TE OGH 2020/7/21 14Os54/20b

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Veröffentlicht am 21.07.2020
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 21. Juli 2020 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Danek als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann und Dr. Setz-Hummel in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Weinhandl in der Strafsache gegen ***** T***** wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und 4 erster Fall StGB, AZ 131 BAZ 693/19v der Staatsanwaltschaft Wien, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 29. November 2019, AZ 179 Bl 15/19h, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Generalprokurators Prof. Dr. Plöchl und des Privatbeteiligtenvertreters Dr. Petri zu Recht erkannt:

Spruch

Der Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 29. November 2019, AZ 179 Bl 15/19h, verletzt § 196 Abs 2 erster Satz StPO.

Text

Gründe:

Die Staatsanwaltschaft Wien stellte am 30. Juli 2019 ein gegen ***** T***** zu AZ 131 BAZ 693/19v wegen des Verdachts des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und 4 erster Fall StGB geführtes Ermittlungsverfahren gemäß § 190 Z 2 StPO ein (ON 1 S 1). Dem Verfahren lag der Vorwurf zugrunde, der Beschuldigte habe am 7. Juni 2019 in W***** als Lenker eines Kraftfahrzeugs infolge Außerachtlassung der im Straßenverkehr erforderlichen Sorgfalt und Aufmerksamkeit beim Einbiegen von der G***** in die N***** die Fußgängerin ***** K*****, die gerade die Fahrbahn der N***** überquerte, übersehen, mit seinem Pkw niedergestoßen und dadurch fahrlässig am Körper verletzt, wobei die Tat eine schwere Körperverletzung, nämlich einen Serienrippenbruch links, Brüche der Querfortsätze mehrerer Wirbel, eine Verletzung der Lunge, einen Bruch des linken Schulterblattes, eine Flüssigkeitsansammlung im Brustfellraum sowie Brüche des oberen und unteren Asts des Schambeins, zur Folge hatte (ON 2 S 10 ff und 63).

Auf Verlangen der Letztgenannten (§ 194 Abs 2 StPO) begründete die Staatsanwaltschaft die Verfahrenseinstellung unter Hinweis auf die Verantwortung des Beschuldigten sowie die Aussagen der Zeuginnen ***** P*****, ***** L***** und ***** K***** (jeweils vor der Kriminalpolizei) damit, dass dem Beschuldigten „kein Verschulden und kein Sorgfaltsverstoß“ nachzuweisen sei. Er habe nicht damit rechnen können, dass aus seiner Sicht von rechts eine Fußgängerin die Straße überqueren werde, zumal er gerade ein Abbiegemanöver durchführte. Zudem hätte sich das Opfer vor Betreten der Fahrbahn von der Gefahrlosigkeit des Überquerens vergewissern müssen (ON 6).

Mit rechtzeitig am 26. August 2019 bei der Staatsanwaltschaft eingebrachtem Schriftsatz beantragte K***** die Fortführung des Ermittlungsverfahrens wegen

erheblicher Bedenken gegen die Richtigkeit der der Entscheidung zugrunde gelegten Tatsachen (§ 

195 Abs 1 Z 2 StPO) und „Unvollständigkeit der Erhebungen“. Darin vertrat sie die Auffassung, dass aus den bisherigen Verfahrensergebnissen, aus unter einem vorgelegten Lichtbildern aus google.maps und einem verkehrstechnischen Gutachten, dessen Einholung zu Unrecht unterblieben sei, ein Verstoß gegen § 13 Abs 1 und Abs 4 StVO durch den Beschuldigten abzuleiten wäre. Tatsächlich habe das Opfer nämlich die N***** in Fahrtrichtung betrachtet von rechts nach links überquert und sei erst auf der linken Fahrspur linksseitig vom Pkw des Beschuldigten erfasst worden, wobei sich auf der rechten Seite eine Bus- und Taxispur, aber keine parkenden Fahrzeuge befänden. Daraus ergebe sich, dass der Beschuldigte weder in weitem Bogen in die N***** eingebogen sei, noch in seine Fahrtrichtung geblickt habe (ON 7).

Die Staatsanwaltschaft vernahm in der Folge „gemäß § 193 Abs 1 zweiter Satz StPO zwecks Entscheidung über die Fortführung des Verfahrens“ die Zeuginnen P***** und L***** ergänzend (insbesondere) zur Frage, von welcher Seite aus das Opfer die Neustiftgasse überquert habe (ON 1 S 3 sowie ON 8 f). Sodann erstattete sie nach § 195 Abs 3 zweiter Satz StPO eine ablehnende Stellungnahme, in der sie erläuterte, dass das Opfer nach den nunmehr konkretisierten Angaben der Zeuginnen die Fahrbahn (in Fahrtrichtung gesehen) von links nach rechts überquert habe und dabei zwischen parkenden Fahrzeugen auf die Straße getreten sei. Ausgehend davon sei nicht mit der für das Strafverfahren erforderlichen Sicherheit erweisbar, dass der Beschuldigte die Kollision selbst bei einem rascheren Blick in Fahrtrichtung hätte vermeiden können (ON 1 S 4).

Mit dem angefochtenen Beschluss wies das Landesgericht für Strafsachen Wien den Fortführungsantrag als unzulässig zurück und trug der Fortführungswerberin die Zahlung eines Pauschalkostenbeitrags von 90 Euro auf. Begründend führte es im Wesentlichen aus, dass § 193 Abs 1 zweiter Satz StPO die Anordnung und Durchführung von „bestimmten“ Ermittlungen „im Einzelnen“ nur insoweit zuließe, als dies für eine Relevanzprüfung, aus Gründen der Beweissicherung oder zur Abklärung der (zweifelhaften) Verfügbarkeit eines bekannt gewordenen Beweismittels erforderlich sei. Da die neuerliche Vernehmung der Zeuginnen keinem dieser Zwecke gedient habe, habe die Staatsanwaltschaft damit implizit das Ermittlungsverfahren fortgeführt, womit der Fortführungsantrag gegenstandslos geworden und zurückzuweisen gewesen sei (BS 3 f).

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrer dagegen erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend aufzeigt, steht der Beschluss mit dem Gesetz nicht im Einklang:

Nach § 193 Abs 2 und 3 StPO ist eine Fortführung eines nach den §§ 190 bis 192 StPO beendeten Ermittlungsverfahrens – unter den dort genannten Voraussetzungen – von der Staatsanwaltschaft anzuordnen. Auch die Verfahrensfortführung aufgrund eines darauf gerichteten berechtigten Antrags nach § 195 Abs 3 erster Satz StPO bedarf daher einer entsprechenden Anordnung der Staatsanwaltschaft (vgl RIS-Justiz RS0129011; Nordmeyer, WK-StPO § 193 Rz 1, 7 und § 195 Rz 35; zur Anordnung der Verfahrensfortführung durch gerichtlichen Beschluss vgl § 195 Abs 1 StPO).

Die Durchbrechung der aus einer rechtswirksamen Beendigung des Strafverfahrens resultierenden Sperrwirkung (vgl § 17 StPO und Art 4 7. ZPMRK; s dazu Birklbauer, WK-StPO § 17 Rz 1 ff, 42 ff und Nordmeyer, WK-StPO § 190 Rz 20 ff) erfolgt in diesen Fällen somit durch einen nach außen hin erkennbaren Akt, der den Willen der Staatsanwaltschaft zur neuerlichen Strafverfolgung unmissverständlich zum Ausdruck bringt. Erst durch diesen contrarius actus zur Verfahrenseinstellung werden vormals Verdächtige oder Beschuldigte neuerlich Objekt eines Strafverfahrens. Gegen den (erklärten) Willen der Staatsanwaltschaft kann ein rechtswirksam beendetes Ermittlungsverfahren somit nicht auf Basis des § 193 Abs 2 und Abs 3 sowie des § 195 Abs 3 erster Satz StPO fortgeführt werden (vgl zum Anklagegrundsatz und zur Position der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren § 4 Abs 1 dritter Satz und § 101 Abs 1 zweiter Satz StPO).

Während also der Beginn eines Strafverfahrens keines (förmlichen) Einleitungsaktes durch die Staatsanwaltschaft bedarf, vielmehr wie die prozessuale Stellung einer Person materiell zu prüfen ist (§ 1 Abs 2 erster Satz und Abs 3 StPO, § 48 Abs 1 Z 1 und Z 2 StPO; vgl in diesem Zusammenhang Fuchs in Lewisch/Nordmeyer, Liber Amicorum Eckart Ratz, 45), benötigt nicht nur die Beendigung eines Strafverfahrens (§ 1 Abs 2 zweiter Satz StPO) sondern auch jede nochmalige Führung desselben nach der Beendigung entweder einer den Strafverfolgungswillen unmissverständlich zum Ausdruck bringenden Willenserklärung (Anordnung) der Staatsanwaltschaft (insb § 193 Abs 2 und Abs 3, § 195 Abs 3 erster Satz, § 205 StPO) oder eine auf Fortführung, Wiederaufnahme oder Erneuerung gerichtete Entscheidung des Gerichts (§§ 195 Abs 1, 352 ff, 363a StPO).

Indem das Landesgericht für Strafsachen Wien das Vorgehen der Anklagebehörde, das einen Willen zur neuerlichen Strafverfolgung gerade nicht zum Ausdruck bringt, rechtlich als Fortführung eines (gemäß § 190 Z 2 StPO beendeten) Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft nach § 195 Abs 3 erster Satz StPO beurteilt (vgl zu rechtsfehlerhaften Entscheidungen RIS-Justiz RS0117731, RS0126648) und eine Prüfung abgelehnt hat, ob der Antrag auf Fortführung den Voraussetzungen des § 195 StPO entsprach (vgl dazu Nordmeyer, WK-StPO § 196 Rz 4/1) oder inhaltlich berechtigt war, diesen vielmehr (trotz Erfüllung der sonstigen Formalvoraussetzungen) als unzulässig zurückwies, verletzte es § 196 Abs 2 erster Satz StPO.

Diese Entscheidung gereichte dem Beschuldigten nicht zum Nachteil, weshalb die Feststellung der Gesetzesverletzung nicht mit konkreter Wirkung zu verbinden war (§ 292 vorletzter Satz StPO).

Bleibt anzumerken, dass – wie die Generalprokuratur gleichfalls zutreffend aufzeigt – die Einhaltung der durch § 193 Abs 1 zweiter Satz StPO gezogenen Grenzen nicht Gegenstand des Rechtsschutzes im Verfahren über einen Antrag auf Fortführung, sondern eines gegen solcherart von der Staatsanwaltschaft angeordnete oder durchgeführte „Ermittlungen oder Beweisaufnahmen“ gerichteten Einspruchs wegen Rechtsverletzung nach § 106 Abs 1 StPO ist (zur Zulässigkeit Ratz, WK-StPO Vor §§ 280–296a Rz 8/4; vgl RIS-Justiz RS0130196 und RS0132414).

Textnummer

E129034

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:0140OS00054.20B.0721.000

Im RIS seit

10.09.2020

Zuletzt aktualisiert am

27.10.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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