer Bindungen in Österreich sei nicht hinreichend berücksichtigt worden, dass der Bruder des BF als subsidiär Schutzberechtigter [Anmerkung: inzwischen als Asylberechtigter] in Österreich aufhältig sei und den BF unterstütze.

Beigelegt war der Beschwerde eine Statutory Declaration (Eidesstattliche Erklärung) der Frau des Bruders des BF vor einem Notar in Quetta (Pakistan) in englischer Sprache vom 24.07.2019, in der sie die Angaben des BF bestätigte und angab, dass sie mit ihren Kindern vor dreieinhalb Monaten aus Afghanistan geflohen sei. Über den Verbleib des Vaters des BF (und seines Bruders) wüssten sie nach wie vor nicht Bescheid. Sie lebe in Gefahr und Armut und habe diese Erklärung unter vielen Schwierigkeiten erstellt.

Beantragt wurde unter anderem die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.

1.2.6. Das BFA legte diesen Bescheid samt Verfahrensakten vor und beantragte, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.

1.2.7. Mit Teilerkenntnis vom 26.08.2019, Zahl W2191 2178953-2/3Z, erkannte das BVwG dieser Beschwerde gemäß § 18 Abs. 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zu.

In der Entscheidungsbegründung wurde dazu im Wesentlichen ausgeführt, dass aus der dem BVwG zum derzeitigen Entscheidungszeitpunkt zur Verfügung stehenden Aktenlage nach Durchführung einer Grobprüfung eine Verletzung der genannten, durch die EMRK garantierten Rechte bei einer Rückführung des BF nach Afghanistan aufgrund der besonderen Gegebenheiten im konkreten Fall angesichts der kurzen Entscheidungsfrist nicht mit der in diesem Zusammenhang erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden könne.

1.2.8. Mit Erkenntnis vom 16.10.2019 gab das BVwG der Beschwerde des Bruders des BF statt, erkannte ihm gemäß § 3 Abs. 1 AsylG den Status des Asylberechtigten zu und stellte fest, dass ihm damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.

1.2.9. Das BVwG führte am 09.12.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari durch, zu der der BF mit seiner nunmehrigen anwaltlichen Vertreterin und einer Vertrauensperson sowie eine Mitarbeiterin des BFA persönlich erschienen.

Dabei bestätigte der BF seine bisherigen Angaben zu seiner Person, zu seiner Integration und zu seiner Gesundheit und nahm auf sein neu hinzugekommenes Fluchtvorbringen Bezug. Seine Familie lebe nunmehr in Pakistan und er habe erst seit ca. eineinhalb Jahren wieder Kontakt zu ihnen. Sie habe Afghanistan verlassen müssen, da sie von Angehörigen des verbrannten Jungen öfters aufgesucht, nach Informationen betreffend den BF gefragt und mit dem Umbringen bedroht worden sei. Weiters beantwortete er Fragen des erkennenden Richters (sowie des BFA und seiner Vertreterin) zu den angeblich tragenden Gründen für die Abweisung seines Antrages im Vorverfahren (Name des Verstorbenen, Gasthaus oder Hotel, Miete oder Pacht) nachvollziehbar und schlüssig und konnte dabei auch scheinbare Widersprüche plausibel entkräften.

Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).

Dem BFA wurden die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt. Es hat dazu keine Stellungnahme abgegeben.

1.2.10. Mit Schreiben seiner Vertreterin vom 30.01.2020 legte der BF eine ergänzende Stellungnahme und sowie eine ärztliche Einschätzung eines Facharztes für Psychiatrie des Krankenhauses Hietzing vom 28.01.2020 vor, wonach der BF an anhaltender und ernstlicher Bedrohungslage gelitten habe, die unter engmaschiger psychotherapeutischer und medikamentöser Betreuung sowie durch persönliche Unterstützungsangebote des Vereines IGRO in intensiver Freiwilligenarbeit letztlich aufgefangen werden hätte können und in den letzten Monaten zu einer deutlichen Stabilisierung geführt hätte. Seine Besserung sei auch dem Umstand geschuldet, dass sein Fall nochmals verhandelt werde und er doch noch nicht abgeschoben worden sei. Im Falle seiner Rückbringung nach Afghanistan bestehe aus fachlicher Sicht die ernstliche und erhebliche Gefahr eines Rückfalls in sein selbstgefährdendes Verhalten mit Suizid als möglichem und wahrscheinlichem Ausgang aufgrund einer langjährigen posttraumatischen Entwicklung.

Weiters beigelegt war dieser Eingabe ein Notarized Statement (Eidesstattliche Erklärung) der Ehefrau des BF vor einem Notar in Quetta (Pakistan) vom 26.12.2019. Darin bestätigt sie, dass sie in Ghazni seit der Flucht ihres Ehemannes verfolgt worden seien und vor eineinhalb Jahren ihr Land hätten verlassen müssen. Nun lebe sie mit ihren beiden Kindern in Quetta (unter Anführung ihrer Adresse), ohne dort jemanden zu kennen. Ihre genaue Adresse habe sie bisher aus Angst niemandem angegeben.

Mit weiterer ergänzender Stellungnahme seiner Vertreterin vom 25.03.2020 führte der BF aus, dass er nach dem fluchtauslösenden Vorfall sofort habe flüchten müssen, ohne mit seiner Frau Kontakt aufnehmen zu können. Erst nachdem er im April 2019 aus der Schweiz zurückgekommen sei, sei es ihm gelungen, auf Facebook die Schwester seiner Frau ausfindig zu machen und sie zu kontaktieren. Über sie habe er erfahren, dass seine Frau mit den Kindern Afghanistan habe verlassen müssen und nun in Pakistan lebe. Die Schwägerin habe ihm eine Telefonnummer seiner Frau gegeben, und er habe nach ca. fünf Jahren erstmals wieder mit seiner Frau (über WhatsApp) sprechen können. Seine Frau habe immer noch große Angst vor den Verfolgern, die ihren Mann suchten, und habe ihm nicht sagen wollen, wo genau sie sich aufhielte. Er habe auch nicht weiter nachgefragt. Das Wichtigste für ihn war zu wissen, dass seine Familie lebte und sie wieder Kontakt hätten. Erst nach seiner mündlichen Beschwerdeverhandlung habe er sie nach Rücksprache mit seiner anwaltlichen Vertreterin - die ihm dabei behilflich gewesen sei - wieder kontaktiert, um sie um eine Stellungnahme bzw. Eidesstattliche Erklärung zu ersuchen. Zuvor sei er dazu nicht in der Lage gewesen.

Auch diese Stellungnahmen wurde dem BFA übermittelt. Es hat auch dazu keine Stellungnahme abgegeben.

2. Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

* Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragungen am 09.12.2015 und 08.05.2019 und der Einvernahmen vor dem BFA am 31.10.2017 und 28.05.2019, die vom BF vorgelegten Belege zu seiner Gesundheit und zu seiner Integration sowie die Beschwerden ohne Datum gegen den Bescheid 07.11.2017, eingebracht am 28.11.2017, sowie vom 20.08.2019 gegen den Bescheid vom 02.08.2019

* Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren

* Einsicht in die Gerichtsakten des BVwG zum gegenständlichen Verfahren sowie zum wiederaufgenommenen Vorverfahren (Niederschrift der Beschwerdeverhandlung am 22.03.2018, Erkenntnis vom 30.03.2018)

* Einvernahme des BF und Befragung seiner Vertrauensperson im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 09.12.2019 sowie Einsicht in die vom BF im Beschwerdeverfahren vorgelegten Belege zu seiner Identität (zwei Schulzeugnisse des BF, Tazkira seines Vaters), zu seinem Fluchtvorbringen (Anzeige seiner Mutter betreffend die Entführung des Vaters des BF), zu seiner Gesundheit, seinen Integrationsbemühungen und zu seinem Fluchtvorbringen (Eidesstattliche Erklärung seiner Ehefrau vor einem Notar in Quetta, Pakistan, vom 26.12.2019)

* Einsicht in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vom BVwG zusätzlich eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:

- Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat sowie in der Provinz Ghazni, zur Lage der Hazara und zur Religionsfreiheit (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019)

- Gutachterliche Stellungnahme von Mag. Zerka Malyar vom 27.07.2009 vor dem Asylgerichtshof zu: "Blutrache und Ehrenmord in Afghanistan", zitiert vom BVwG im Erkenntnis vom 21.01.2016, Zahl W174 1436214-1)

3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):

Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:

3.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF ist Dari, er versteht darüber hinaus auch Paschtu.

3.2. Der BF stammt aus XXXX , Distrikt Jaghuri, Provinz Ghazni, Distrikt Qarghayi, Provinz Laghman, Afghanistan. Er hat vier Jahre die Schule besucht und ist verheiratet. Seine Tochter ist neun Jahre, sein Sohn fünf Jahre alt. Seine Familie musste nach Abschluss des Vorverfahrens in Folge der angegebenen Fluchtgründe ebenfalls aus Afghanistan fliehen und lebt seit Sommer 2018 alleine in Quetta (Pakistan). Der BF hat erst seit etwa April 2019 wieder Kontakt zu seiner Familie.

3.3. Der BF leidet an psychischen Problemen, wobei der Verlauf von einem Facharzt der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses phasenweise als kritisch beschrieben wird. Im Falle seiner Rückbringung nach Afghanistan besteht aus fachlicher Sicht die ernstliche und erhebliche Gefahr eines Rückfalls in sein selbstgefährdendes Verhalten mit Suizid als möglichem und wahrscheinlichem Ausgang aufgrund einer posttraumatischen Entwicklung.

3.4. Der BF bemüht sich in Österreich ernsthaft um seine Integration. Er verfügt über Kenntnisse der deutschen Sprache, hat die Integrationsprüfung (Deutsch A2) abgelegt und hat viele soziale Kontakte. Er hat ehrenamtliche Tätigkeiten im Verein IGOR ausgeübt, betreibt Sport und hat Kontakt mit seinem in Wien lebenden asylberechtigten Bruder.

4. Beweiswürdigung:

Der Beweiswürdigung liegen folgende maßgebende Erwägungen zugrunde:

Der Verfahrensgang ergibt sich aus den zur gegenständlichen Rechtssache vorliegenden Verfahrensakten des BFA und des BVwG.

Die Feststellungen zur Identität des BF ergeben sich aus seinen Angaben vor dem BFA, in den Beschwerden und in den mündlichen Verhandlungen vor dem BVwG sowie aus den vorgelegten Schriftstücken (Tazkira, Eidesstattliche Erkärung seiner Ehefrau) sowie aus den Angaben seines in Österreich asylberechtigten Bruders.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit und Herkunft, insbesondere zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit sowie zu den Lebensumständen des BF, stützen sich auf die glaubhaften Angaben des BF im Verfahren vor dem BFA und im Beschwerdeverfahren sowie in den mündlichen Verhandlungen vor dem BVwG, auf die Kenntnis und Verwendung der Sprache Dari (bzw. Paschtu) sowie die Kenntnis der geografischen Gegebenheiten Afghanistans.

Dass sich die Familie des BF mittlerweile in Pakistan aufhält, ergibt sich aus den Angaben des BF im Verfahren sowie der im Beschwerdeverfahren vorgelegten Eidesstaatlichen Erklärung der Ehefrau.

Die psychischen Probleme des BF und seine zu erwartende gesundheitliche Situation im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan ergeben sich aus einem ambulanten Patientenbrief des AKH Wien vom 06.03.2019 sowie eines Schreibens eines Facharztes der psychiatrischen Abteilung des Krankenhauses Hietzing vom 28.01.2020.

Die Feststellungen zu den Integrationsbemühungen des BF ergeben sich aus den vorgelegten Bestätigungen.

5. Rechtliche Beurteilung:

5.1. Anzuwendendes Recht:

Gegenständlich sind die Verfahrensbestimmungen des AVG, des BFA-VG, des VwGVG und jene im AsylG enthaltenen sowie die materiellen Bestimmungen des AsylG in der geltenden Fassung samt jenen Normen, auf welche das AsylG verweist, anzuwenden.

Mit 01.01.2006 ist das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl in Kraft getreten (AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 in der geltenden Fassung) und ist auf die ab diesem Zeitpunkt gestellten Anträge auf internationalen Schutz, sohin auch auf den vorliegenden, anzuwenden.

Gemäß § 6 Bundesverwaltungsgerichtsgesetz - BVwGG, BGBl. I Nr. 10/2013 in der geltenden Fassung, entscheidet das BVwG durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

§ 10 VwGVG lautet:

Werden in einer Beschwerde neue Tatsachen oder Beweise, die der Behörde oder dem Verwaltungsgericht erheblich scheinen, vorgebracht, so hat sie bzw. hat es hievon unverzüglich den sonstigen Parteien Mitteilung zu machen und ihnen Gelegenheit zu geben, binnen angemessener, zwei Wochen nicht übersteigender Frist vom Inhalt der Beschwerde Kenntnis zu nehmen und sich dazu zu äußern.

Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 des BFA-Verfahrensgesetzes (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012 in der geltenden Fassung, entscheidet über Beschwerden gegen Entscheidungen (Bescheide) des BFA das BVwG.

Gemäß § 27 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen.

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn

1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Gemäß § 15 AsylG hat der Asylwerber am Verfahren nach diesem Bundesgesetz mitzuwirken und insbesondere ohne unnötigen Aufschub seinen Antrag zu begründen und alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen.

Gemäß § 18 AsylG hat die Behörde in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Bescheinigungsmittel für die Angaben bezeichnet oder die angebotenen Bescheinigungsmittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen. Erforderlichenfalls sind Bescheinigungsmittel auch von Amts wegen beizuschaffen.

5.2. Rechtlich folgt daraus:

5.2.1. Die gegenständliche, zulässige und rechtzeitige Beschwerde wurde am 20.08.2019 beim BFA eingebracht und ist nach Vorlage am 23.08.2019 beim BVwG eingegangen. Da in den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen eine Senatszuständigkeit nicht vorgesehen ist, obliegt in der gegenständlichen Rechtssache die Entscheidung dem nach der jeweils geltenden Geschäftsverteilung des BVwG zuständigen Einzelrichter.

Das Verfahren vor dem BFA wurde im Wesentlichen ordnungsgemäß geführt, wenngleich das erkennende Gericht - wobei allerdings Beweismittel auch erst im Zuge des Beschwerdeverfahrens vorgelegt worden sind - zu einer anderen Beurteilung der Glaubhaftigkeit des neu vorgebrachten Fluchtvorbringens des BF gelangt ist.

Zu Spruchteil A):

5.2.2. Zu Spruchpunkt I. und II. der gegenständlichen Entscheidung:

5.2.2.1. Mit Bescheid des BFA wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 08.05.2019 gemäß § 68 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen.

Gemäß § 68 Abs. 1 AVG sind Anbringen von Beteiligten, die außer den Fällen der §§ 69 und 71 AVG die Abänderung eines der Beschwerde nicht oder nicht mehr unterliegenden Bescheides begehren, wegen entschiedener Sache zurückzuweisen, wenn die Behörde nicht Anlass zu einer Verfügung gemäß § 68 Abs. 2 bis 4 AVG findet. Diesem ausdrücklichen Begehren auf Abänderung steht ein Ansuchen gleich, das bezweckt, eine Sache erneut inhaltlich zu behandeln, die bereits rechtskräftig entschieden ist (VwGH 30.09.1994, 94/08/0183; VwGH 30.05.1995, 93/08/0207; VwGH 09.09.1999, 97/21/0913; VwGH 07.06.2000, 99/01/0321).

"Entschiedene Sache" im Sinne des § 68 Abs. 1 AVG liegt vor, wenn sich gegenüber dem Vorbescheid weder die Rechtslage noch der wesentliche Sachverhalt geändert hat und sich das neue Parteibegehren im Wesentlichen mit dem früheren deckt (VwGH 09.09.1999, 97/21/0913; VwGH 27.09.2000, 98/12/0057; VwGH 25.04.2002, 2000/07/0235). Einem zweiten Asylantrag, der sich auf einen vor Beendigung des Verfahrens über den ersten Asylantrag verwirklichten Sachverhalt stützt, steht die Rechtskraft des Vorbescheides entgegen (VwGH 10.06.1998, 96/20/0266).

Dem geänderten Sachverhalt muss nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH) Entscheidungsrelevanz zukommen (vgl. VwGH 15.12.1992, 91/08/0166; ebenso VwGH 16.12.1992, 92/12/0127; VwGH 23.11.1993, 91/04/0205; VwGH 26.04.1994, 93/08/0212; VwGH 30.01.1995, 94/10/0162). Die Verpflichtung der Behörde zu einer neuen Sachentscheidung wird nur durch eine solche Änderung des Sachverhalts bewirkt, die für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen den Schluss zulässt, dass nunmehr bei Bedachtnahme auf die damals als maßgebend erachteten Erwägungen eine andere Beurteilung jener Umstände, die seinerzeit den Grund für die Abweisung des Parteienbegehrens gebildet haben, nicht von vornherein als ausgeschlossen gelten kann (VwSlg. 7762 A; VwGH 29.11.1983, 83/07/0274; VwGH 21.02.1991, 90/09/0162; VwGH 10.06.1991, 89/10/0078; VwGH 04.08.1992, 88/12/0169; VwGH 18.03.1994, 94/12/0034; siehe auch VwSlg. 12.511 A, VwGH 05.05.1960, 1202/58; VwGH 03.12.1990, 90/19/0072). Dabei muss die neue Sachentscheidung - obgleich auch diese Möglichkeit besteht - nicht zu einem anderen von der seinerzeitigen Entscheidung abweichenden Ergebnis führen. Die behauptete Sachverhaltsänderung muss zumindest einen glaubhaften Kern aufweisen, dem Asylrelevanz zukommt und an die oben erwähnte positive Entscheidungsprognose anknüpfen kann (VwGH 24.02.2000, 99/20/0173-6).

"Sache" des Rechtsmittelverfahrens ist nur die Frage der Rechtmäßigkeit der Zurückweisung, die Rechtsmittelbehörde darf demnach nur darüber entscheiden, ob die Vorinstanz den Antrag zu Recht zurückgewiesen hat oder nicht. Sie hat daher entweder - falls entschiedene Sache vorliegt - das Rechtsmittel abzuweisen oder - falls dies nicht zutrifft - den bekämpften Bescheid ersatzlos zu beheben, dies mit der Konsequenz, dass die erstinstanzliche Behörde, gebunden an die Auffassung der Rechtsmittelbehörde, den Antrag nicht neuerlich wegen entschiedener Sache zurückweisen darf. Die Rechtsmittelbehörde darf aber über den Antrag nicht selbst meritorisch entscheiden (VwGH 30.05.1995, 93/08/0207).

Sache des vorliegenden Beschwerdeverfahrens im Sinne des § 28 Abs. 1 VwGVG ist somit nur die Frage, ob das BFA zu Recht den neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 68 Abs. 1 AVG zurückgewiesen hat.

5.2.2.2. Die Prüfung der Fluchtgründe war Gegenstand des vorangegangenen abgeschlossenen Rechtsganges. Im Rahmen des dem rechtskräftigen Erkenntnis des BVwG vom 30.03.2018 vorangegangenen Rechtsganges war das Vorbringen des BF zu seinen Fluchtgründen in Hinblick auf dessen Wahrheits- bzw. Glaubhaftigkeitsgehalt untersucht und beurteilt worden.

Der BF behauptet im nunmehrigen Rechtsgang, dass seine Fluchtgründe aus dem vorherigen Asylverfahren nach wie vor bestehen würden. Zusätzlich bringt er vor, dass auch seine Ehefrau und seine beiden Kinder aufgrund der nunmehr auch sie betreffenden Bedrohungslage Afghanistan hätten verlassen müssen und in Pakistan leben würden.

Gegenständlich ist zu beachten, dass das BVwG in der vorangegangenen Entscheidung vom 30.03.2018, W210 2178953-1, davon ausgegangen ist, dass sich die Ehefrau und die beiden Kinder des BF in Maidan Wardak bei seinen Schwiegereltern aufhalten würden (Seite 5).

Es wird an dieser Stelle nicht verkannt, dass der BF in seiner mündlichen Verhandlung vor dem BVwG im Vorverfahren angegeben hat, dass er von seinem Bruder erfahren habe, der diese Information wiederum von einem Freund während seines damaligen Aufenthalts in Deutschland bekommen habe, dass die Mutter, die Frau und die beiden Kinder des BF nach Pakistan gegangen seien (Seite 6). Jedoch gab der BF gleichbleibend an, dass er direkt mit seiner Ehefrau keinen Kontakt gehabt habe, sondern der letzte Kontakt im Sommer 2015 mit seiner Mutter gewesen sei (Seite 16). Auch führte er aus, dass er durch den Freund seines Bruders erfahren habe, dass seine Frau und die Kinder zu seinem Schwiegervater gefahren seien (Seite 17). Dabei ist festzuhalten, dass sich der BF durchgängig darauf berief, dass er selbst keinen Kontakt habe und nichts Genaueres wisse, sondern sein Wissen von einem Freund seines Bruders in Deutschland habe.

Das BVwG führte dazu in seinem Erkenntnis vom 30.03.2018 beweiswürdigend aus, dass es im Lichte der afghanischen Gesellschaftsstruktur nachvollziehbar sei, dass sich die Ehefrau mit den Kindern des BF bei seinen Schwiegereltern aufhalte und nicht nachvollziehbar sei, dass die Familie alleine nach Pakistan gegangen sei (Seite 28).

Nunmehr ist jedoch zu beachten, dass der BF - im Gegensatz zum vorangegangenen Verfahren - wieder Kontakt zu seiner Familie herstellen konnte und somit direkte Informationen hinsichtlich des Aufenthaltsortes und der sich nach seiner Ausreise ereigneten Geschehnisse erlangen konnte. Diesbezüglich ist festzuhalten, dass der BF nunmehr neu angegeben hat, dass sich die Lage in Afghanistan verschlechtert habe, da auch seine Familie bedroht worden sei und sie aus diesen Gründen nach Pakistan habe flüchten müssen. Zum Vorhalt der Behörde, wonach er dies schon früher angegeben habe, ist festzuhalten, dass der BF zu keinem Zeitpunkt im früheren Verfahren von einer Bedrohungslage gegenüber seiner Familie gesprochen hat, sondern stets angegeben hat, keinen Kontakt zu seiner Familie zu haben und unmittelbar nach dem Vorfall geflüchtet zu sein.

In diesem Lichte ist auch die nunmehr vorgelegte Eidesstattliche Erklärung seiner Ehefrau aus Quetta, Pakistan, zu sehen, in der sie die Angaben des BF in eigenen Worten wiederholt und angibt, seit etwa eineinhalb Jahren (somit etwa Spätfrühling/Frühsommer 2018) in Pakistan zu leben. Dies stimmt auch mit den Angaben des BF überein, der in seiner Erstbefragung im Mai 2018 angegeben hat, dass sich seine Familie seit etwa einem Jahr in Pakistan aufhalte. Den nunmehrigen Angaben des BF, wonach seine Familie nach Abschluss des vorangegangenen Verfahrens aufgrund der Bedrohungslage ebenfalls gezwungen war zu flüchten, ist ein neuer Sachverhalt zu entnehmen, dem ein "glaubhafter Kern" nicht abgesprochen werden kann.

Diesbezüglich ist auch auf das Erkenntnis des VwGH vom 13.11.2014, Ra 2014/18/0025, zu verweisen, wonach die vom Asylwerber behaupteten Geschehnisse, die sich nach rechtskräftigem Abschluss des ersten Asylverfahrens ereignet haben sollen, im Sinne der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes daraufhin zu überprüfen sind, ob sie einen "glaubhaften Kern" aufwiesen oder nicht. Dass das neue Vorbringen in einem inhaltlichen Zusammenhang mit den im Erstverfahren nicht geglaubten Behauptungen stand, ändert an diesem Umstand nichts. Ein solcher Zusammenhang kann für die Beweiswürdigung der behaupteten neuen Tatsachen argumentativ von Bedeutung sein, macht eine Beweiswürdigung des neuen Vorbringens aber nicht von vornherein entbehrlich oder gar - in dem Sinn, mit der seinerzeitigen Beweiswürdigung unvereinbare neue Tatsachen dürften im Folgeverfahren nicht angenommen werden - unzulässig (vgl. VwGH 22.11,2005, 2005/01/0626, mwN). Könnten die behaupteten neuen Tatsachen, gemessen an der dem rechtskräftigen Erkenntnis des Asylgerichtshofs [nunmehr des BVwG] zu Grunde liegenden Rechtsanschauung, zu einem anderen Verfahrensergebnis führen, so bedürfte es einer die gesamten bisherigen Ermittlungsergebnisse einbeziehenden Auseinandersetzung mit ihrer Glaubwürdigkeit (vgl. VwGH 22.11.2005, 2005/01/0626, mwN).

In diesem Sinne wird auch zu beachten sein, dass die im Erkenntnis des BVwG vom 30.03.2018, W210 2178953-1/9E, getätigten Ausführungen im Verfahren des BF in der mündlichen Beschwerdeverhandlung des Bruders des BF am 17.06.2019 sowie in der Verhandlung des BF am 09.12.2019 hinterfragt worden sind, wobei der BF drei wesentliche Aspekte (der Name des verstorbenen Lehrlings und die Fragen, ob das Lokal gemietet oder gepachtet worden sei sowie ob es sich dabei um ein Hotel oder ein Gasthaus gehandelt habe) auf- und erklären konnte, sodass die im Vorverfahren aufgetretenen scheinbaren Widersprüche entkräftet werden konnten. Ebenfalls ist an dieser Stelle auf den ambulanten Patientenbrief des AKH Wien vom 06.03.2019 hinzuweisen, in dem festgehalten wird, dass der BF aus den genannten (Flucht-) Gründen massive Todesangst habe und medikamentös eingestellt worden sei.

Im fortgesetzten Verfahren wird das BFA daher insbesondere zu berücksichtigen haben, dass die aufgrund der Bedrohungslage in Afghanistan zwischenzeitlich erfolgte Flucht seiner engsten Familienangehörigen nach Pakistan und der durch eine Eidesstaatliche Erklärung nachgewiesene Aufenthalt in Quetta als neue Tatsachen geeignet sind, zu einem anderen Verfahrensergebnis zu führen.

In Anlehnung an die Rechtsprechung des VwGH bedarf es sohin einer die gesamten bisherigen Ermittlungsergebnisse einbeziehenden Auseinandersetzung mit ihrer Glaubwürdigkeit. Dabei werden - wie oben dargelegt - auch die Einvernahme und Asylgewährung an den Bruder des BF aus denselben Fluchtgründen, der ambulante Patientenbrief vom 06.03.2019 mit den darin festgehaltenen fluchtbegründenden Umständen sowie die Angaben des BF in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 09.12.2019 einzufließen haben.

5.2.2.3. Nach der Rechtsprechung des VwGH sind Asylbehörden auch dafür zuständig, Sachverhaltsänderungen in Bezug auf den subsidiären Schutzstatus einer Prüfung zu unterziehen (VwGH 19.02.2009, 2008/01/0344-8).

Hier ist zu beachten, dass der BF auch hinsichtlich seines Gesundheitszustandes Neuerungen vorgebracht hat: So hat er bereits in der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA angegeben, psychische Krankheiten zu haben, Medikamente zu nehmen und einen Arzttermin zur Untersuchung zu haben und dabei einen ambulanten Patientenbrief vom 06.03.2019 vorgelegt. Eine dahingehende nähere Auseinandersetzung und Berücksichtigung des Gesundheitszustandes des BF kann dem Bescheid des BFA jedoch nicht entnommen werden. Festzuhalten ist auch, dass der BF im Zuge seines Beschwerdeverfahrens weitere medizinische Unterlagen vorgelegt hat, die auf seinen psychischen Gesundheitszustand eingehen und denen zu entnehmen ist, dass dem BF im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan aus fachlicher Sicht die ernstliche und erhebliche Gefahr eines Rückfalls in sein selbstgefährdendes Verhalten mit Suizid als möglicher und wahrscheinlicher Ausgang auf Grund einer posttraumatischen Entwicklung drohen würde. Angesichts der Feststellungen im Vorerkenntnis des BVwG vom 30.03.2018, wonach der BF gesund sei und keine medizinische Behandlung benötige, ist auch hier eine wesentliche Neuerung zu erblicken, sodass auch im Hinblick auf die Prüfung von subsidiärem Schutz nicht von einer "entschiedenen Sache" gesprochen werden kann.

Das BFA wird sich daher im fortgesetzten Verfahren auch mit den neu vorgebrachten Tatsachen, die einen allfälligen subsidiären Schutz betreffen, auseinanderzusetzen zu haben. In diesem Zusammenhang werden insbesondere der Gesundheitszustand des BF, eine mögliche suizidale Gefährdung und die Frage von entsprechenden Behandlungsmöglichkeiten in Afghanistan samt tatsächlichem Zugang und Erschwinglichkeit der Behandlung zu prüfen sein. Ebenso wird zu prüfen sein, ob es dem BF als nicht mehr junger Mann mit spezifischen Vulnerabilitäten und mehrfachen Sorgepflichten unter Berücksichtigung der aktuellen UNHCR-Richtlinien und EASO-Guidelines tatsächlich möglich sein wird, sich ohne familiäres Netz eine Existenzgrundlage in einer der Großstädte Afghanistans zu schaffen.

Angesichts des geänderten Sachverhaltes kann sohin nicht von einer entschiedenen Sache gesprochen werden, weshalb die Zurückweisung des Antrags auf internationalen Schutz nicht zu Recht erfolgt ist. Das BFA wird daher im fortgesetzten Verfahren den Antrag auf internationalen Schutz einer meritorischen Prüfung zu unterziehen haben.

Im Hinblick auf die oben genannten Ausführungen haben auch die übrigen Spruchpunkte III. bis VIII. keinen Bestand mehr und sind daher ersatzlos zu beheben.

Zu Spruchteil B):

Gemäß § 25a Abs. 1 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG), BGBl. Nr. 10/1985 in der geltenden Fassung, hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des VwGH ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung zum Vorliegen eines geänderten Sachverhalts im Folgeantragsverfahren; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des VwGH in diesem Zusammenhang auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.

Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind somit weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden, noch im Verfahren vor dem BVwG hervorgekommen, zumal im vorliegenden Fall vornehmlich die Klärung von Sachverhaltsfragen maßgeblich für die zu treffende Entscheidung war.

Die oben in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des VwGH ist zwar zum Teil zu früheren Rechtslagen ergangen, sie ist jedoch nach Ansicht des erkennenden Gerichts auf die inhaltlich weitestgehend gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte

Behandlungsmöglichkeiten Behebung der Entscheidung Einreiseverbot aufgehoben entschiedene Sache glaubhafter Kern individuelle Gefährdung medizinische Versorgung non-refoulement Prüfung psychische Erkrankung Rückkehrentscheidung behoben Suizidgefahr Wohnsitzauflage

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:W191.2178953.2.00

Im RIS seit

11.09.2020

Zuletzt aktualisiert am

11.09.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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