TE Bvwg Erkenntnis 2019/6/7 I403 2215328-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 07.06.2019
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Entscheidungsdatum

07.06.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs2
AsylG 2005 §34
AsylG 2005 §57
BFA-VG §9
B-VG Art. 133 Abs4
EMRK Art. 2
EMRK Art. 3
EMRK Art. 8
FPG §46
FPG §50 Abs1
FPG §50 Abs2
FPG §50 Abs3
FPG §52 Abs1 Z1
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

I403 2215328-1/8E

I403 2215327-1/8E

I403 2215325-1/8E

I403 2215324-1/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin MMag. Birgit ERTL über die Beschwerden von XXXX, geb. XXXX; des minderjährigen XXXX, geb. XXXX; des minderjährigen XXXX, geb. XXXX und der minderjährigen XXXX, geb. XXXX, alle Staatsbürger von Nigeria, die minderjährigen Kinder gesetzlich vertreten durch ihre Mutter XXXX, alle vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Robert BITSCHE, Nikolsdorferg. 7-11, 1050 Wien gegen Spruchpunkt I. bis III. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.01.2019, Zl. 1212198108/181156640; 1217120010/190043810; 1217119902/190043798 und 1217119706/190043780 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 24.04.2019 zu Recht:

A)

I. Die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. und II. werden als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. wird stattgegeben und gemäß § 55 Abs. 2 FPG eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für eine freiwillige Ausreise gewährt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Bei den Beschwerdeführern handelt es sich um die Erstbeschwerdeführerin XXXX und deren drei minderjährige Kinder.

Die Mutter der Erstbeschwerdeführerin war von 01.12.2014 bis 28.02.2018 bei der XXXX Botschaft in Wien tätig; aufgrund dessen waren auch die mit ihr im selben Haushalt lebende Erstbeschwerdeführerin und ihre drei Kinder in dieser Zeit zum Aufenthalt in Österreich berechtigt.

Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden vom 25.01.2019 erteilte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Beschwerdeführern keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG und erließ gemäß § 10 Abs. 2 AsylG iVm § 9 BFA-VG Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG (Spruchpunkt I.), stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer nach Nigeria gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt II.), erteilte gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt III.) und erkannte einer Beschwerde gegen diese Entscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung ab (Spruchpunkt IV.).

Gegen diese Bescheide wurde rechtzeitig eine Beschwerde eingebracht. Die gegenständlichen Beschwerden und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorgelegt und langten am 01.03.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

Mit Teilerkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichtes vom 04.03.2019 wurde den Beschwerden die aufschiebende Wirkung zuerkannt und Spruchpunkt IV. der angefochtenen Bescheide behoben.

Am 24.04.2019 wurde eine mündliche Verhandlung abgehalten, in der neben der Erstbeschwerdeführerin auch ihr Ehemann befragt wurde; am 16.05.2019 wurden verschiedene Unterlagen in Vorlage gebracht.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Feststellungen zu den Personen der Beschwerdeführer:

Die Beschwerdeführer sind nigerianische Staatsbürger, ihre Identität steht fest. Die Erstbeschwerdeführerin zog gemeinsam mit ihrer Mutter, welche von 01.12.2014 bis 28.02.2018 bei der XXXXBotschaft in Wien angestellt war, nach Österreich, wo 2016 ihre Tochter XXXX (Zweitbeschwerdeführerin) und 2017 ihre Zwillingssöhne XXXX und XXXX (Dritt- und Viertbeschwerdeführer) geboren wurden. Die Beschwerdeführer verfügten bis zum 28.02.2018 über eine "blaue Legitimationskarte" als Angehörige einer Mitarbeiterin des Diplomatischen Dienstes. Danach wurde kein Aufenthaltstitel mehr beantragt.

Vater der minderjährigen Beschwerdeführer ist der nigerianische Staatsbürger XXXX, mit dem die Erstbeschwerdeführerin seit 14.10.2016 verheiratet ist. Es besteht ein gemeinsamer Wohnsitz. Gegen XXXX besteht eine durchsetzbare Rückkehrentscheidung. Das gemeinsame Familienleben kann in Nigeria fortgesetzt werden.

In Nigeria halten sich die Mutter der Erstbeschwerdeführerin und die Familie ihres Ehemannes auf. In Wien bzw. rund um Wien leben zwei ihrer Geschwister, in Bezug auf drei weitere Geschwister läuft ein Verfahren zur Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung "Schüler". Besondere Abhängigkeitsverhältnisse liegen aber nicht vor.

Die Beschwerdeführer sind strafrechtlich unbescholten.

Die Erstbeschwerdeführerin verfügt über einen Schulabschluss, hat aber keine Berufsausbildung. In Österreich absolvierte sie die A2-Prüfung und arbeitete zeitweise in einer Bar (24.02.2017 bis 03.03.2017) bzw. in einem Supermarkt als Aushilfe (02.05.2017 bis 29.08.2017). Aktuell leben die Beschwerdeführer von der Unterstützung durch den Ehemann bzw. Vater XXXX.

Bei dem Drittbeschwerdeführer liegt ein Verdacht auf Leistenhernie, ansonsten sind die Beschwerdeführer gesund.

1.2. Feststellungen zur Situation in Nigeria:

1.2.1. Medizinische Versorgung

Nigeria verfügt über ein sehr kompliziertes Gesundheitssystem. Das öffentliche Gesundheits-system wird von den drei Regierungsebenen geleitet (VN 14.9.2015) und das Hauptorgan der Regierung für das Gesundheitswesen ist das Bundesgesundheitsministerium (IOM 8.2014). Die Bundesregierung ist zuständig für die Koordination der Angelegenheiten in den medizini-sche Zentren des Bundes und Universitätskliniken. Die Landesregierung ist zuständig für all-gemeine Spitäler, die Kommunalregierung für die Medikamentenausgabestellen (VN 14.9.2015).

Die meisten Landeshauptstädte haben öffentliche und private Krankenhäuser sowie Fachkli-niken, und jede Stadt hat darüber hinaus eine Universitätsklinik, die vom Bundesgesund-heitsministerium finanziert wird (IOM 8.2014).

Öffentliche (staatliche Krankenhäuser): Diese umfassen die allgemeinen Krankenhäuser, die Universitätskliniken und die Fachkliniken. Die Gebühren sind moderat, doch einigen Kran-kenhäusern fehlt es an Ausrüstung und ausreichendem Komfort. Es treten oftmals Verzöge-rungen auf und vielfach werden Untersuchungen aufgrund der großen Anzahl an Patienten nicht sofort durchgeführt (IOM 8.2014). Die Kosten von medizinischer Betreuung müssen im Regelfall selbst getragen werden; die staatlichen Gesundheitszentren heben eine Registrie-rungsgebühr von umgerechnet 10 bis 25 Cent ein:

Tests und Medikamente werden unentgelt-lich abgegeben, so ferne vorhanden (ÖBA 9.2016).

Private Krankenhäuser: Hierbei handelt es sich um Standard-Krankenhäuser. Diese Kran-kenhäuser verfügen nur teilweise über eine ausreichende Ausstattung und müssen Patienten für Labortests und Röntgenuntersuchungen oftmals an größere Krankenhäuser überweisen. Diese Krankenhäuser sind im Allgemeinen teurer (IOM 8.2014).

Die medizinische Versorgung im Lande ist mit Europa nicht zu vergleichen. Sie ist vor allem im ländlichen Bereich vielfach technisch, apparativ und/oder hygienisch problematisch. In den großen Städten findet man jedoch einige Privatkliniken mit besserem Standard (AA 4.7.2017). Es besteht keine umfassende Liste der Krankenhäuser und Ausstattungen, aber zahlreiche Krankenhäuser in Nigeria sind gut ausgestattet und in der Lage, zahlungsfähige Patienten medizinisch zu versorgen. Verschiedene Krankenhäuser in Nigeria haben sich auf unterschiedliche Krankheiten spezialisiert und Patienten suchen diese Krankenhäuser ent-sprechend ihrer Erkrankung auf. Allgemeine Krankenhäuser in Nigeria behandeln Patienten mit verschiedenen Krankheiten, verfügen jedoch üblicherweise über Fachärzte wie etwa Kin-derärzte, Augenärzte, Zahnärzte, Gynäkologen zur Behandlung bestimmter Krankheiten. Zu den Fachkliniken zählen orthopädische Kliniken, psychiatrische Kliniken etc. (IOM 8.2014).

Aufgrund der hohen Sterblichkeitsrate von rund 90.000 Neugeborenen jährlich, die während der ersten 28 Tage nach ihrer Geburt sterben, rangiert Nigeria auf Platz 12 von 176 unter-suchten Ländern und gilt auch innerhalb des südlichen Afrikas als "einer der gefährlichsten Orte" um geboren zu werden (GIZ 7.2017b). Die aktuelle Sterberate unter 5 beträgt 128 To-desfälle pro 1.000 Lebendgeburten. Die mütterliche Sterblichkeit liegt bei 545 Todesfällen pro 100.000 Lebendgeburten (ÖBA 9.2016).

Laut dem Gesundheitsministerium gibt es weniger als 150 Psychiater in Nigeria (IRIN 13.7.2017). Insgesamt gibt es in Nigeria acht psychiatrische Krankenhäuser, die von der Re-gierung geführt und finanziert werden. Sechs weitere psychiatrische Kliniken werden von Bundesstaaten unterhalten (SFH 22.1.2014; vgl. WPA o.D.). In diesen psychiatrischen Klini-ken werden unter anderem klinische Depressionen, suizidale Tendenzen, Posttraumatische Belastungsstörungen, Schizophrenie und Psychosen behandelt (SFH 22.1.2014). Es existiert kein mit deutschen Standards vergleichbares Psychiatriewesen, sondern allenfalls Verwah-reinrichtungen auf sehr niedrigem Niveau, in denen Menschen mit psychischen Erkrankun-gen oft gegen ihren Willen untergebracht werden, aber nicht adäquat behandelt werden kön-nen (AA 21.11.2016; vgl. SFH 22.1.2014). Das in Lagos befindliche Federal Neuro Psychiat-ric Hospital Yaba bietet sich als erste Anlaufstelle für die Behandlung psychisch kranker nige-rianischer Staatsangehöriger an, die abgeschoben werden sollen. Die Kosten für den Emp-fang durch ein medizinisches Team direkt am Flughafen belaufen sich auf ca. 195.000Naira (ca. 570 Euro). Zudem ist dort auch die stationäre Behandlung psychischer Erkrankungen mit entsprechender Medikation möglich (AA 21.11.2016).

Es gibt eine allgemeine Kranken- und Rentenversicherung, die allerdings nur für Beschäftigte im formellen Sektor gilt. Die meisten Nigerianer arbeiten dagegen als Bauern, Landarbeiter oder Tagelöhner im informellen Sektor. Leistungen der Krankenversicherung kommen schät-zungsweise nur zehn Prozent der Bevölkerung zugute (AA 21.11.2016). Gemäß dem Exeku-tivsekretär des National Health Insurance Scheme (NHIS) beträgt nach zwölf Jahren die Zahl der Nigerianern, die durch das NHIS krankenversichert sind, 1,5 Prozent (Vanguard 22.6.2017). Hilfsorganisationen, die für notleidende Patienten die Kosten übernehmen, sind nicht bekannt. Aufwändigere Behandlungsmethoden, wie Dialyse oder die Behandlung von HIV/AIDS, sind zwar möglich, können vom Großteil der Bevölkerung aber nicht finanziert werden (AA 21.11.2016). Wer kein Geld hat, bekommt keine medizinische Behandlung (GIZ 7.2017b).

Rückkehrer finden in den Großstädten eine medizinische Grundversorgung vor. In privaten Kliniken können die meisten Krankheiten behandelt werden (AA 21.11.2016). Wenn ein Heimkehrer über eine medizinische Vorgeschichte verfügt, sollte er möglichst eine Überwei-sung von dem letzten Krankenhaus, in dem er behandelt wurde, vorlegen (IOM 8.2014). Heimkehrer, die vorher nicht in ärztlicher Behandlung waren, müssen lediglich dem Kranken-haus eine Registrierungsgebühr zahlen und in der Lage sein, ihre Behandlungskosten selbst zu tragen (IOM 8.2014; vgl. AA 21.11.2016). Hat eine Person keine Dokumente, führt dieser Umstand nicht zur Verweigerung medizinischer Versorgung oder zum Ausschluss von ande-ren öffentlichen Diensten (z.B. Bildung) (USDOS 3.3.2017).

Medikamente sind verfügbar, können aber je nach Art teuer sein (IOM 8.2014). Die staatliche Gesundheitsversorgung gewährleistet keine kostenfreie Medikamentenversorgung. Jeder Patient - auch im Krankenhaus - muss Medikamente selbst besorgen bzw. dafür selbst auf-kommen (AA 21.11.2016). Medikamente gegen einige weit verbreitete Infektionskrankheiten wie Malaria und HIV/Aids können teils kostenlos in Anspruch genommen werden, werden jedoch nicht landesweit flächendeckend ausgegeben (ÖBA 9.2016).

In der Regel gibt es fast alle geläufigen Medikamente in Nigeria in Apotheken zu kaufen, so auch die Antiphlogistika und Schmerzmittel Ibuprofen und Diclofenac sowie die meisten Anti-biotika, Bluthochdruckmedikamente und Medikamente zur Behandlung von neurologischen und psychiatrischen Leiden (AA 21.11.2016).

Es gibt zahlreiche Apotheken in den verschiedenen Landesteilen Nigerias. Die National Agency for Food and Drug Administration and Control (NAFDAC) hat ebenfalls umfangreiche Anstrengungen unternommen, um sicherzustellen, dass diese Apotheken überwacht werden und der nigerianischen Bevölkerung unverfälschte Medikamente verkaufen (IOM 8.2014). Trotzdem bliebt die Qualität der Produkte auf dem freien Markt zweifelhaft, da viele gefälsch-te Produkte - meist aus asiatischer Produktion - vertrieben werden (bis zu 25 Prozent aller verkauften Medikamente), die aufgrund unzureichender Dosisanteile der Wirkstoffe nur ein-geschränkt wirken (AA 21.11.2016).

Der Glaube an die Heilungskräfte der traditionellen Medizin ist bei den Nigerianern nach wie vor sehr lebendig. Bei bestimmten Krankheiten werden eher die traditionellen Heiler als die Schulmediziner nach westlichem Vorbild konsultiert (GIZ 7.2017b).

In den letzten Jahren wurden mehrere Massenimpfungen gegen Polio und Meningitis durch-geführt. Ende 2016 kam es zu einem akuten Meningitis-Ausbruch, bei dem 745 Menschen gestorben sind und mehr als 8.000 Verdachtsfälle registriert wurden (GIZ 7.2017b).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.11.2016): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria

-

AA - Auswärtiges Amt (4.7.2017): Nigeria - Reise- und Sicherheitshinweise (Teilreisewar-nung), http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Laenderinformationen/00-SiHi/NigeriaSicherheit.html, Zugriff 4.7.2017

-

GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (7.2017b): Nigeria - Ge-sellschaft, http://liportal.giz.de/nigeria/gesellschaft.html, Zugriff 2.8.2017

-

IOM - International Organization for Migration (8.2014): Nigeria - Country Fact Sheet,

https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698704/8628861/17247436/17297905/Nigeria_-_Country_Fact_Sheet_2014%2C_deutsch.pdf?nodeid=17298000&vernum=-2, Zugriff 4.7.2017

-

ÖBA - Österreichische Botschaft Abuja (9.2016): Asylländerbericht Nigeria

-

SFH - Schweizerische Flüchtlingshilfe (22.1.2014): Nigeria:

Psychiatrische Versorgung,

http://www.ecoi.net/file_upload/1002_1391265297_document.pdf, Zugriff 4.7.2017

-

USDOS - U.S. Department of State (3.3.2017): Country Report on Human Rights Prac-tices 2016 - Nigeria, http://www.ecoi.net/local_link/337224/479988_de.html, Zugriff 8.6.2017

-

Vanguard (22.6.2017): Health insurance: FG calls for scrapping of HMOs,

http://www.vanguardngr.com/2017/06/health-insurance-fg-calls-scrapping-hmos/, Zugriff 4.7.2017

-

VN - VisitNigeria (14.9.2015): Nigeria Healthcare System - The Good and the Bad,

http://www.visitnigeria.com.ng/nigeria-healthcare-system-the-good-and-the-bad/, Zugriff 4.7.2017

-

WPA - World Psychiatric Association (o.D.): Association of Psychiatrists in Nigeria (APN), http://www.wpanet.org/detail.php?section_id=5&content_id=238, Zugriff 12.6.2015

1.2.2. Weibliche Genitalverstümmelung:

Das Bundesgesetz kriminalisiert weibliche Beschneidung oder Genitalverstümmlung (USDOS 3.3.2017). Etwa 20 Millionen nigerianische Frauen sind Opfer von FGM. Das Gesundheitsmi-nisterium, Frauengruppen und viele NGOs führen Sensibilisierungskampagnen durch, um die Gemeinden hinsichtlich der Folgen von FGM aufzuklären (USDOS 3.3.2017; vgl. AA 21.11.2017).

Das kanadische Immigration and Refugee Board berichtet, dass es unterschiedliche Zahlen zur Prävalenz der FGM in Nigeria gibt. Einige Quellen geben an, dass über 40 Prozent% der Frauen in Nigeria FGM ausgesetzt sind. Laut anderen Quellen liegt die Prävalenz der FGM zwischen 25-27 Prozent (IRB 13.9.2016) Dabei gibt es erhebliche regionale Diskrepanzen. In einigen Regionen im Südwesten und in der Region Süd-Süd wird die große Mehrzahl der Mädchen auch heute noch Opfer von Genitalverstümmelungen, in weiten Teilen Nordnigerias ist der Anteil erheblich geringer. Genitalverstümmelungen sind generell in ländlichen Gebieten weiter verbreitet als in den Städten (AA 21.11.2016).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.11.2016): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria

-

AA - Auswärtiges Amt (4.2017a): Nigeria - Innenpolitik, http://www.auswaertiges-amt.de/D3.8.2016, Zugriff 22.6.2017

-

IRB - Immigration and Refugee Board of Canada (13.9.2016):

Responses to Information Requests, http://www.irb.gc.ca/Eng/ResRec/RirRdi/Pages/index.aspx?doc=456691&pls=1, Zugriff 22.6.2017

-

USDOS - U.S. Department of State (3.3.2017): Country Report on Human Rights Prac-tices 2016 - Nigeria, http://www.ecoi.net/local_link/337224/479988_de.html, Zugriff 8.6.2017

Im neuen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 12.04.2019 wird dies dahingehend präzisiert, dass FGM jedenfalls in Abuja kriminalisiert wurde und dass es Schutz bei verschiedenen Organisationen gibt:

Das Bundesgesetz kriminalisiert seit 2015 FGM/C auf nationaler Ebene (USDOS 13.3.2019; vgl. AA 10.12.2018; GIZ 4.2019b), dieses Gesetz ist aber bisher nur in einzelnen Bundesstaaten umgesetzt worden (AA 10.12.2018), nach anderen Angaben gilt es bis dato nur im Federal Capital Territory. 13 andere Bundesstaaten haben ähnliche Gesetze verabschiedet (EASO 11.2018b). Die Regierung unternahm im Jahr 2018 keine Anstrengungen, FGM/C zu unterbinden (USDOS 13.3.2019). Andererseits wird mit unterschiedlichen Aufklärungskampagnen versucht, einen Bewusstseinswandel einzuleiten. Bei der Verbreitung gibt es erhebliche regionale Unterschiede. In einigen - meist ländlichen - Regionen im Südwesten und in der Region Süd-Süd ist die Praxis weit verbreitet, im Norden eher weniger (AA 10.12.2018). Während im Jahr 2013 der Anteil beschnittener Mädchen und Frauen noch bei 24,8 Prozent lag, waren es 2017 nur noch 18,4 Prozent (EASO 11.2018b).

Für Opfer von FGM/C bzw. für Frauen und Mädchen, die von FGM/C bedroht sind, gibt es Schutz und/oder Unterstützung durch staatliche Stellen und NGOs (UKHO 2.2017). Frauen, die von FGM/ C bedroht sind und die nicht in der Lage oder nicht willens sind, sich dem Schutz des Staates anzuvertrauen, können auf sichere Weise in einen anderen Teil Nigerias übersiedeln, wo es sehr unwahrscheinlich ist, dass sie von ihren Familienangehörigen aufgespürt werden. Frauen, welche diese Wahl treffen, können sich am neuen Wohnort dem Schutz von Frauen-NGOs anvertrauen (UKHO 12.2013; vgl. UKHO 2.2017).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (10.12.2018): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand Oktober 2018)

-

EASO - European Asylum Support Office (11.2018b): Country of Origin Information Report - Nigeria - Targeting of individuals, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001375/2018_EASO_COI_Nigeria_TargetingIndividuals.pdf, Zugriff 11.4.2019, S129ff

-

GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (4.2019b): Nigeria - Gesellschaft, https://www.liportal.de/nigeria/gesellschaft/, Zugriff 10.4.2019

-

UKHO - United Kingdom Home Office (12.2013): Operational Guidance Note - Nigeria,

http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1387367781_nigeria-ogn.pdf, Zugriff 19.11.2018

-

UKHO - United Kingdom Home Office (2.2017): Country Policy and Information Note Nigeria: Female Genital Mutilation (FGM), https://www.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/595458/CPIN_-

_NGA_-_FGM_-_v_1_0.pdf, Zugriff 19.11.2018

-

USDOS - U.S. Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Nigeria, https://www.ecoi.net/en/document/2004182.html, Zugriff 20.3.2019

2. Beweiswürdigung:

Die Feststellung der Identität der Beschwerdeführer erfolgte durch Vorlage des Reisepasses der Erstbeschwerdeführerin und der Geburtsurkunden der minderjährigen Beschwerdeführer.

Die Feststellungen zur Meldung und Unbescholtenheit beruhen auf einem Auszug aus dem Strafregister und dem Zentralen Melderegister.

Die Eheschließung mit XXXX ergibt sich aus der vorgelegten Heiratsurkunde. Dass gegen ihn eine durchsetzbare Rückkehrentscheidung besteht, ergibt sich aus dem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 07.06.2019, I412 2166591-1/11E). Aus diesem Erkenntnis ergibt sich, dass keine Gefahr einer Menschenrechtsverletzung für XXXX in Nigeria besteht und er dort auch nicht verfolgt wird. Soweit die Erstbeschwerdeführerin vorbringt, Probleme wegen ihres homosexuellen Ehemannes zu bekommen, ist dem entgegenzuhalten, dass mit dem genannten Erkenntnis eine Verfolgung ihres Ehemannes wegen seiner sexuellen Orientierung verneint wurde und diese für nicht glaubhaft befunden wurde. Soweit sie erklärte, dass ihre Tochter (die Viertbeschwerdeführerin) in Nigeria von einer Genitalverstümmelung bedroht wäre, steht dem erstens entgegen, dass aufgrund des Wunsches der Mutter der Erstbeschwerdeführerin weder diese noch deren Schwestern Opfer einer Genitalverstümmelung wurden, was zeigt, dass gegen den Willen der Mutter eine solche nicht durchgeführt wird, und wurde die Erstbeschwerdeführerin zweitens in der mündlichen Verhandlung auf die Möglichkeit verwiesen, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. Ein solcher Antrag wurde nicht gestellt. Das Familienleben kann daher in Nigeria fortgesetzt werden.

Die Feststellungen zu ihren Geschwistern ergeben sich aus den Angaben der Erstbeschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung und den Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichtes vom 17.04.2019, I403 2215230-1/8E, I403 2215232-1/8E und I403 2215234-1/8E.

Folgende Unterlagen wurden vorgelegt und im Verfahren berücksichtigt:

* ÖSD A2-Zertifikat vom 09.12.2015 der Erstbeschwerdeführerin

* Lohnzettel der Erstbeschwerdeführerin vom Juni, Juli und August 2017

* Versicherungsdatenauszug der Erstbeschwerdeführerin

* E-Card der Beschwerdeführer

* Beglaubigtes Schulabschlusszeugnis der Erstbeschwerdeführerin

* Meldezettel der Beschwerdeführer

* Beschäftigungsbewilligung für den Ehemann der Erstbeschwerdeführerin vom 18.10.2018

* Ambulanzbericht des XXXXspitals zum Drittbeschwerdeführer vom 18.01.2018 wegen des Verdachts auf Leistenhernie: Dem Befund ist zu entnehmen, dass für den 13.03.2018 eine Operation geplant war, die aber offensichtlich nicht vorgenommen wurde. Laut Aussage der Erstbeschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung sei die Operation auf einen späteren Zeitpunkt verschoben worden.

Dass die Beschwerdeführer bis zum 28.02.2018 aufgrund einer vom Bundesministerium für Auswärtige Angelegenheiten ausgestellten "blauen" Legitimationskarte zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt waren, ergibt sich aus einem entsprechenden Schreiben des Ministeriums vom 08.10.2018.

Die Feststellungen zur Situation in Nigeria entsprechen den in den angefochtenen Bescheiden getroffenen Feststellungen, die auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation beruhen und denen nicht widersprochen wurde.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

3.1. Rechtliche Grundlagen

§ 57 Abs. 1 AsylG 2005 lautet:

Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zu erteilen:

1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht,

2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder

3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.

§ 9 Abs. 2 BFA-VG lautet:

Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

§ 55 Abs. 1, 2, 3 und 4 FPG lauten:

(1) Mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 wird zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.

(1a) ...

(2) Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.

(3) Bei Überwiegen besonderer Umstände kann die Frist für die freiwillige Ausreise einmalig mit einem längeren Zeitraum als die vorgesehenen 14 Tage festgesetzt werden. Die besonderen Umstände sind vom Drittstaatsangehörigen nachzuweisen und hat er zugleich einen Termin für seine Ausreise bekanntzugeben. § 37 AVG gilt.

(4) Das Bundesamt hat von der Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise abzusehen, wenn die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gemäß § 18 Abs. 2 BFA-VG aberkannt wurde.

§ 52 Abs. 1 und 4 FPG lauten:

(1) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich

1. nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält oder

2. nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und das Rückkehrentscheidungsverfahren binnen sechs Wochen ab Ausreise eingeleitet wurde.

(4) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, hat das Bundesamt mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn

1. nachträglich ein Versagungsgrund gemäß § 60 AsylG 2005 oder § 11 Abs. 1 und 2 NAG eintritt oder bekannt wird, der der Erteilung des zuletzt erteilten Aufenthaltstitels entgegengestanden wäre,

1a. nachträglich ein Versagungsgrund eintritt oder bekannt wird, der der Erteilung des zuletzt erteilten Einreisetitels entgegengestanden wäre oder eine Voraussetzung gemäß § 31 Abs. 1 wegfällt, die für die erlaubte visumfreie Einreise oder den rechtmäßigen Aufenthalt erforderlich ist,

2. ihm ein Aufenthaltstitel gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 oder 2 NAG erteilt wurde, er der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht und im ersten Jahr seiner Niederlassung mehr als vier Monate keiner erlaubten unselbständigen Erwerbstätigkeit nachgegangen ist,

3. ihm ein Aufenthaltstitel gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 oder 2 NAG erteilt wurde, er länger als ein Jahr aber kürzer als fünf Jahre im Bundesgebiet niedergelassen ist und während der Dauer eines Jahres nahezu ununterbrochen keiner erlaubten Erwerbstätigkeit nachgegangen ist,

4. der Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels ein Versagungsgrund (§ 11 Abs. 1 und 2 NAG) entgegensteht oder

5. das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, aus Gründen, die ausschließlich vom Drittstaatsangehörigen zu vertreten sind, nicht rechtzeitig erfüllt wurde.

Werden der Behörde nach dem NAG Tatsachen bekannt, die eine Rückkehrentscheidung rechtfertigen, so ist diese verpflichtet dem Bundesamt diese unter Anschluss der relevanten Unterlagen mitzuteilen. Im Fall des Verlängerungsverfahrens gemäß § 24 NAG hat das Bundesamt nur all jene Umstände zu würdigen, die der Drittstaatsangehörige im Rahmen eines solchen Verfahrens bei der Behörde nach dem NAG bereits hätte nachweisen können und müssen.

3.2. Zur Anwendung der geltenden Rechtslage auf die Beschwerdeführer:

3.2.1. Zu Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide:

Die Beschwerdeführer verfügten zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung über keine Aufenthaltsberechtigung für Österreich, eine solche ist auch zum aktuellen Zeitpunkt nicht gegeben. Ihre Legitimationskarten sind nicht mehr gültig und sie stellten auch keinen Antrag auf Erteilung einer sonstigen Aufenthaltsbewilligung.

Es ist daher zunächst zu prüfen, ob ihnen ein Aufenthaltstitel nach § 57 AsylG 2005 zu erteilen ist, doch ergeben sich dafür aus der Aktenlage keine Hinweise und wurde dies auch nicht in der Beschwerde beantragt.

In weiterer Folge stellt sich die Frage, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung als verhältnismäßig anzusehen ist; dafür sind die Kriterien des § 9 Abs. 2 BFA-VG heranzuziehen. Im konkreten Fall der Erstbeschwerdeführerin ist zu berücksichtigen, dass sie sich zwar seit Dezember 2014 und damit seit etwa viereinhalb Jahren in Österreich aufhält, dass sie aber als Angehörige ihrer Mutter nach Österreich kam und daher ihr Aufenthalt im Rahmen einer diplomatischen Mission erfolgte, der inhärent ist, dass nach einer gewissen Zeit eine Abberufung erfolgt. Es wird vom Bundesverwaltungsgericht nicht angezweifelt, dass die Erstbeschwerdeführerin soziale Kontakte in Österreich geknüpft hat, doch musste der Erstbeschwerdeführerin als Angehöriger eines Mitglieds des diplomatischen Dienstes stets bewusst sein, dass ihr Aufenthalt in Österreich nur als vorläufig anzusehen war. In Bezug auf ihre in Österreich lebenden Geschwister bestehen keine besonderen Abhängigkeiten, kein gemeinsamer Wohnsitz und keine besonderen Nahebeziehungen und sind diese zudem auch nur für die Dauer ihrer Ausbildung vorläufig aufenthaltsberechtigt (bzw. befindet sich in Bezug auf ihre drei jüngsten Geschwister das entsprechende Verfahren in Beschwerde), so dass durch eine Rückkehrentscheidung nicht in ein Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK eingegriffen würde. Nach der Rechtsprechung des EGMR kann zwar auch zwischen Geschwistern ein geschütztes Familienleben bestehen, doch müssten neben der Verwandtschaft auch andere, engere Bindungen vorliegen und die Beziehungen eine gewisse Intensität aufweisen, die im gegenständlichen Fall nicht gegeben ist (EGMR, 14.03.1980, B8986/80, EuGRZ 1982, 311).

Dagegen besteht zwischen Eltern und Kindern grundsätzlich seit der Geburt der Kinder und unabhängig von einem gemeinsamen Wohnsitz der Eltern ein Familienleben (VfGH, 11.03.2014, U37-39/2013-13; EGMR, L. gegen die Niederlande, 01.06.2004, Nr. 45582/99; EGMR, Berrehab gegen die Niederlande, 21.06.1988, Nr. 10730/84). Unzweifelhaft besteht daher zwischen der Erstbeschwerdeführerin und den minderjährigen Beschwerdeführern ein durch Art. 8 EMRK geschütztes Familienleben. Ist aber von einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme die gesamte Familie betroffen, so greift sie in das Privatleben der Familienmitglieder ein, nicht aber in ihr Familienleben (EGMR, 9.10.2003, 48321/99, Slivenko gg Lettland, EGMR, 16.6.2005, 60654/00 Sisojeva gg Lettland). Durch die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen alle Beschwerdeführer liegt kein Eingriff in das Familienleben vor, weil die gesamte Kernfamilie aus dem österreichischen Bundesgebiet ausgewiesen wird (VwGH, 22.11.2012, 2011/23/067; 26.02.2013, 2012/22/0239; 19.02.2014, 2013/22/0037). Dies betrifft auch den Ehemann der Erstbeschwerdeführerin und Vater der minderjährigen Beschwerdeführer, gegen den ebenfalls eine Rückkehrentscheidung erlassen wurde. Das gemeinsame Familienleben kann daher in Nigeria fortgesetzt werden.

In Bezug auf die minderjährigen Beschwerdeführer ist der Eingriff in ihr Privatleben durch eine Rückkehrentscheidung jedenfalls als verhältnismäßig anzusehen. Sie sind zwar in Österreich geboren worden, doch sind sie erst ein bzw. zwei Jahre alt, so dass sie sich jedenfalls in einem anpassungsfähigen Alter befinden und gemeinsam mit ihren Eltern in Nigeria aufwachsen können. Es ist diesbezüglich zu beachten, dass Kinder anpassungsfähiger sind als Erwachsene und meist in Begleitung ihrer Eltern in ihren Herkunftsstaat zurückkehren, wodurch ihnen die neuerliche Eingliederung erleichtert wird (VwGH, 17.12.2007, 2006/01/0216-0219). So attestierte der EGMR Kindern im Alter von 7 und 11 eine große Anpassungsfähigkeit, die eine Rückkehr mit ihren Eltern von England, wo sie geboren waren, nach Nigeria als keine unbillige Härte erschienen ließ (EGMR, 26.1.1999, 43279/98, Sarumi gg Vereinigtes Königreich).

In Bezug auf die Erstbeschwerdeführerin liegen auch keine Elemente einer umfassenden Integration vor, welche aus diesem Blickwinkel eine Rückkehr nach Nigeria unzumutbar erscheinen lassen würden. Sie hat begonnen Deutsch zu lernen und zeitweise geringfügig in einem Supermarkt gearbeitet und ist krankenversichert, doch reicht dies nicht aus, um von einer nachhaltigen Aufenthaltsverfestigung auszugehen.

Dass eine in Österreich vorgenommene medizinische Behandlung im Einzelfall zu einer maßgeblichen Verstärkung der persönlichen Interessen eines Fremden an einem Verbleib im Bundesgebiet führen kann, hat der Verwaltungsgerichtshof schon mehrfach zum Ausdruck gebracht (vgl. etwa das Erkenntnis vom 28.04. 2015, Ra 2014/18/0146 bis 0152, Punkt 4.3. der Entscheidungsgründe). Dabei kommt es maßgeblich darauf an, ob diese medizinische Behandlung auch außerhalb Österreichs erfolgen bzw. fortgesetzt werden kann. Für den Drittbeschwerdeführer wurde ein Ambulanzbericht vom 18.01.2018 vorgelegt, wonach ein Verdacht auf Leistenbruch bestehe und für den März 2018 eine Operation vorgesehen sei; laut Auskunft der Erstbeschwerdeführerin sie aber noch keine Operation vorgenommen worden, sondern erst für die Zukunft geplant. Aktuelle Befunde, welche die Notwendigkeit einer Operation anzeigen würden, wurden allerdings nicht vorgelegt. Nachdem die Erstbeschwerdeführerin aus Abuja stammt und sich dort ihre Mutter aufhält, könnte sie sich in die Hauptstadt begeben, in der es - laut unbestritten gebliebenen Länderfeststellungen im angefochtenen Bescheid - eine medizinische Versorgung gibt. Die Mutter der Erstbeschwerdeführerin ist beim nigerianischen Außenministerium angestellt und könnte, auch wenn sie in Wien ihre Tochter und deren Ehemann nicht dauerhaft finanziell unterstützen wollte, bei etwaigen Kosten für eine notwendige Operation unterstützen. Die Operation eines Leistenbruches ist unkompliziert, und es sind viele Kinder davon betroffen. Auch aus diesem Umstand wird das Interesse der Beschwerdeführer an einem Verbleib in Österreich nicht derart verstärkt, dass es zu einem Überwiegen der privaten Interessen an einem Verbleib gegenüber dem öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen führen würde.

Das Bundesverwaltungsgericht kommt daher zum Schluss, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen die Beschwerdeführer verhältnismäßig ist und keine Verletzung des Art. 8 EMRK darstellt. Die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der Bescheide waren daher abzuweisen.

3.2.2. Zu Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide:

Mit dem angefochtenen Bescheid wurde zudem festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer nach Nigeria zulässig ist.

In der Beschwerde wurde argumentiert, dass die Beschwerdeführer in Nigeria in eine existenzbedrohende Notlage geraten würden, da es sich bei der Erstbeschwerdeführerin um eine alleinstehende Frau handle, welche über kein soziales und familiäres Netzwerk in Nigeria verfügt. Dieser Argumentation kann sich das Bundesverwaltungsgericht nicht anschließen, befindet sich doch die Mutter der Erstbeschwerdeführerin wieder in Nigeria, ebenso ihr Vater, und kann sie gemeinsam mit ihrem Ehemann, gegen den zeitgleich eine Rückkehrentscheidung erlassen wurde, als Familie nach Nigeria zurückkehren.

Soweit in der Beschwerde umfassend auf das Problem der weiblichen Genitalverstümmelung eingegangen wird, ist dazu auf die Feststellungen im aktuellen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation von April 2019 zu verweisen:

Das Bundesgesetz kriminalisiert seit 2015 FGM/C auf nationaler Ebene, dieses Gesetz ist auch in Abuja (Federal Capital Territory) umgesetzt worden. Bei der Verbreitung gibt es erhebliche regionale Unterschiede. In einigen - meist ländlichen - Regionen im Südwesten und in der Region Süd-Süd ist die Praxis weit verbreitet, im Norden eher weniger. Während im Jahr 2013 der Anteil beschnittener Mädchen und Frauen noch bei 24,8 Prozent lag, waren es 2017 nur noch 18,4 Prozent.

Für Opfer von FGM/C bzw. für Frauen und Mädchen, die von FGM/C bedroht sind, gibt es Schutz und/oder Unterstützung durch staatliche Stellen und NGOs. Frauen, die von FGM/ C bedroht sind und die nicht in der Lage oder nicht willens sind, sich dem Schutz des Staates anzuvertrauen, können auf sichere Weise in einen anderen Teil Nigerias übersiedeln, wo es sehr unwahrscheinlich ist, dass sie von ihren Familienangehörigen aufgespürt werden. Frauen, welche diese Wahl treffen, können sich am neuen Wohnort dem Schutz von Frauen-NGOs anvertrauen.

Die Erstbeschwerdeführerin wurde - ebenso wie ihre Schwestern - nicht Opfer einer Genitalverstümmelung, da ihre Mutter dies verweigerte. Selbst wenn dies, wie von der Erstbeschwerdeführerin behauptet, zu Problemen zwischen ihrer Mutter und ihrem Vater geführt haben soll, zeigt dies doch, dass gegen den Willen der Erstbeschwerdeführerin eine Beschneidung der Viertbeschwerdeführerin nicht durchgeführt werden würde. Die Erstbeschwerdeführerin hatte in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass sie eine Genitalverstümmelung bei ihrer Tochter nicht zulassen würde. Sie meinte zwar, dass man dann geschlagen und missbraucht werde, da es Tradition sei, eine Genitalverstümmelung durchzuführen, doch ist dem erstens entgegenzuhalten, dass die Erstbeschwerdeführerin ja gemeinsam mit ihrem Ehemann nach Nigeria zurückkehrt, den Schutz ihrer Mutter erhalten könnte und dass insgesamt die Zahl der beschnittenen Frauen stark zurückgegangen ist. Zudem ist weibliche Genitalverstümmelung in Abuja verboten, so dass diesbezüglich auch ein staatlicher Schutz bestünde.

Zudem ist es nicht vorgesehen, im Verfahren zur Erlassung einer fremdenpolizeilichen Maßnahme letztlich ein Verfahren durchzuführen, das der Sache nach einem Verfahren über einen Asylantrag gleichkommt (VwGH, 31.08.2017, Ra 2016/21/0367 sowie 5.10.2017, Ra 2017/21/0157). In der mündlichen Verhandlung wurde die Erstbeschwerdeführerin explizit darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit besteht, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen; dem Bundesverwaltungsgericht liegen keine Informationen vor, dass dies bislang erfolgt wäre.

Im Falle der Beschwerdeführer besteht daher auch keine Gefahr einer Verletzung der in § 50 FPG genannten Rechte des Art. 2, 3 oder 8

EMRK.

Die Beschwerde war daher auch hinsichtlich des Spruchpunktes II. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG abzuweisen.

3.2.3. Zu Spruchpunkt III. der angefochtenen Bescheide:

Den Beschwerdeführern wurde gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt; nachdem mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichtes vom 04.03.2019 wurde den Beschwerden die aufschiebende Wirkung zuerkannt und Spruchpunkt IV. der angefochtenen Bescheide behoben. Daher ist den Beschwerdeführern eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren. Dass besondere Umstände, die die Beschwerdeführerin bei der Regelung ihrer persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hätte, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen würden, wurde nicht vorgebracht. Daher ist ihnen eine Frist von 14 Tagen zu gewähren.

Den Beschwerden war daher auch hinsichtlich des Spruchpunktes III. des angefochtenen Bescheides stattzugeben.

Zu B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Im Übrigen war eine auf die Umstände des Einzelfalls bezogene Prüfung vorzunehmen.

Schlagworte

Abschiebung, Asylverfahren, Aufenthaltsberechtigung besonderer
Schutz, Aufenthaltstitel, berücksichtigungswürdige Gründe,
Familienverfahren, freiwillige Ausreise, Frist, Integration,
Interessenabwägung, mündliche Verhandlung, öffentliche Interessen,
Privat- und Familienleben, private Interessen, Rückkehrentscheidung,
Verhältnismäßigkeit

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2019:I403.2215328.1.01

Zuletzt aktualisiert am

14.10.2019
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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