TE AsylGH Beschluss 2008/07/14 D9 262751-2/2008

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Veröffentlicht am 14.07.2008
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Spruch

D9 262751-2/2008/2E

 

BESCHLUSS

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Mag. Stephan KANHÄUSER als Einzelrichter über die Beschwerde der A.C., geb.00.00.1990, StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 29. 04. 2008, FZ. 07 05.391, beschlossen:

 

In Erledigung der Beschwerde wird der bekämpfte Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 66 Abs. 2 AVG zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesasylamt zurückverwiesen.

Text

BEGRÜNDUNG :

 

I. Die Beschwerdeführerin gelangte mit ihrer gesetzlichen Vertreterin (Tante) unter Umgehung der Grenzkontrolle in das Bundesgebiet und brachte am 28. November 2004 beim Bundesasylamt einen Asylantrag ein.

 

Im Rahmen von Einvernahmen am 1. und 6. Dezember 2004 vor einem Organwalter des Bundesasylamtes gab die nunmehrige Beschwerdeführerin in Beisein ihrer gesetzlichen Vertreterin bzw. die gesetzliche Vertreterin im Rahmen einer weiteren Einvernahme am 14. Juni 2005 im Wesentlichen an, dass am 14. April 2004 maskierte, bewaffnete unbekannte Personen in das Wohnhaus in G. gestürzt seien und nach dem Lebensgefährten der gesetzlichen Vertreterin gefragt hätten, welcher jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht zu Hause gewesen wäre. Sie hätten Glück gehabt, dass ihnen nichts passiert sei. Eine Woche danach wäre die gesetzliche Vertreterin auf der Straße von acht uniformierten, maskierten Personen, die aus einem Militärauto gestiegen seien mit dem Tode bedroht worden. Auch der Beschwerdeführerin selbst hätten diese Personen mit dem Tode gedroht, sie sei bei diesem Vorfall dabei gewesen. Sie hätte Angst, dort zu bleiben. Die Tante habe wegwollen und sie hätte mitfahren müssen. Am 29. September 2004 habe sie gemeinsam mit ihrer Tante (gesetzliche Vertreterin) ihre Heimatstadt verlassen (Verwaltungsakt der belangten Behörde, Seiten 39 bis 45, 49 und 51).

 

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 4. Juli 2005, Zahl: 04 24.060-BA, rechtswirksam an die gesetzliche Vertreterin zugestellt am 6. Juli 2005 durch eigenhändige Übernahme, wurde der Antrag auf Asyl gemäß § 7 Asylgesetz 1997 - AsylG, BGBl. I Nr. 76, in der Fassung BGBl. I Nr. 105/2003, abgewiesen (Spruchpunkt I.). Unter Spruchpunkt II. wurde die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der nunmehrigen Beschwerdeführerin in die Russische Föderation gemäß § 8 AsylG 1997 für zulässig erklärt und eine Abschiebung gemäß § 8 Abs. 2 leg. cit. ausgesprochen (Spruchpunkt III). Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass das Vorbringen der Antragstellerin, Tschetschenien wegen der dortigen Kämpfe bzw. der Bürgerkriegssituation verlassen zu haben, plausibel nachvollziehbar und glaubhaft sei. Die Angaben zu der spezifischen individuellen Bedrohungssituation seien jedoch nicht glaubhaft und könne im vorliegenden Fall keine Bedrohung pro futuro festgestellt werden.

 

Gegen diesen Bescheid wurde am 13. Juli 2005 fristgerecht Berufung eingebracht.

 

Nach Rechtsbelehrung zog die gesetzliche Vertreterin am 25. September 2006 im Beisein des zuständigen Mitglieds des Unabhängigen Bundesasylsenates sowohl die in ihrem Verfahren eingebrachte als auch gegenständliche Berufung zurück (Zahl. 262751/0-V/14/05). Der Bescheid des Bundesasylamtes vom 4. Juli 2005, Zahl: 04 24.060-BA, erwuchs somit in Rechtskraft.

 

Am 13. Juni 2007 brachte die Beschwerdeführerin einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz beim Bundesasylamt ein. Im Rahmen der Einvernahme am 21. Juni 2007 (im Beisein eines Rechtsberaters) gab die Beschwerdeführerin befragt zu den Fluchtgründen an, sie könne nicht nach Hause zurückkehren. Sie hätte kein zu Hause und keine Familie mehr. Es seien maskierte Personen in das Haus gekommen und hätte die Familie bedroht. Ihr nunmehriger Mann sei anerkannter Flüchtling und deswegen könne ihr nun eine Gefahr drohen (Verwaltungsakt der belangten Behörde, Seite 43). Im Rahmen der Einvernahme am 15. Jänner 2008 (im Beisein der gesetzlichen Vertreterin) führte sie weiters aus, seit der Zurückziehung der Berufung durch ihre gesetzliche Vertreterin Österreich nicht verlassen zu haben, sie wollte damals nicht nach Hause, ihre Tante (gesetzliche Vertreterin) hätte dies so entschieden. Erneut zu den Gründen für den neuerlichen Asylantrag und Änderungen des Vorbringens befragt, antwortete die Beschwerdeführerin Angst zu haben, nach Haus zu fahren und hier bleiben zu wollen. Dezidiert teilte sie mit, dass es aus ihrer Sicht dieselben Gründe waren, diesen neuerlichen Antrag zu stellen; nur kämen jetzt auch die Probleme ihres Mannes hinzu. Zu den Problemen ihres Mannes befragt, antwortete sie "Alle hatten solche Probleme. Er will sich nunmehr nicht mehr an die Einzelheiten erinnern müssen. Es geht ihm dabei nicht gut, wenn er darüber reden soll." Sie sei ja jetzt verheiratet und ihr Mann hätte ja Probleme in der Heimat gehabt, weshalb sie nicht zurück könne. (Verwaltungsakt der belangten Behörde, Seite 143 bis 145).

 

Zum Ablauf der im Antrag vorgebrachten Hochzeit mit Herrn H.M., welcher im Rahmen des Verfahrens als Zeuge einvernommen wurde (Verwaltungsakt der belangten Behörde, Seite 159 bis 167) gaben die Beschwerdeführerin (Verwaltungsakt der belangten Behörde, Seite 41 und 145) und der Zeuge (Verwaltungsakt der belangten Behörde, Seite 161) übereinstimmend an, dass diese am 00.00.2007 in Linz nach muslimischen Recht vor einem Mullah stattgefunden habe.

 

Hinsichtlich sonstiger Angaben zu Ort und Zeit der ersten Begegnung, des weiteren Ablaufs der Hochzeit und einer Erkundigung einer allfälligen standesamtlichen Vermählung divergieren die Aussagen der Beschwerdeführerin und des Zeugen. So gab die Beschwerdeführerin als Ort der ersten Begegnung H. an (Verwaltungsakt der belangten Behörde, Seite 147) an, während der Zeuge den Ort des Wohnsitzes der Tante der Beschwerdeführerin im Burgenland nannte, da auch er dort Bekannte hätte (Seite 161). In der Einvernahme am 15. Jänner 2008 gab die Beschwerdeführerin an, vom Mullah von ihrem Mann ¿ 500,-- übergeben bekommen zu haben (Seite 147), während der Zeuge einen Betrag in der Höhe von ¿ 300,-- angab (Seite 163). Bezüglich der Dauer des Aufenthaltes gab die Beschwerdeführerin vier Nächte an; am Mittwoch seien sie nach Wien gefahren (Seite 147). Der Zeuge hingegen sagte aus, dass sie am nächsten Tag gemeinsam nach Wien gefahren seien. Für ihn wäre dann der nächste Tag auch ein Feiertag gewesen, da er den positiven Bescheid bekommen hätte (Seite 165); dies sei am Montag nach der Hochzeit gewesen (Seite 167). Die Frage, ob eine Erkundigung beim Standesamt bezüglich einer Heirat nach österreichischem Recht erfolgt sei, bejahte der Zeuge und zwar in der Steiermark, dort wo die Beschwerdeführerin gewohnt hätte. Die Sozialarbeiterin der Beschwerdeführerin hätte sie begleitet, es wäre ihnen aber gesagt worden, dass eine standesamtliche Heirat nicht möglich sei, da die Beschwerdeführerin noch nicht achtzehn sei (Seite 167). Die Beschwerdeführerin hingegen gab an, dass keine selbständigen Erkundigungen beim Standesamt eingeholt worden wären; sie hätte mit Leuten gesprochen, die gesagt hätten, dass eine standesamtliche Heirat, solange sie nicht achtzehn wäre, nicht möglich sei (Seite 147). Mit diesen divergierenden Aussagen konfrontiert gab die Beschwerdeführerin Folgendes an:

 

"Wir haben uns dort und da getroffen, im Burgenland und in der Steiermark. ...... Ich bin dort bis Mittwoch geblieben und er ist zurückgefahren. Er ist mit den Freunden schon vorher nach Wien gefahren und hat mich am Mittwoch geholt. Wegen des Geldes weiß ich nicht, mir wurden ¿ 500,-- gegeben. Vielleicht haben noch einige Leute etwas dazugegeben." Auf den Vorhalt der Aussage des Zeugen betreffend der Erkundigung am Standesamt korrigierte die Beschwerdeführerin ihre Aussage: "Ja, ja ich habe das vergessen, wir waren mit meiner früheren Sozialarbeiterin dort. Wir waren dort in so einem großen Haus."

 

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 19. April 2008, Zahl: 07 05-391-BAW, rechtswirksam an die gesetzliche Vertreterin zugestellt am 6. Mai 2008 durch eigenhändige Übernahme, wurde der Antrag vom 13. Juni 2007 gemäß § 68 Abs. 1 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991, BGBl. Nr. 51, in der geltenden Fassung, wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass weder in der maßgeblichen Sachlage - und zwar im Hinblick auf jenen Sachverhalt, der in der Sphäre der Antragstellerin gelegen sei, noch auf jenen, welcher von Amts wegen aufzugreifen sei - noch im Begehren eine Änderung eingetreten sei (Seite 22 des Bescheides).

 

Gegen diesen Bescheid richtet sich die nunmehr am 19. Mai 2008 fristgerecht eingebrachte Beschwerde (Seite 221 bis 225).

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

Verfahrensgang und entscheidungsrelevanter Sachverhalt ergeben sich aus dem dem Asylgerichtshof vorliegenden Verwaltungsakt der Beschwerdeführerin.

 

Der Bescheid der belangten Behörde enthält keine Feststellung über das Bestehen oder Nichtbestehen einer Familienzugehörigkeit zwischen der Beschwerdeführerin und Herrn H.M..

 

Nicht zu entnehmen ist dem vorgelegten Verwaltungsakt der belangten Behörde, inwieweit von Amts wegen durchgeführte Ermittlungen, insbesondere durch Einsichtnahme in den Verwaltungsakt des behaupteten Ehegatten, erfolgten.

 

Rechtlich ergibt sich Folgendes:

 

Mit 1. Juli 2008 entscheidet der Asylgerichtshof gemäß Art. 129c Bundes-Verfassungsgesetz - B-VG, BGBl. Nr. 1/1930, idgF, in Verbindung mit § 61 Abs. 1 Aslygesetz 2005 - AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100, in der geltenden Fassung in Senaten oder, soweit dies in Abs. 3 leg. cit. vorgesehen ist, durch Einzelrichter über

 

1. Beschwerden gegen Bescheide des Bundesasylamtes und

 

2. Beschwerden wegen Verletzung der Entscheidungspflicht des Bundesasylamtes.

 

Durch Einzelrichter/Einzelrichterin entscheidet der Asylgerichtshof gemäß § 61 Abs. 3 Z 1 AsylG 2005 ausnahmslos über Beschwerden gegen zurückweisende Bescheide

 

a) wegen Drittstaatssicherheit gemäß § 4 leg. cit.;

 

b) wegen Zuständigkeit eines anderen Staates gemäß § 5 leg. cit. sowie

 

c) wegen entschiedener Sache gemäß § 68 Abs. 1 AVG.

 

Eine mit diesen Entscheidungen verbundene Ausweisung fällt gemäß § 61 Abs. 3 Z 2 leg. cit. ebenfalls in die Kompetenz des/der zuständigen Einzelrichters/ Einzelrichterin.

 

Auf die Verfahren vor dem Asylgerichtshof sind gemäß § 23 Asylgerichtshofgesetz - AsylGHG, BGBl. I Nr. 4/2008, soweit sich aus dem B-VG, dem AsylG 2005, und dem Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 - VwGG, BGBl. Nr. 10, nichts anderes ergibt, die Bestimmungen des AVG mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.

 

Gemäß § 75 Abs. 4 AsylG 2005 begründen ab- oder zurückweisende Bescheide auf Grund des Asylgesetzes, BGBl. Nr. 126/1968, des Asylgesetzes 1991, BGBl. Nr. 8/1992, sowie des Asylgesetzes 1997 in derselben Sache in Verfahren nach diesem Bundesgesetz den Zurückweisungstatbestand der entschiedenen Sache (§ 68 AVG).

 

Gemäß § 68 Abs. 1 AVG sind Anbringen von Beteiligten die außer den Fällen der §§ 69 und 71 leg. cit. die Abänderung eines der Berufung nicht oder nicht mehr unterliegenden Bescheides begehren, wenn die Behörde nicht den Anlass zu einer Verfügung gemäß den Abs. 2 bis 4 leg. cit. findet, wegen entschiedener Sache zurückzuweisen.

 

Ansuchen, die offenbar die Aufrollung einer bereits rechtskräftig entschiedenen Sache bezwecken, sind auch dann, wenn das Begehren nicht ausdrücklich dahin lautet, wegen "res iudicata" zurückzuweisen. Die Wesentlichkeit einer Änderung des Sachverhalts als Kriterium der "res iudicata" ist nicht nach der objektiven Rechtslage, sondern nach der Wertung zu beurteilen, die das geänderte Sachverhaltselement in der seinerzeitigen, rechtskräftigen Entscheidung erfahren hat (VwGH 22. 05. 2001, 2001/05/0075).

 

Nach der Rechtsprechung liegen verschiedene "Sachen" im Sinne des § 68 Abs. 1 AVG vor, wenn in der für den Vorbescheid maßgeblichen Rechtslage oder in den für die Beurteilung des Parteienbegehrens im Vorbescheid als maßgeblich erachteten tatsächlichen Umständen eine Änderung eingetreten ist oder wenn das neue Parteibegehren von dem früheren abweicht. Eine Modifizierung, die nur für die rechtliche Beurteilung der Hauptsache unerhebliche Nebenumstände betrifft, kann an der Identität der Sache nichts ändern. Es kann nur eine solche behauptete Änderung des Sachverhaltes die Behörde zu einer neuen Sachentscheidung - nach etwa notwendigen amtswegigen Ermittlungen gemäß § 28 AsylG 1997 (nunmehr: § 18 AsylG 2005) - berechtigen und verpflichten, der für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen rechtlich Asylrelevanz zukäme; eine andere rechtliche Beurteilung des Antrages darf nicht von vornherein ausgeschlossen sein. Darüber hinaus muss die behauptete Änderung des Sachverhalts zumindest einen glaubhaften Kern aufweisen, dem Asylrelevanz zukommt und an den die oben erwähnte positive Entscheidungsprognose anknüpfen kann. Die Behörde hat sich insoweit bereits bei der Prüfung der Zulässigkeit des (neuerlichen) Asylantrages mit der Glaubwürdigkeit des Vorbringens des Asylwerbers und gegebenenfalls mit der Beweiskraft von Urkunden auseinander zu setzen. Ergeben die Ermittlungen der Behörde, dass eine Änderung des Sachverhalts, die eine andere Beurteilung nicht von vornherein ausgeschlossen erscheinen ließe, entgegen den Behauptungen der Partei in Wahrheit nicht eingetreten ist, so ist der Asylantrag gemäß § 68 Abs. 1 AVG zurückzuweisen (VwGH 21. 11. 2002, 2002/20/0315).

 

Das im erstinstanzlichen Verfahren über den zweiten Asylantrag erstattete Vorbringen zu Tatsachen, die erst nach dem rechtskräftigen Abschluss des Vorverfahrens eingetreten sind, ist in Bezug auf die Frage des Vorliegens einer Sachverhaltsänderung an dem im Vorbescheid angenommenen Sachverhalt (und nicht unbedingt am damaligen Vorbringen) zu messen. Es kann aber nur eine solche behauptete Änderung des Sachverhaltes die Behörde zu einer neuen Sachentscheidung - nach etwa notwendigen amtswegigen Ermittlungen gemäß § 28 AsylG (nunmehr: § 18 AsylG 2005) - berechtigen und verpflichten, der für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen rechtliche Asylrelevanz zukäme; eine andere rechtliche Beurteilung des Antrages darf nicht von vornherein ausgeschlossen sein (VwGH 25. 10. 2000, 99/06/0169, VwGH 22. 05. 2001, 2001/05/0075, VwGH 20. 03. 2003, 99/20/0480).

 

Die Beschwerdeführerin begründete ihren neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz primär mit dem bereits im Verfahren betreffend ihres ersten eingebrachten Asylantrag dargelegten Vorbringen. Zusätzlich brachte sie vor, es kämen jetzt auch die Probleme ihres Mannes hinzu. Zu den Problemen ihres Mannes befragt, antwortete sie "Alle hatten solche Probleme. Er will sich nunmehr nicht mehr an die Einzelheiten erinnern müssen. Es geht ihm dabei nicht gut, wenn er darüber reden soll." Sie sei ja jetzt verheiratet und ihr Mann hätte ja Probleme in der Heimat gehabt, weshalb sie nicht zurück könne.

 

Im Laufe des Verfahrens erfolgten umfassende Einvernahmen der Beschwerdeführerin und des Zeugen zu der behaupteten Eheschließung nach muslimischen Recht. Inwieweit die belangte Behörde im Rahmen ihrer Entscheidung von der Glaubwürdigkeit des Bestehens "einer sozialen Gruppe" im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - GFK, BGBl. Nr. 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge 78/1974 ausgegangen ist oder nicht, ist dem Bescheid nicht zu entnehmen

 

Enthalten ist in Bezug auf die Nichtanwendung des § 34 AsylG 2005 zutreffend: "Nicht festgestellt werden konnte, dass die von der Antragstellerin behauptete Familieneigenschaft der Ehegattin des in Österreich asylberechtigten H.M., 00.00.1980 geboren, bereits im Herkunftsstaat bestanden hat" (Bescheid Seite 18).

 

Zu Recht weist die belangte Behörde (Bescheid Seite 209 bis 211) auf das Erkenntnis des VwGH 12. 5. 1999, 92/01/0872, 97/01/0873, hin, wonach Verfolgungshandlungen gegen Verwandte nur dann Ursache für begründete Furcht vor Verfolgung bilden können, wenn auf Grund der im Verwaltungsverfahren glaubhaft dargelegten konkreten Situation davon ausgegangen werden muss, dass gegen ein Familienmitglied gesetzte oder von diesem zu befürchtende Verfolgungshandlungen auch zu - die Intensität asylrechtlich relevanter Verfolgungshandlungen erreichenden - Maßnahmen gegen andere Familienmitglieder führen werden.

 

Eine Verfolgung kann auch dann Asylrelevanz zukommen, wenn ihr Grund "in der bloßen Angehörigeneigenschaft" liegt. Bei der Beurteilung der Asylrelevanz der im vorliegenden Fall vorgebrachten Verfolgungsgefahr hätte die belangte Behörde somit auf die Frage eines Zusammenhanges einer möglichen Verfolgungsgefahr mit der Familienzugehörigkeit der beschwerdeführenden Partei als Zugehörigkeit zu einer bestimmten "sozialen Gruppe" im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK auch von Amts wegen eingehen müssen. (VwGH 21. 03. 2007, 2006/19/0083)

 

Gemäß § 66 Abs. 2 AVG kann die Berufungsbehörde, so der ihr vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint, den angefochtenen Bescheid beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an eine im Instanzenzug untergeordnete Behörde zurückverweisen.

 

Gemäß Abs. 3 leg. cit. kann die Berufungsbehörde jedoch die mündliche Verhandlung und unmittelbare Beweisaufnahme auch selbst durchführen, wenn hiermit eine Ersparnis an Zeit und Kosten verbunden ist.

 

Zur Anwendung des § 66 Abs. 2 AVG durch den Unabhängigen Bundesasylsenat hat der Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis 21. 11. 2002, 2002/20/0315, welches nunmehr auch für den seit 1. Juli 2008 eingerichteten Asylgerichtshof von Relevanz ist, ausgeführt:

 

"Im Berufungsverfahren vor der belangten Behörde ist gemäß § 23 AsylG und Art. II Abs. 2 Z 43a EGVG (unter anderem) § 66 AVG anzuwenden. Nach § 66 Abs. 1 AVG in der Fassung BGBl. I Nr. 158/1998 hat die Berufungsbehörde notwendige Ergänzungen des Ermittlungsverfahrens durch eine im Instanzenzug untergeordnete Behörde durchführen zu lassen oder selbst vorzunehmen. Außer dem in § 66 Abs. 2 AVG erwähnten Fall hat die Berufungsbehörde, sofern die Berufung nicht als unzulässig oder verspätet zurückzuweisen ist, gemäß § 66 Abs. 4 AVG immer in der Sache selbst zu entscheiden (vgl. dazu unter dem besonderen Gesichtspunkt der Auslegung der Entscheidungsbefugnis der belangten Behörde im abgekürzten Berufungsverfahren nach § 32 AsylG die Ausführungen im hg. Erkenntnis vom 23. 07. 1998, Zl. 98/20/0175, Slg. Nr. 14.945/A, die mehrfach vergleichend auf § 66 Abs. 2 AVG Bezug nehmen; zu diesem Erkenntnis siehe auch Wiederin, ZUV 2000/1, 20 f).

 

Der Verwaltungsgerichthof hat im Erkenntnis vom 27. 04. 1989, Zl. 86/09/0012, Slg. Nr. 12.917/A, aus einer in den Verwaltungsvorschriften angeordneten zwingenden und ohne Ausnahme bestehenden Verpflichtung zur Durchführung einer Berufungsverhandlung trotz Fehlens einer ausdrücklichen Ausnahme hinsichtlich der Geltung des § 66 Abs. 2 AVG die Unanwendbarkeit dieser Bestimmung in einem solchen Berufungsverfahren gefolgert. Das steht aber zu der hier - für das Verfahren vor der belangten Behörde - zu Grunde gelegten gegenteiligen Auffassung schon deshalb nicht im Widerspruch, weil eine derartige uneingeschränkte Verhandlungspflicht für den Unabhängigen Bundesasylsenat nicht besteht. (...) Die Berufungsbehörde darf eine kassatorische Entscheidung nicht bei jeder Ergänzungsbedürftigkeit des Sachverhaltes, sondern nur dann treffen, wenn der ihr vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint. Die Berufungsbehörde hat dabei zunächst in rechtlicher Gebundenheit zu beurteilen, ob angesichts der Ergänzungsbedürftigkeit des ihr vorliegenden Sachverhaltes die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unvermeidlich erscheint. Für die Frage der Unvermeidlichkeit einer mündlichen Verhandlung im Sinne des § 66 Abs. 2 AVG ist es aber unerheblich, ob eine kontradiktorische Verhandlung oder nur eine Vernehmung erforderlich ist (vgl. etwa das Erkenntnis vom 14. 03. 2001, Zl. 2000/08/0200; zum Begriff "mündliche Verhandlung" im Sinne des § 66 Abs. 2 AVG siehe auch die Nachweise im Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2000/20/0084)."

 

Nach der grundsätzlichen Bejahung der Frage der Anwendbarkeit des § 66 Abs. 2 AVG führte der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis vom 21. 11. 2002, Zl. 2002/20/0315, zur Frage der Gesetzmäßigkeit der Ermessensübung im Sinne des § 66 Abs. 2 und 3 AVG Folgendes aus:

 

"Der Gesetzgeber hat in Asylsachen ein zweiinstanzliches Verfahren (mit nachgeordneter Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts) eingerichtet, wobei der belangten Behörde die Rolle einer "obersten Berufungsbehörde" zukommt (Art. 129c Abs. 1 B-VG). In diesem Verfahren hat bereits das Bundesasylamt den gesamten für die Entscheidung über den Asylantrag relevanten Sachverhalt zu ermitteln und es ist gemäß § 27 Abs. 1 AsylG grundsätzlich verpflichtet, den Asylwerber dazu persönlich zu vernehmen. Diese Anordnungen des Gesetzgebers würden aber unterlaufen, wenn es wegen des Unterbleibens eines Ermittlungsverfahrens in erster Instanz zu einer Verlagerung nahezu des gesamten Verfahrens vor die Berufungsbehörde käme und die Einrichtung von zwei Entscheidungsinstanzen damit zur bloßen Formsache würde. Es ist nicht im Sinne des Gesetzes, wenn die Berufungsbehörde, statt ihre (umfassende) Kontrollbefugnis wahrnehmen zu können, jene Behörde ist, die erstmals den entscheidungswesentlichen Sachverhalt ermittelt und einer Beurteilung unterzieht..."

 

Im hier zu beurteilenden Fall weist der angefochtene Bescheid sowohl Mängel im Bereich der Sachverhaltsfeststellungen als auch hinsichtlich der von der erstinstanzlichen Behörde durchgeführten Beweiswürdigung auf.

 

Die Beschwerdeführerin behauptete, dass sie von den Problemen ihres jetzigen Ehemannes betroffen sei. Die belangte Behörde selbst traf in Bezug auf die zu der behaupteten Eheschließung nach muslimischem Recht erhobenen Ermittlungen keine Feststellung über das Bestehen oder Nichtbestehen einer Angehörigeneigenschaft im Sinne des Begriffs der "sozialen Gruppe" (Bescheid Seite 18).

 

Neuerlich ist darauf hinzuweisen, dass eine allfällige Asylrelevanz als Zugehörigkeit zu einer bestimmten "sozialen Gruppe"" im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK schlagend werden kann (vgl. in diesem Zusammenhang die Erkenntnisse des VwGH 19. 12. 2001, 98/20/0312 und 98/20/0330 sowie die Erkenntnisse 26. 02. 2002, 2000/20/0517, 17. 09. 2003, 2000/20/0137 und 22. 08. 2006, 2006/01/0251).

 

Die belangte Behörde hält in weiterer Folge zu dem seitens der Beschwerdeführerin behaupteten hinzugetretenen Verfolgungsgrund fest, dass sie diesbezüglich "nur eine Befürchtung geäußert" hat und "befragt, keine Angaben machen" konnte (Bescheid Seite 19). Unter Hinweis, wonach Verfolgungshandlungen gegen Verwandte nur dann Ursache für begründete Furcht vor Verfolgung bilden können, wenn auf Grund der im Verwaltungsverfahren glaubhaft dargelegten konkreten Situation davon ausgegangen werden muss, dass gegen ein Familienmitglied gesetzte oder von diesem zu befürchtende Verfolgungshandlungen auch zu - die Intensität asylrechtlich relevanter Verfolgungshandlungen erreichenden - Maßnahmen gegen andere Familienmitglieder führen werden, kommt die belangte Behörde in ihrer Würdigung zu dem Schluss; "Eine solche Gefährdung konnte die Antragstellerin jedoch nicht darlegen." (Bescheid Seite 22)

 

Die belangte Behörde hat hierdurch - bei Annahme des Bestehens der Familienzugehörigkeit - den Grundsatz der Offizialmaxime verletzt. Unbeschadet der Mitwirkungspflicht der Beschwerdeführerin hätte die belangte Behörde von Amts wegen, etwa durch Einsichtnahme in den Akt des behaupteten Ehegatten, Ermittlungen über eine allfällige asylrelevante Verfolgung von sich aus erheben müssen. Derartige Erhebungen sind nicht aktenkundig, weshalb der Asylgerichtshof von deren Unterlassen auszugehen hat.

 

Von der durch § 66 Abs. 3 AVG der Berufungsbehörde eingeräumten Möglichkeit, die mündliche Verhandlung und unmittelbare Beweisaufnahme selbst durchzuführen, wenn hiemit eine Ersparnis an Zeit und Kosten verbunden ist, war im vorliegenden Fall aus folgenden Gründen nicht Gebrauch zu machen:

 

Zur Sicherung der Qualität des Asylverfahrens hat der Gesetzgeber einen Instanzenzug vorgesehen, der zum Asylgerichtshof als besonderem Garanten eines fairen Asylverfahrens führt. Die über die Unvollständigkeit der Einvernahmen hinaus gehenden Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens sprechen auch bei Bedachtnahme auf die mögliche Verlängerung des Verfahrens unter dem Gesichtspunkt, dass eine ernsthafte Prüfung des Antrages und Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes nicht erst beim Asylgerichtshof beginnen und enden soll, für eine Abstandnahme von der durch § 66 Abs. 3 AVG eingeräumten Möglichkeit (vgl. VwGH 21. 11. 2002, 2000/20/0084; VwGH 21. 11. 2002, 2002/20/0315).

 

Der Asylgerichtshof gelangt zur Ansicht, dass die schweren Mängel vom Bundesasylamt zu sanieren sind, da im gegenteiligen Fall der Großteil des Ermittlungsverfahrens vor den Asylgerichtshof verlagert würde und somit - im Lichte der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes - der zweiinstanzliche Verfahrensgang unterlaufen würde.

 

Auch die Zielsetzungen der - wenn auch im gegenständlichen Fall nicht anzuwendenden - Asylgesetznovelle 2003 lassen eine kassatorische Entscheidung geboten erscheinen. Im allgemeinen Teil der Erläuterungen zur Regierungsvorlage zur Asylgesetznovelle 2003 wird Folgendes ausgeführt:

 

"Die vorgeschlagene Novelle sieht eine Konzentration der Tatsachenermittlung beim Bundesasylamt vor. Eine vollständige Tatsachenermittlung erfordert einerseits eine umfassende Befragung, Rechtsberatung und Information des Asylwerbers und andererseits auch dessen umfassende Mitwirkung am Verfahren. ..."

 

Im besonderen Teil der Erläuterungen zur Regierungsvorlage der Asylgesetznovelle 2003 wird zur vorgeschlagenen Neufassung des § 32 leg. cit. ausgeführt: "Die vorgeschlagene Neufassung des § 32 trägt dem Konzept Rechnung, dass die Kompetenzen des Bundesasylamtes als Tatsacheninstanz erweitert werden. ..." Wenn im vorliegenden Fall die durch die Asylgesetznovelle 2003 eingeführten Bestimmungen auch nicht anzuwenden sind, so bewirken sie doch nach dem Willen des Gesetzgebers eine Festlegung der Grundausrichtung der Tätigkeit des Bundesasylamtes als auch im vorliegenden Fall zuständiger Behörde erster Instanz. Diesen normativen Anliegen des Gesetzgebers kann nur durch die vollständige Ermittlung und - im konkreten Fall maßgeblich - Feststellung des Sachverhaltes durch das Bundesasylamt auch im vorliegenden Fall Rechnung getragen werden, weshalb die Behebung des angefochtenen Bescheides und Verweisung der Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesasylamt zu erfolgen hat.

 

Ausgehend von diesen Überlegungen war im vorliegenden Fall der Beschwerde Rechnung zu tragen und das dem Asylgerichtshof gemäß § 66 Abs. 2 und 3 AVG eingeräumte Ermessen im Sinne einer kassatorischen Entscheidung zu üben. Besondere Gesichtspunkte, die aus Sicht des Berufungswerbers gegen eine Kassation des erstinstanzlichen Bescheides sprechen würden, sind im vorliegenden Fall nicht erkennbar.

 

Im Rahmen des fortzusetzenden Verfahrens ist durch die belangte Behörde auf Grund ergänzender Ermittlungen der maßgebliche Sachverhalt in Bezug auf das Bestehen oder Nichtbestehen einer Zugehörigkeit zu einer "sozialen Gruppe"" im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK festzustellen und - allfällig - in weiterer Folge bei der Beurteilung des Vorliegens von Fluchtgründen unbeschadet der Mitwirkungspflicht der Antragstellerin gemäß § 15 AsylG 2005 der Grundsatz der Offizialmaxime durch Einsichtnahme in den Verwaltungsakt des behaupteten Ehegatten zu wahren.

 

Die Durchführung einer öffentlichen mündlichen Berufungsverhandlung konnte gemäß § 67 d Abs. 2 Z 1 AVG zu entfallen.

 

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte
Kassation, mangelnde Sachverhaltsfeststellung, soziale Gruppe
Zuletzt aktualisiert am
05.10.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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