TE OGH 2011/5/30 2Ob19/11z

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Veröffentlicht am 30.05.2011
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Solé, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj Stefan B*****, über den Revisionsrekurs des Vaters Herbert B*****, vertreten durch Dr. Thomas Krankl, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 21. Dezember 2010, GZ 43 R 747/10m-S-299, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Favoriten vom 15. Oktober 2010, GZ 26 P 28/07z-S-287, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Der Antrag auf Zuspruch der Kosten des Revisionsrekurses wird abgewiesen.

Text

Begründung:

Der am 22. 7. 1999 geborene Minderjährige ist der Sohn der (wiederverehelichten) Jelena S***** und des Herbert B*****, deren Ehe mit Beschluss des Bezirksgerichts Favoriten vom 23. 3. 2006 gemäß § 55a EheG geschieden wurde. Der Vater ist österreichischer Staatsbürger, die Mutter ist serbische Staatsangehörige. Der Minderjährige besitzt nach der Aktenlage sowohl die österreichische als auch - seit 3. 6. 2002 - die serbische Staatsbürgerschaft.

Der Minderjährige wuchs im elterlichen Haushalt in Österreich heran, den der Vater am 24. 3. 2005 verlassen hat. Seither leben die Eltern getrennt. Im Scheidungsfolgenvergleich vereinbarten sie die alleinige Obsorge der Mutter. Die Regelung des Besuchsrechts wurde vorbehalten, wobei sich der Vater verpflichtete, bis zu einer rechtskräftigen Besuchsrechtsentscheidung das Zusammentreffen mit seinem Sohn zu vermeiden. Nach Befassung eines Sachverständigen genehmigte das Erstgericht mit Beschluss vom 9. 8. 2006 die den Minderjährigen betreffenden Vergleichspunkte. Dieser Beschluss wurde den Rechtsanwälten der Eltern am 22. 8. 2006 zugestellt und erwuchs unbekämpft in Rechtskraft.

In der Folge stellte der - mittlerweile unvertretene - Vater mehrere (erfolglose) Fristsetzungsanträge, um auf diesem Weg zu erreichen, dass das Gutachten des Sachverständigen erörtert und eine Entscheidung über das „gesetzliche Besuchsrecht“ getroffen wird. Am 13. 11. 2007 beantragte er anlässlich einer Vorsprache beim Erstgericht, ihm vorerst ein Besuchsrecht in der Form einzuräumen, dass er seinen Sohn, zu dem er seit mehr als 2 ½ Jahren keinen Kontakt mehr gehabt habe, einmal wöchentlich für jeweils 2 Stunden in einem Besuchscafé sehen könne. Der zu einer Stellungnahme aufgeforderte Jugendwohlfahrtsträger äußerte sich am 27. 12. 2007 dahin, dass die Mutter den Minderjährigen nach einem „Vorfall“ am 2. 2. 2007 nach Serbien gebracht habe, wo er seither von den mütterlichen Großeltern betreut werde und auch die Schule besuche.

Daraufhin brachte der Vater am 7. 1. 2008 eine Eingabe ein, die unter anderem Anträge „auf sofortige Rückführung des Kindes nach Haager Abkommen“, Übertragung der Obsorge, Auskunftserteilung und vorläufige Regelung des Besuchsrechts „bis zur Rückführung des Kindes“ enthielt. Der zuletzt erwähnte Provisorialantrag wurde am 27. 3. 2009 wiederholt.

Bereits mit Beschluss vom 23. 1. 2008 wies das Erstgericht den Antrag auf sofortige Rückführung des Kindes zurück. Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung mit der Maßgabe, dass der Antrag auf Rückführung des Kindes abgewiesen wird. Der gegen diese Entscheidung erhobene außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters wurde mit Beschluss des Obersten Gerichtshofs vom 27. 11. 2008 zurückgewiesen (2 Ob 258/08t). Über den Antrag auf Einräumung eines einstweiligen Besuchsrechts entschied das Erstgericht mit abweisendem Beschluss vom 17. 6. 2009 (ON-S-190), der nach einer bestätigenden Rekursentscheidung vom 29. 7. 2009 (ON-S-203) in Rechtskraft erwuchs.

Am 18. 6. 2010 beantragte der Vater abermals die „Festlegung eines sofortigen einstweiligen Besuchsrechts“. Er brachte vor, es sei ihm zum Wohle des Minderjährigen unverzüglich ein Besuchsrecht einzuräumen, um einer weiteren Entfremdung entgegenzuwirken. Das Gericht sei nicht in der Lage, die Interessen des im Ausland aufhältigen Minderjährigen wahrzunehmen. Des Weiteren trage das vorläufige Besuchsrecht dazu bei, den geänderten Entwicklungsstand des Kindes aufzuzeigen, zumal die Mutter ihren Informationspflichten nicht nachkomme.

Die Mutter sprach sich (weiterhin) gegen ein Besuchsrecht des Vaters aus, weil dieser das Kind bei Besuchskontakten mit hoher Wahrscheinlichkeit „weiter beschädigen“ würde.

Mit dem angefochtenen Beschluss wies das Erstgericht „sämtliche Anträge des Vaters“ auf Festlegung eines sofortigen einstweiligen Besuchsrechts ab. Dabei ging es im Wesentlichen von folgendem Sachverhalt aus:

Der Minderjährige befindet sich seit Februar 2007 bei den mütterlichen Großeltern in Serbien, wo er mit diesen und seiner Mutter im gemeinsamen Haushalt lebt. Die Mutter ist vorübergehend in Österreich beschäftigt und pendelt zwischen Österreich und Serbien. Der Minderjährige verfügt über ein eigenes Zimmer, welches seinen Interessen und seinem Alter entsprechend ausgestattet ist. Er ist in den (serbischen) Familienverband gut eingebunden und auch in die Klassengemeinschaft der Elementarschule völlig integriert. Die vierte Klasse hat er mit ausgezeichnetem Erfolg abgeschlossen.

Des Weiteren hielt das Erstgericht noch fest, dass der Minderjährige laut Stellungnahme der serbischen Behörde (Amt für Jugend und Familie) und den Angaben der Mutter in Serbien bleiben wolle und Besuchskontakte zum Vater ablehne. Eine diesbezügliche endgültige Beurteilung könne jedoch erst nach der - mit Rechtshilfeersuchen vom 24. 9. 2010 veranlassten - Einvernahme des Minderjährigen durch das zuständige serbische Gericht erfolgen. Derzeit könne eine konkrete Gefährdung des Kindeswohls aufgrund des Fehlens von Besuchskontakten zum Vater nicht festgestellt werden. Auch diesbezüglich sei für eine abschließende Beurteilung die Einvernahme des Minderjährigen erforderlich.

In rechtlicher Hinsicht vertrat das Erstgericht die Ansicht, mangels konkreter Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Kindeswohls durch das Unterbleiben des Kontakts zum Vaters sei der Provisorialantrag abzuweisen.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei.

Es führte aus, der vorliegende Fall sei dadurch gekennzeichnet, dass sich der nunmehr 11-jährige Minderjährige und der Vater seit dem Jahr 2005 nicht mehr gesehen hätten und der Minderjährige seit Februar 2007 in Serbien lebe. Wenngleich der Vater zutreffend darauf verweise, dass im Allgemeinen ein Besuchskontakt zwischen minderjährigen Kindern und dem die Obsorge nicht innehabenden Elternteil stattzufinden habe, seien dennoch vor einer solchen Entscheidung alle dafür nötigen Sachverhaltsgrundlagen zu ermitteln. Aus § 105 AußStrG folge aber, dass der Minderjährige persönlich zu hören sei. Diese Bestimmung sei auch für Verfahren auf Einräumung eines einstweiligen Besuchsrechts und ungeachtet des Umstands, dass der Pflegschaftsrichter an den Wunsch des Kindes nicht gebunden sei, maßgeblich. Die Anhörung sei gerade hier notwendig, um die Sicht des Minderjährigen im Hinblick auf die Modalitäten eines allfälligen Kontakts zu erfahren. Daher sei die Einräumung eines einstweiligen Besuchsrechts nicht möglich.

Der ordentliche Revisionsrekurs sei zuzulassen, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu der Frage fehle, inwieweit § 105 AußStrG auch im Verfahren auf Einräumung eines einstweiligen Besuchsrechts maßgeblich sei.

Gegen diesen Beschluss richtet sich der Revisionsrekurs des Vaters mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinne der Stattgebung seines Provisorialantrags abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Mutter erklärte, auf die Erstattung einer Revisionsrekursbeantwortung zu verzichten.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig; er ist im Sinne des Eventualantrags auch berechtigt.

Der Vater macht zusammengefasst geltend, § 107 Abs 2 AußStrG verfolge mit der Möglichkeit einer einstweiligen Besuchsrechtsregelung den Zweck, einer langen Verfahrensdauer vorzubeugen und den im Interesse des Kindeswohls gebotenen Kontakt zum Kind so rasch wie möglich wiederherzustellen. Der mit der Vernehmung des Minderjährigen in Serbien verbundene weitere Aufschub der Regelung des Besuchsrechts gefährde das Wohl des Minderjährigen und hätte daher gemäß § 105 Abs 2 AußStrG unterbleiben müssen. Sollte aber eine Befragung des Minderjährigen dennoch als unerlässlich erachtet werden, so habe diese jedenfalls vor dem erkennenden Gericht in Österreich zu erfolgen, eine Rechtshilfevernehmung reiche nicht aus. Schließlich gehe das Rekursgericht zu Unrecht davon aus, dass infolge der allenfalls bereits eingetretenen Entfremdung zwischen Vater und Sohn eine Gefährdung des Kindeswohls durch eine weitere unabsehbare Verfahrensverzögerung nicht mehr zu besorgen sei.

Hiezu wurde erwogen:

I. Zur Rechtskraft der Entscheidung vom 17. 6. 2009:

Auch im Außerstreitverfahren ergangene Entscheidungen sind der materiellen und formellen Rechtskraft fähig; sie binden die Betroffenen und die Gerichte. Es kommt daher grundsätzlich auch abweisenden Beschlüssen im Außerstreitverfahren die gleiche Rechtskraftwirkung zu wie einem nach den Vorschriften der ZPO ergangenen Urteil oder Beschluss (2 Ob 204/09b mwN; RIS-Justiz RS0007171). Dass dies auch für (abweisende) Entscheidungen über Provisorialanträge nach § 107 Abs 2 AußStrG gilt, hat der Oberste Gerichtshof bereits klargestellt (vgl 3 Ob 140/08x).

Nur gegenüber nachträglichen Tatbestandsänderungen hält die materielle Rechtskraft nicht stand. Im außerstreitigen Verfahren ergangene Entscheidungen können daher nur bei einer Änderung der Verhältnisse abgeändert werden (RIS-Justiz RS0007148). Entscheidend ist, ob gegenüber jenem Sachverhalt, der für die frühere Entscheidung maßgeblich war, eine Änderung eingetreten ist (RIS-Justiz RS0007201) oder wenn Tatsachen vorliegen, die zur Zeit der früheren Entscheidung zwar bereits eingetreten, dem Gericht aber erst nachträglich bekannt geworden sind (vgl 2 Ob 90/09p mwN; RIS-Justiz RS0007148).

In der Vorentscheidung vom 17. 6. 2009 hatte das Erstgericht überhaupt keinen Sachverhalt festgestellt. Zu diesem Zeitpunkt lagen ihm noch keine aussagekräftigen Erhebungsergebnisse über die Lebenssituation des Minderjährigen in Serbien vor, was es in der Begründung seines Beschlusses auch zum Ausdruck brachte. Erst diese Erkenntnisse würden Grundlage für eine abschließende Entscheidung über das Besuchsrecht sein (vgl ON-S-190; ebenso das Rekursgericht in ON-S-203). Der Vater hatte seinem damaligen Provisorialantrag überdies noch die durch die Äußerung des Jugendwohlfahrtsträgers (vgl ON-S-91: „... keine Dauerlösung ...“) bestärkte Erwartung zugrunde gelegt, dass der Aufenthalt des Minderjährigen in Serbien nur von begrenzter Dauer sein werde (vgl ON-S-92: „... bis zur Rückführung ...“).

Mittlerweile liegen die in der Vorentscheidung angesprochenen Erhebungsergebnisse vor, die nun auch Grundlage der oben wiedergegebenen erstinstanzlichen Feststellungen sind. Die angekündigte Entscheidung wurde nicht getroffen, sondern es wurde am 24. 9. 2010 ein weiteres Rechtshilfeersuchen (auf Befragung des Minderjährigen durch ein serbisches Gericht) gestellt. Die Abweisung des neuerlichen Provisorialantrags wurde damit begründet, dass nunmehr diese Erhebungsergebnisse abzuwarten seien.

Bei dieser Sachlage liegen geänderte tatsächliche Verhältnisse im Sinne der erörterten Rechtsprechung vor. Sofern der Vater die Überprüfung des neuen Abweisungsgrundes anstrebt, steht dem die Rechtskraft der Vorentscheidung nicht entgegen.

II. Zur internationalen Zuständigkeit:

Der Minderjährige hatte im Zeitpunkt der Antragstellung des Vaters seinen gewöhnlichen Aufenthalt bereits in Serbien, das weder Mitgliedstaat der Brüssel IIa-VO, noch Vertragsstaat des Haager Minderjährigenschutzübereinkommens vom 5. 10. 1961 (MSA; vgl Nademleinsky/Neumayr, Internationales Familienrecht Rz 08.08) oder des mit 1. 4. 2011 auch für Österreich in Kraft getretenen Haager Übereinkommens vom 19. 10. 1996 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern (KSÜ, BGBl III 2011/49; zum Ratifikationsstand siehe die Webseite der Haager Konferenz, www.hcch.net) ist. Auch der im Verhältnis zu Serbien weiter in Geltung stehende Konsularvertrag zwischen der Republik Österreich und der föderativen Volksrepublik Jugoslawien, BGBl 1968/378, enthält mit einer hier nicht interessierenden Ausnahme (Art 25) keine Zuständigkeitsregeln (vgl L. Fuchs, Internationale Zuständigkeit in Außerstreitverfahren [2004] Rz 222; dieselbe in Burgstaller/Neumayr IZVR Kap 51 Rz 46). In einem solchen Fall ist die internationale Zuständigkeit des angerufenen Gerichts aufgrund Art 14 Brüssel IIa-VO nach dem autonomen nationalen Zuständigkeitsrecht zu beurteilen, hier somit nach § 110 JN (Nademleinsky/Neumayr aaO Rz 08.25; vgl auch Rz 08.41). Im Hinblick auf die österreichische Staatsbürgerschaft des Minderjährigen ist gemäß § 110 Abs 1 Z 1 iVm § 109 Abs 1 JN für die vom Vater beantragte (einstweilige) Regelung des Besuchsrechts die inländische Gerichtsbarkeit gegeben. Daran ändert nichts, dass der Minderjährige auch serbischer Staatsangehöriger ist (vgl 4 Ob 112/02b; 6 Ob 98/10w; Mayr in Rechberger, ZPO3 § 110 JN Rz 2). Das bedeutet auch, dass österreichisches Verfahrensrecht anzuwenden ist.

III. Zum anzuwendenden materiellen Recht:

Nach § 24 IPRG sind die Wirkungen der Ehelichkeit eines Kindes nach seinem Personalstatut zu beurteilen. Diese Anknüpfung gilt mit Ausnahme des Kindesnamens und des Erbrechts für alle familienrechtlichen Kindschaftswirkungen (vgl 4 Ob 112/02b; RIS-Justiz RS0076581, RS0076578), somit auch das Recht auf persönlichen Verkehr (Neumayr in KBB3 § 24 IPRG Rz 1; Verschraegen in Rummel, ABGB3 II/6 § 24 IPRG Rz 3).

Gemäß § 9 Abs 1 Satz 1 IPRG richtet sich das Personalstatut einer natürlichen Person nach der Staatsangehörigkeit („Heimatrecht“). Besitzt ein Doppel- oder Mehrstaater auch die österreichische Staatsangehörigkeit, so ist nach § 9 Abs 1 Satz 2 IPRG allein diese maßgebend (1 Ob 2155/96k; 4 Ob 112/02b; Neumayr aaO § 9 IPRG Rz 2; Verschraegen aaO § 9 Rz 2). Demnach ist von der Anwendung österreichischen Rechts auszugehen.

IV. Zur Sache:

1. Das in § 148 Abs 1 ABGB normierte Recht des minderjährigen Kindes und des mit ihm nicht im gemeinsamen Haushalt lebenden Elternteils, miteinander persönlich zu verkehren (Besuchsrecht), ist ein Grundrecht der Eltern-Kind-Beziehung und ein allgemein anzuerkennendes, unter dem Schutz des Art 8 EMRK stehendes Menschenrecht (2 Ob 26/07y; 5 Ob 167/09h; 6 Ob 148/10y; RIS-Justiz RS0047754; Hopf in KBB3 § 148 Rz 1; Nademleinsky in Schwimann, ABGB3 I § 148 Rz 1; Thunhart in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang3 § 148 Rz 1). Sein Zweck ist es, die Bindung zwischen Eltern und Kind aufrecht zu erhalten, eine gegenseitige Entfremdung zu verhindern und dem nicht betreuenden Elternteil die Möglichkeit zu geben, sich von der Erziehung und dem Gesundheitszustand des Kindes zu überzeugen (7 Ob 102/06k; RIS-Justiz RS0049070; Hopf aaO § 148 Rz 1). Auch eine bereits eingetretene Entfremdung ist kein Grund, dem Kind oder dem nicht im gemeinsamen Haushalt lebenden Elternteil die Ausübung des Besuchsrechts zu versagen. Der Zweck des Besuchsrechts liegt dann darin, die eingetretene Entfremdung behutsam und durch eine dem Kindeswohl entsprechende Ausgestaltung wieder abzubauen (vgl 7 Ob 678/88; Thunhart aaO § 148 Rz 41; Jausovec, Das Besuchsrecht zwischen Eltern und Kindern [2009], 169). Die Integration des Kindes in seiner neuen Familie ist ebensowenig ein Hindernis (7 Ob 678/88; Jausovec aaO 170), wie sein dauernder Aufenthalt im Ausland, mag dieser die Ausübung des Besuchsrechts unter Umständen auch erheblich erschweren (vgl 8 Ob 620/85; RIS-Justiz RS0048002).

Einem Elternteil steht das Besuchsrecht nur insoweit nicht zu, als das Wohl des Kindes durch dessen Ausübung massiv gefährdet werden würde. Nur bei einer derartigen schwerwiegenden Gefährdung hat in einem - selbst unverschuldeten - Konfliktfall der Besuchsrechtsanspruch eines Elternteils gegenüber dem Kindeswohl zurückzutreten (2 Ob 26/07y mwN; 5 Ob 167/09h; 6 Ob 148/10y; RIS-Justiz RS0047955, RS0048068).

2. Kind und Eltern sollen die Ausübung des Besuchsrechts einvernehmlich regeln. Nur soweit ein solches Einvernehmen nicht erzielt werden kann, hat das Gericht auf Antrag des Kindes und eines Elternteils die Ausübung dieses Rechts unter Bedachtnahme auf die Bedürfnisse und Wünsche des Kindes in einer dessen Wohl gemäßen Weise zu regeln (vgl § 148 Abs 1 Satz 2 und 3 ABGB). Ausschlaggebend ist stets das Wohl des Kindes, Wünsche und Bedürfnisse der Eltern treten dem gegenüber in den Hintergrund (vgl RIS-Justiz RS0048062, RS0087024; Hopf aaO § 148 Rz 5). Der Wille des Kindes stellt ein wichtiges, jedoch nicht allein maßgebliches Kriterium dar, da dieser nicht selten von außen beeinflusst ist und Schwankungen unterliegen kann (1 Ob 157/09h). Je älter aber ein bereits einsichts- und urteilsfähiges Kind ist, desto eher wird seinem Wunsch zu entsprechen sein (vgl 5 Ob 167/09h; 6 Ob 148/10y; Hopf aaO § 148 Rz 5).

Um dem Kind eine unbeeinflusste Meinungsäußerung zu ermöglichen, sieht § 105 AußStrG seine Befragung vor. Danach hat das Gericht Minderjährige in Verfahren über Pflege und Erziehung oder das Recht auf persönlichen Verkehr grundsätzlich persönlich zu hören, es sei denn, es liegt einer der in § 105 Abs 1 Satz 2 AußStrG aufgezählten Fälle vor (1 Ob 157/09h), wenn also das Kind entweder das zehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, dies seine Entwicklung oder sein Gesundheitszustand erfordert, oder wenn sonst eine Äußerung der ernsthaften und unbeeinflussten Meinung des Minderjährigen nicht zu erwarten ist. In diesen Fällen kann die Anhörung auch durch den Jugendwohlfahrtsträger, durch Einrichtungen der Jugendgerichtshilfe oder in anderer geeigneter Weise, etwa durch Sachverständige, erfolgen (vgl Deixler-Hübner in Rechberger, AußStrG § 105 Rz 2). Nur aus den in § 105 Abs 2 AußStrG genannten zwei Gründen kann die Befragung überhaupt unterbleiben, wenn nämlich durch diese oder einen damit verbundenen Aufschub der Verfügung das Wohl des Minderjährigen gefährdet wäre oder im Hinblick auf die Verständnisfähigkeit des Minderjährigen offenbar eine überlegte Äußerung zum Verfahrensgegenstand nicht zu erwarten ist (3 Ob 186/05g).

3. Die Zulässigkeit, die Art und der Umfang von Provisorialentscheidungen im außerstreitigen Verfahren ergeben sich aus der Verpflichtung des Pflegschaftsrichters, den Unterhalt sowie die Pflege und Erziehung der Kinder in deren Interesse zu sichern (RIS-Justiz RS0007009). Liegt eine konkrete und schwere Gefährdung des Kindeswohls vor, die sofortige und rasche Maßnahmen erfordert, ist eine einstweilige Anordnung nach § 107 Abs 2 AußStrG zu treffen (1 Ob 157/09h mwN). Im Besuchsrechtsverfahren sind Provisorialmaßnahmen bereits dann zulässig, wenn eine Entfremdungsgefahr droht (1 Ob 157/09h; Nademleinsky aaO § 148 Rz 13).

Im vorliegenden Fall hat der Vater seit dem Verlassen der Ehewohnung im März 2005 zu seinem (damals 5 ½-jährigen Sohn) keinen persönlichen Kontakt. Es ist davon auszugehen, dass eine weitgehende Entfremdung eingetreten ist. Dieser Zustand widerspricht nach den erörterten Grundsätzen dem Kindeswohl, weshalb grundsätzlich eine möglichst rasche, wenngleich behutsame Anbahnung von Besuchskontakten im Interesse des Kindes geboten ist. Besteht doch ein dringendes Regelungsbedürfnis gerade in jenen Fällen, in denen bereits eine gewisse Entfremdung eingetreten ist (vgl 1 Ob 157/09h).

Die erstinstanzliche Feststellung, eine konkrete Gefährdung des Kindeswohls aufgrund Fehlens von Besuchskontakten zum Vater könne derzeit nicht festgestellt werden, steht dieser Beurteilung nicht im Wege. Sie geht von einer unzutreffenden Prämisse aus, weil das Fehlen des Besuchskontakts über einen mehrjährigen Zeitraum eine solche Gefährdung indiziert. Umgekehrt bieten die bisherigen Feststellungen aber keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Annahme, dass das Wohl des Minderjährigen durch einen raschen, in seiner Ausgestaltung der langjährigen Kontaktunterbrechung und den seither wesentlich veränderten Lebensumständen des Kindes Rechnung tragenden Aufbau von Besuchskontakten zu seinem Vater gefährdet wäre. Die bisherigen Verfahrensergebnisse zum Willen des Kindes hat das Erstgericht noch nicht als taugliche Grundlage für eine entsprechende Feststellung angesehen.

4. Dennoch kommt vorerst weder eine „sofortige“ Stattgebung noch eine Abweisung des Provisorialantrags in Betracht. Wie bereits erörtert wurde, ist die Verfahrensbestimmung des § 105 AußStrG in allen Verfahren über Pflege und Erziehung oder das Recht auf persönlichen Verkehr, somit aber auch in einem das Besuchsrecht betreffenden Provisorialverfahren nach § 107 Abs 2 AußStrG, beachtlich (vgl 1 Ob 157/09h). Zwar dürfen bei einer vorläufigen Entscheidung sogar notwendige Verfahrensschritte unterbleiben, weil andernfalls bereits mit einer endgültigen Entscheidung vorgegangen werden könnte (RIS-Justiz RS0006999). Unter welchen Voraussetzungen auf die Befragung des Kindes verzichtet werden kann, ergibt sich aber unmittelbar aus der Regelung des § 105 Abs 2 AußStrG, die auch einer ungebührlichen Verfahrensverzögerung vorbeugen soll (3 Ob 186/05g).

Nach den hier relevanten Umständen steht neben dem Bedürfnis nach einer möglichst raschen Entscheidung das Interesse des Minderjährigen, seine Meinung zu äußern, im Vordergrund. Das Gebot zur Befragung des Kindes dient dazu, dessen grundsätzliche Einstellung zu den zu beurteilenden Fragen - insbesondere zu seinem Verhältnis zum besuchsberechtigten Elternteil - in Erfahrung zu bringen (1 Ob 133/04x; 10 Ob 58/09s). Entgegen der Auffassung des Rekursgerichts sieht das Gesetz jedoch eine Befragung des Kindes zu den „Modalitäten eines allfälligen Kontakts“ nicht vor. Dies ergibt sich schon daraus, dass ein unmündiges Kind typischerweise nicht in der Lage ist, rational zu beurteilen, welche konkrete Ausgestaltung seiner zukünftigen Beziehungen zu den beiden Elternteilen für seine Entwicklung am Günstigsten ist (1 Ob 133/04x).

Erst nach der Befragung des Kindes kann auch dessen Sicht als Verfahrensergebnis in die Entscheidung eingezogen werden, selbst wenn das Gericht an den Wunsch des Kindes allein nicht gebunden ist (3 Ob 186/05g; 10 Ob 58/09s). Die Kenntnis des Standpunkts des Kindes ist für die Entscheidung über einen Provisorialantrag, wie sie hier vom Vater angestrebt wird, gleichermaßen bedeutsam wie für die endgültige Entscheidung, vor allem, wenn der Kontakt zum nicht obsorgeberechtigten Elternteil schon seit Jahren unterbrochen ist. Die Anhörung des Minderjährigen erweist sich daher im vorliegenden Fall als unumgänglich.

Letzteres hat das Rekursgericht zwar richtig erkannt, die erstinstanzliche Abweisung des Provisorialantrags aber dennoch gebilligt. Dies widerspricht jedoch der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, wonach für die Abweisung eines Antrags auf vorläufige Maßnahmen sämtliche relevanten Beweise aufgenommen sein müssen, weil vorher nicht verlässlich beurteilt werden kann, ob nicht doch eine vorläufige Anordnung geboten ist (1 Ob 2155/96k mwN; 1 Ob 265/00b). Eine Ausnahme wäre nur dann gerechtfertigt, wenn sich schon aus dem Provisorialantrag oder in einem frühen Stadium der Erhebungen ergeben sollte, dass durch die Beibehaltung einer bestimmten Regelung keine akute Gefährdung des Kindeswohls zu besorgen ist, während die Abklärung einer längerfristigen sinnvollen Lösung noch weiterer Erhebungen bedarf. Diese Voraussetzung für die Abweisung des Antrags liegt hier aber (zumindest derzeit noch) nicht vor.

5. Dem Vater ist ferner darin beizupflichten, dass die Durchführung der Befragung eines Kindes im Rechtshilfeweg dem Bedürfnis nach einer raschen Entscheidung über das Besuchsrecht, insbesondere aber der Eilbedürftigkeit eines Provisorialverfahrens zuwider laufen kann. Im Übrigen soll die Befragung vor allem auch dazu dienen, dem Richter oder der Richterin einen persönlichen Eindruck von dem Kind zu verschaffen (vgl Deixler-Hübner aaO § 105 AußStrG Rz 3), weshalb der Anhörung vor dem erkennenden Gericht grundsätzlich der Vorzug zu geben ist. Maßgeblich für die Beurteilung dieser Frage sind die unter Bedachtnahme auf das Kindeswohl abzuwägenden jeweiligen Umstände, wie die Dringlichkeit der Maßnahme, die bisherige Verfahrensdauer, die zu erwartende (weitere) Verzögerung einer Entscheidung durch das Rechtshilfeersuchen sowie die Möglichkeit und Zumutbarkeit der Anreise des obsorgeberechtigten Elternteils und des Kindes.

Nach der Aktenlage ist hier nicht zu erkennen, dass die Anreise des Minderjährigen zur persönlichen Befragung durch das Erstgericht mit einer Gefährdung des Kindeswohls iSd § 105 Abs 2 erster Fall AußStrG verbunden wäre, zumal die Mutter ohnedies regelmäßig zwischen Wien und Serbien pendelt und in Wien auch einen Wohnsitz hat. Die vom Erstgericht in einem Amtsvermerk vom 16. 8. 2010 über ein Telefonat mit der Anwältin der Mutter festgehaltene angebliche Weigerung des Kindes, nach Österreich zu kommen, wäre noch kein ausreichendes Hindernis:

Nach ständiger Rechtsprechung ist der das unmündige Kind betreuende Elternteil nämlich dazu verpflichtet, einer unberechtigten Ablehnung des persönlichen Kontakts zum anderen Elternteil durch das Kind positiv und aktiv entgegenzuwirken (RIS-Justiz RS0047942, RS0047996). Er muss über die Abstandnahme von einer negativen Beeinflussung des Kindes hinaus alles ihm Zumutbare unternehmen, um in aktiver Weise dem anderen Elternteil den persönlichen Verkehr mit dem Kind selbst gegen dessen Willen zu ermöglichen. Selbst wenn der Weigerungsgrund des Kindes nicht in einer negativen Beeinflussung durch die Mutter läge, müsste sich diese dennoch bemühen, Widerständen des Kindes entgegenzutreten (6 Ob 68/09g mwN; 5 Ob 257/09v).

In der zuletzt zitierten Entscheidung hat der Oberste Gerichtshofs diese Grundsätze auch bei der zwangsweisen Durchsetzung der verfahrensrechtlichen Pflicht einer Mutter zur Mitwirkung an einem Sachverständigenbeweis angewandt. Nur auf diesem Weg könne die in § 13 Abs 1 AußStrG normierte Verpflichtung des Gerichts, das Verfahren so zu führen, dass eine erschöpfende Erörterung und gründliche Beurteilung des Verfahrensgegenstands in einer möglichst kurzen Verfahrensdauer gewährleistet wird, erfüllt werden.

Diese Erwägungen treffen sinngemäß auch auf die schon aus den allgemeinen Mitwirkungspflichten der Parteien (§ 13 Abs 1 letzter Satz und § 16 Abs 2 AußStrG) abzuleitende Pflicht der Mutter, den Minderjährigen über Anordnung des Gerichts zur persönlichen Anhörung stellig zu machen, zu.

V. Ergebnis:

Aus den dargelegten Gründen sind die Beschlüsse der Vorinstanzen aufzuheben. Im fortgesetzten Verfahren werden die noch ausstehenden Erhebungen möglichst rasch und ohne weitere Verzögerungen im erörterten Sinne durchzuführen sein. Jedenfalls bedarf es vor der Entscheidung aber auch noch der Anleitung des Vaters, seine Anträge an die geänderte Situation anzupassen und hinsichtlich Zeit und Ort der Besuchsrechtsausübung zu präzisieren.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 107 Abs 3 AußStrG, der den Kostenersatz in Verfahren über die Ausübung des Rechts auf persönlichen Verkehr ausdrücklich ausschließt.

Schlagworte

Familienrecht

Textnummer

E97732

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2011:0020OB00019.11Z.0530.000

Im RIS seit

19.07.2011

Zuletzt aktualisiert am

14.03.2013
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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