TE OGH 2019/4/24 7Ob67/19g

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Veröffentlicht am 24.04.2019
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Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Dr. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Heimaufenthaltssache des Bewohners M***** S*****, geboren am ***** 1965, *****, vertreten durch VertretungsNetz-Erwachsenenvertretung, Patientenanwaltschaft, Bewohnervertretung, *****, (Bewohnervertreterin Mag. M***** H*****), dieses vertreten durch Mag. Nikolaus Weiser, Rechtsanwalt in Wien, Einrichtungsleiterin Mag. E***** K*****, Erwachsenenvertreterin B***** W*****, wegen Überprüfung einer Freiheitsbeschränkung gemäß § 11 HeimAufG, über den Revisionsrekurs des Vereins gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck als Rekursgericht vom 31. Jänner 2019, GZ 54 R 4/19p-15, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Hall in Tirol vom 28. November 2018, GZ 18 Ha 1/18g-9, (mit einer Maßgabe) bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben.

Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung:

Der Bewohner befindet sich in einem Wohnhaus mit mehreren betreuten Personen und erhält regelmäßig Einzelbetreuung. Er leidet an einer schweren Intelligenzminderung mit einer deutlichen Verhaltensstörung im Sinn des ICD 10: F72.1. „Dieses Krankheitsbild entspricht dem Rechtsbegriff einer geistigen Behinderung.“ Die Verhaltensstörung äußert sich in selbstaggressiven Verhaltensweisen, wie zB Beißen in den Handrücken, sowie in selbstschädigenden Verhalten, wie zB Essen des eigenen Kots, von Zigarettenstummeln und Pflanzen. Zudem bestehen fremdaggressive Verhaltensweisen gegenüber anderen Bewohnern und gegenüber dem Personal durch Schubsen, an den Haaren ziehen, schlagen, Gegenstände werfen oder Möbel umwerfen. Die aggressiven Handlungen und auch die Angespanntheit haben zwar in den letzten zwei Jahren deutlich abgenommen, doch bestehen weiterhin regelmäßig selbst- und fremdgefährdende Handlungen und eine Stimmungslage, die Aggressionen befürchten lässt.

Der Bewohner bekommt eine Dauermedikation mit Lanolept 100 mg 3-mal 1, Temesta 2,5 mg 3-mal 1 sowie Risperdal 2 mg 3-mal 1. Der im Medikament Lanolept enthaltene Wirkstoff Clozapin wird in einer mittleren Dosierung verabreicht. Es handelt sich dabei um ein hochpotentes Neuroleptikum, welches dem Stand der medizinischen Wissenschaft entspricht und durch die entspannende Wirkung die Aggression und Angespanntheit des Bewohners lindert. Beim Medikament Risperdal wird mit insgesamt 6 mg Tagesdosis ebenfalls eine mittlere Dosierung eingehalten. Auch bei diesem Medikament handelt es sich um ein hochpotentes Neuroleptikum, dessen Wirkstoff Risperidon hauptsächlich der Linderung der Aggression und Angespanntheit und damit der Vermeidung von selbst- und fremdgefährdenden Handlungen dient. Die Verabreichung entspricht den anerkannten Methoden der Wissenschaft. Temesta wird mit 2,5 mg in einer eher hohen Dosis verabreicht. Bei Temesta handelt es sich um den Wirkstoff Lorazepam, der zur Gruppe der Benzodiazepine gehört. Dieser Wirkstoff wirkt anxiolytisch, muskelrelaxierend, krampflösend und sedierend. Die Kombination der Medikamente ist in der beschriebenen und verabreichten Dosierung aus psychiatrisch-gutachterlicher Sicht geeignet, um die beim Bewohner im Rahmen der geistigen Behinderung, nämlich der schweren Intelligenzminderung, auftretenden selbst- und fremdgefährdenden Verhaltensweisen zu verringern bzw im Idealfall zu unterdrücken. Es handelt sich dabei um eine gängige Therapiemethode lege artis.

Die für den Bewohner angeordnete Einzelfallmedikation Truxal 100 mg und Psychopax 50 Tropfen wird bei Anspannungszuständen und einem Kippen in aggressive selbst- oder fremdgefährdende Verhaltensweisen verabreicht. Beim Medikament Truxal (Wirkstoff Chlorprothixen) handelt es sich um ein niederpotentes Neuroleptika, welches zur Entspannung und Sedierung beiträgt. Bei Psychopax (Wirkstoff Diazepam) handelt es sich um ein Medikament aus der Gruppe der Benzodiazepine, welches ebenso zu einer Anxiolyse und Muskelrelaxion führt. Die Einnahme wirkt krampflösend und sedierend.

Insgesamt entspricht vom Verlauf der Erkrankung ausgehend die gesamte Medikation auch in ihren Kombinationen anerkannten Methoden und Grundsätzen der medizinischen Wissenschaft und ist nicht unverhältnismäßig. Wenngleich die Bedarfsmedikation im auch prüfungsrelevanten Zeitraum über fast 7 Tage verordnet wurde, ist trotzdem davon auszugehen, dass das Zustandsbild des Betroffenen mit vermehrter Auto- und Fremdaggression die häufige Bedarfsmedikation notwendig gemacht hat. Beim Betroffenen ist dadurch im genannten Zeitraum ein sogenanntes medikamenteninduziertes Parkinsonoid entstanden (kleinschrittiger Gang). Durch eine Reduktion der Medikamentendosierung ist dieses Gangbild reversibel. Der Betroffene wurde im fraglichen Zeitraum, trotz vermehrter Gabe der Bedarfsmedikation, als immer wieder unruhig und schreiend beschrieben und ergeben sich aus der Dokumentation auch aggressive Verhaltensweisen gegenüber Mitpatienten. Zusammengefasst ist die Intention der Verabreichung sämtlicher prüfungsrelevanter Medikamente in einer Reduktion der Angespanntheit und damit der Vermeidung der Aggression begründet und ist eine allenfalls leichte Sedierung lediglich als Nebenwirkung anzusehen. Der Betroffene benötigt aufgrund seines Störungsbildes die bei ihm zur Anwendung gebrachte Polypharmazie.

Im Heim werden beim Bewohner regelmäßig Deeskalationsstrategien angewandt, etwa durch Darreichung eines Apfels oder auch mehrerer Äpfel, wobei sich der Betroffene in diesem Zusammenhang gut ablenken lässt. Weiter gut ablenkbar ist der Bewohner durch die Verabreichung von Landjägern, die er sehr liebt. Jedoch ist insgesamt die Anwendung derartiger gelinderer Maßnahmen nur in manchen Situationen möglich. Bei hoher Anspannung des Betroffenen, wie sie auch immer wieder vorkommt, sind die beschriebenen selbst- und fremdaggressiven Handlungsweisen zu erwarten und ist daher auch eine entsprechende Zusatzmedikation zum Wohl des Bewohners angemessen.

Der Verein beantragte jeweils gemäß § 11 HeimAufG die Überprüfung der Freiheitsbeschränkung des Bewohners durch die Dauermedikation mit Lanolept 100 mg 1-1-0-1, Temesta 2,5 mg 1-1-0-1 und Risperdal 2 mg 1-1-1-0 sowie durch die Einzelfallmedikation Truxal 100 mg und Psychopax 50 gtt. Die Medikamente würden gegen die körperliche Aggressivität, Rastlosigkeit und Unruhe des Bewohners eingesetzt und stellten eine medikamentöse Freiheitsbeschränkung dar, die nicht gemeldet worden sei. Die Einzelfallmedikation habe nicht den Anordnungen des Facharztes entsprochen. Es fehle eine gesetzmäßige Dokumentation.

Das Erstgericht stellt fest, dass die Verabreichung der bezeichneten Medikamente keine Freiheitsbeschränkung darstelle. Es führte rechtlich aus, dass alle Medikamente auf eine Reduktion der Angespanntheit und auf die Vermeidung der Aggression des Bewohners abzielten. Eine damit allenfalls verbundene leichte Sedierung sei lediglich eine Nebenwirkung. Die Anwendung gelinderer Maßnahmen sei nur in manchen Situationen möglich. Bei hoher Anspannung des Bewohners seien selbst- und fremdaggressive Handlungsweisen zu erwarten und es sei daher auch eine entsprechende Zusatzmedikation zum Wohl des Bewohners angemessen.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Vereins nicht Folge und bestätigte die Entscheidung des Erstgerichts mit der Maßgabe, dass es den Überprüfungsantrag abwies. Es vertrat die Rechtsansicht, dass die verabreichten Medikamente zur Linderung der Aggression und Angespanntheit (Lanolept, Risperdal, Truxal) oder zur Anxiolyse und Muskelrelaxion (Temesta und Psychopax) dienten und insgesamt auch diese Wirkung auf den Bewohner hätten. Es liege allenfalls eine leichte Sedierung, aber keine medikamentöse Freiheitsbeschränkung im Sinn des HeimAufG vor.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei, weil es sich an höchstgerichtlicher Rechtsprechung habe orientieren können.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs des Vereins wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die Entscheidungen der Vorinstanzen dahin abzuändern, dass die am Bewohner vorgenommenen freiheitsbeschränkenden Maßnahmen durch Verabreichen der angesprochenen Medikation für unzulässig erklärt werde. Hilfsweise stellt der Verein auch einen Aufhebungsantrag.

Der Revisionsrekurs ist zur Wahrung der Rechtssicherheit zulässig und in seinem Aufhebungsantrag auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

A. Medikamentöse Freiheitsbeschränkung

1. Nach § 3 Abs 1 HeimAufG liegt eine Freiheitsbeschränkung im Sinn dieses Bundesgesetzes dann vor, wenn eine Ortsveränderung einer betreuten oder gepflegten Person (Bewohner) gegen oder ohne ihren Willen mit physischen Mitteln, insbesondere durch mechanische, elektronische oder medikamentöse Maßnahmen, oder durch deren Androhung unterbunden wird (vgl RIS-Justiz RS0075871 [T6, T19]).

2. Eine Freiheitsbeschränkung durch medikamentöse Mittel liegt dann vor, wenn die Behandlung unmittelbar, also primär, die Unterbindung des Bewegungsdrangs bezweckt, nicht jedoch bei unvermeidlichen bewegungsdämpfenden Nebenwirkungen, die sich bei der Verfolgung anderer therapeutischer Ziele, namentlich bei der Behandlung der Grunderkrankung, ergeben können (RS0121227; vgl 7 Ob 205/16x). Die Beurteilung, ob unter diesem Gesichtspunkt eine Freiheitsbeschränkung vorliegt, erfordert Feststellungen darüber, 1. welchen therapeutischen Zweck die Anwendung jedes einzelnen der zu überprüfenden Medikamente verfolgt, 2. ob die Medikamente (insbesondere in der dem Bewohner verabreichten Dosierung und Kombination) dieser Zweckbestimmung entsprechend eingesetzt wurden und werden und 3. welche konkrete Wirkung für den Bewohner mit dem Einsatz der Medikamente verbunden war und ist (RS0123875).

3. Dient dagegen der primäre Zweck des Medikamtenteneinsatzes der Unterbindung von Unruhezuständen, des Bewegungsdrangs und der Beruhigung, also zur „Ruhigstellung“ (gegen Aggression, Enthemmung, Unruhe etc), ist die medikamentöse Therapie als Freiheitsbeschränkung zu qualifizieren (2 Ob 77/08z mwN; Höllwerth in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG II § 3 HeimAufG Rz 23; Bürger/Halmich, Heimaufenthaltsgesetz 49; Neumayr/Resch/Wallner, Gmundner Kommentar zum Gesundheitsrecht, 2309 Rz 8). In diesem Sinn können der Einsatz von Neuroleptika, Antidepressiva und Tranquilizer eine Freiheitsbeschränkung begründen (Strickmann, Heimaufenthaltsrecht2 113). Beim Einsatz solcher Medikamente sind daher für die Beurteilung des Vorliegens einer Freiheitsbeschränkung im Sinn des HeimAufG – wie bereits zuvor dargestellt – der therapeutische Einsatzzweck, die verabreichte Dosierung und gegebenenfalls die Kombination sowie die konkrete Wirkung auf den Bewohner maßgeblich (vgl RS0123875; Höllwerth in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG II § 3 HeimAufG Rz 26).

4. Die vom Erstgericht mehrfach beschriebenen Ergebnisse der Medikamentengabe waren zusammengefasst die „Reduktion der Angespanntheit“ sowie die „Vermeidung der Aggression“. Ob dabei allerdings die Grunderkrankung Behandlungsziel und die „Ruhigstellung“ des Bewohners lediglich damit verbundene Nebenwirkung war oder primär die „Ruhigstellung“ angestrebt war, lässt sich den Feststellungen des Erstgerichts nicht mit der notwendigen Klarheit entnehmen, was eine dahin gehende Ergänzung der Tatsachengrundlage erfordert. Dass die gesamte Medikation auch in ihrer Kombination anerkannten Methoden und Grundsätzen der medizinischen Wissenschaft entsprach und nicht unverhältnismäßig war, steht der Annahme einer Freiheitsbeschränkung allerdings nicht entgegen (vgl 2 Ob 77/08z).

B. Subsidiaritätsklausel

1. Nach § 4 Z 3 HeimAufG darf eine Freiheitsbeschränkung nur vorgenommen werden, wenn die in § 4 Z 1 näher umschriebene Selbst- und/oder Fremdgefährdung nicht durch andere Maßnahmen, insbesondere schonendere Betreuungs- oder Pflegemaßnahmen, abgewendet werden kann (Subsidiaritätsklausel). Die Gefährdung darf also nicht durch andere (pflegerische) Maßnahmen, die nicht (oder weniger) in die Freiheitsrechte des Bewohners eingreifen, abgewendet werden können (7 Ob 134/14b; Höllwerth in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG II § 4 HeimaufG Rz 26). Die angeordnete Freiheitsbeschränkung muss sowohl das gelindeste Mittel als auch die „ultima ratio“ sein (ErläutRV 353 BlgNR 22. GP 11).

2. Ob im Fall des Vorliegens einer Freiheitsbeschränkung diesen Anforderungen entsprochen wurde, lässt sich auf der Grundlage der erstinstanzlichen Feststellungen nicht verlässlich beurteilen. Das Erstgericht hat zwar einzelne beim Bewohner angewandte Deeskalationsstrategien beschrieben, ob aber noch andere (pflegerische) Maßnahmen in Frage kommen und inwieweit bei deren Einsatz gegebenenfalls auf (einzelne) Medikamente verzichtet oder deren Dosis hätte verringert werden können, ist ungeklärt geblieben.

C. Dokumentation

Nach § 6 Abs 1 HeimAufG sind der Grund, die Art, der Beginn und die Dauer der Freiheitsbeschränkung schriftlich zu dokumentieren. Ärztliche Zeugnisse und der Nachweis über die notwendigen Verständigungen sind diesen Aufzeichnungen anzuschließen. Die Dokumentation ist eine formelle Voraussetzung der Freiheitsbeschränkung. Fehlt in der Dokumentation eine Angabe zum Grund zur Gänze, so liegt jedenfalls ein derart gravierender Mangel vor, der zur Unzulässigkeit der Maßnahmen führen muss, auch wenn sie an sich zulässig gewesen wäre. Belegen die Angaben in der Dokumentation zum Grund der Maßnahme nicht die Voraussetzungen für den Freiheitsentzug, so ist die Maßnahme unzulässig, weil ansonsten der Dokumentationspflicht der Sinn entzogen wäre. Eingeschränkt können die dargelegten Grundsätze dann werden, wenn auch nachträglich noch in den relevanten Zeiträumen eindeutig ein Gefährdungszustand, der die Freiheitsbeschränkung zulässig macht, aus anderen Urkunden objektivierbar ist und es in der Dokumentation unterlassen wurde, auf diese zu verweisen. Ergibt sich in der Zusammenschau kein Zweifel am zu Grunde liegenden Sachverhalt, so liegt ein relevanter Dokumentationsmangel, der zur Unzulässigkeit der Maßnahme führen muss, nicht vor (vgl 7 Ob 235/11a; 7 Ob 249/11k). Ob im vorliegenden Fall – sollte eine Freiheitsbeschränkung anzunehmen sein – der Dokumentationspflicht entsprochen wurde, haben die Vorinstanzen infolge abweichender Rechtsansicht nicht geklärt.

D. Aufklärungs- und Verständigungspflichten

§ 7 HeimAufG sieht ebenfalls als formelle Voraussetzung der Freiheitsbeschränkung Aufklärungs- und Verständigungspflichten vor. Die Unterlassung der Verständigung ist kein bloßer Verstoß gegen eine Ordnungsvorschrift. Sie bewirkt die Unzulässigkeit der Maßnahme. Die Unzulässigkeit dauert allerdings nur bis zu jenem Zeitpunkt, in welchem der Bewohnervertreter tatsächlich Kenntnis von der angegebenen Freiheitsbeschränkung erlangt hat. Ab dieser Kenntnis ist die Unterlassung der Verständigung saniert, sodass die vorangegangene Unzulässigkeit der Freiheitsbeschränkung der Zulässigkeit hinsichtlich nachfolgender Zeiträume nicht entgegensteht (RS0121228). Ob im vorliegenden Fall – falls eine Freiheitsbeschränkung anzunehmen ist – den Aufklärungs- und Verständigungspflichten entsprochen wurde, haben die Vorinstanzen infolge abweichender Rechtsansicht nicht geklärt.

E. Bedarfsmedikation

Der Verein begehrt die Überprüfung der näher bezeichneten Bedarfsmedikation „gemäß § 11 HeimAufG“. Die dabei vorgesehenen Medikamente sind allerdings an bestimmten Tagen auch tatsächlich zum Einsatz gekommen. Insofern bedarf es einer Erörterung und Klarstellung des Überprüfungsantrags:

Der erkennende Senat hat bereits ausgesprochen, dass die bloße ärztliche Anordnung eines gegebenenfalls eine Freiheitsbeschränkung herbeiführenden Medikaments unter bestimmten Voraussetzungen ohne dessen tatsächliche Verabreichung (Bedarfsmedikation) für sich allein noch keine Freiheitsbeschränkung im Sinn des § 3 Abs 1 HeimAufG begründet. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut dieser Bestimmung, wird doch mit der bloßen Anordnung noch keine Ortsveränderung unterbunden und „wirkungslose“ Maßnahmen sind nicht als Freiheitsbeschränkungen zu werten. Zudem wird aus § 7 Abs 1 und 2 HeimAufG deutlich, dass dieses Gesetz generell an tatsächlich umgesetzte Freiheitsbeschränkungen anknüpft und nur eine bereits wirksame – nicht aber eine bloß beabsichtigte – Freiheitsbeschränkung aufgehoben werden kann. Sofern aber mit der Anordnung eines Medikaments beim Bewohner ein bestimmtes freiheitsbeschränkendes Verhalten veranlasst wird oder dieser den Eindruck gewinnen muss, keine andere Möglichkeit zu haben, als ein bestimmtes gewünschtes Verhalten zu setzen, andernfalls das Medikament verabreicht wird, liegt eine Androhung im Sinn des § 3 Abs 1 HeimAufG und damit eine Freiheitsbeschränkung vor (7 Ob 205/16x). Das Erstgericht wird daher im fortgesetzten Verfahren mit dem Verein zu erörtern und klarzustellen haben, ob der die Bedarfsmedikation betreffende Antragsteil darauf abzielt, diese generell im zuvor dargestellten Sinn als Androhung einer Freiheitsbeschränkung oder ob bestimmte, gegebenenfalls zu konkretisierende tatsächliche Verabreichungen als bereits erfolgte Freiheitsbeschränkungen zu überprüfen sind. Trifft Letzteres zu, müssen auch insoweit das Vorliegen einer Freiheitsbeschränkung, bejahendenfalls allfällige schonendere Maßnahmen und die Einhaltung der Dokumentationspflicht sowie der Aufklärungs- und Verständigungspflichten geprüft werden.

F. Ergebnis:

1. Ob die vom Überprüfungsantrag erfassten Medikationen der Behandlung der Grunderkrankung dienten oder primär der „Ruhigstellung“ des Bewohners und diese deshalb als Freiheitsbeschränkungen zu qualifizieren sind, ist erst nach Ergänzung der Sachverhaltsgrundlage zweifelsfrei zu beurteilen. Dies erfordert konkrete und aussagekräftige Feststellungen darüber, 1. welchen therapeutischen Zweck die Anwendung jedes einzelnen der zu überprüfenden Medikamente verfolgt, 2. ob die Medikamente (insbesondere in der dem Bewohner verabreichten Dosierung und Kombination) dieser Zweckbestimmung entsprechend eingesetzt wurden und werden und 3. welche konkrete Wirkung für den Bewohner mit dem Einsatz der Medikamente verbunden war und ist. Diese wird das Erstgericht bei seiner neuerlichen Entscheidung zu treffen haben. Dass die Art der Behandlung als lege artis einzustufen sein mag, vermag allein das Vorliegen einer medikamentösen Freiheitsbeschränkung nicht auszuschließen.

2. Ist eine Freiheitsbeschränkung des Bewohners vorgelegen, wird das Erstgericht betreffend die Dauermedikation ergänzend zu prüfen haben, ob durch andere schonendere Maßnahmen auf die Verabreichung der Medikamente hätte verzichtet oder deren Dosierung hätte geringer gehalten werden können. Überdies sind die Einhaltung der Dokumentations-, Aufklärungs- und Verständigungspflichten zu prüfen.

3. Betreffend die Bedarfsmedikation wird der Überprüfungsantrag dahin zu konkretisieren sein, ob diese insgesamt als Androhung einer Freiheitsbeschränkung oder ob einzelne, gegebenenfalls zu konkretisierende Verabreichungen einer Prüfung unterzogen werden sollen.

4. Dem Revisionsrekurs war somit zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung durch das Erstgericht Folge zu geben.

Textnummer

E125112

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2019:0070OB00067.19G.0424.000

Im RIS seit

31.05.2019

Zuletzt aktualisiert am

09.12.2019
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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