TE AsylGH Erkenntnis 2008/07/21 S11 319876-1/2008

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Veröffentlicht am 21.07.2008
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Spruch

S11 319876-1/2008/3E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Mag. Neumann als Einzelrichter über die Beschwerde des M. W., alias MAGISHEV Vakha, geb. 1940, StA: Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 03.05.2008, Zahl: 08 03.250-EAST Ost, zu Recht erkannt:

 

Die Beschwerde wird gemäß §§ 5 und 10 AsylG idF BGBl. I Nr. 100/2005 als unbegründet abgewiesen.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

 

1. Der Verfahrensgang vor der erstinstanzlichen Behörde ergibt sich aus dem erstinstanzlichen Verwaltungsakt. Der nunmehrige Beschwerdeführer reiste am 08.04.2008 illegal in Österreich ein. Er stellte am 10.04.2008 in der Erstaufnahmestelle Ost einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 10.04.2008 fand vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes in Traiskirchen eine Erstbefragung sowie am 19.05.2008 eine Einvernahme vor dem Bundesasylamt in Gegenwart eines Rechtsberaters statt.

 

Am 15.04.2008 richtete das Bundesasylamt an Polen ein Ersuchen um Wiederaufnahme des Beschwerdeführers gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c der Verordnung Nr. 343/2003 (EG) des Rates vom 18.02.2003 (Dublin II VO), welches am selben Tag elektronisch über DubliNET übermittelt wurde.

 

Am 23.04.2008 bestätigte der Beschwerdeführer mit seiner Unterschrift den Erhalt der Mitteilung des Bundesasylamtes gemäß § 29 Abs. 3 Z 4 AsylG vom 06.01.2008, wonach beabsichtigt sei, seinen Antrag auf internationalen Schutz zurückzuweisen, da Konsultationen mit Polen geführt würden. Die Mitteilung über die Führung von Konsultationen wurde dem Beschwerdeführer sohin innerhalb der 20-Tagesfrist nach der Antragseinbringung, übermittelt.

 

Mit Schreiben vom 15.04.2008, eingelangt beim Bundesasylamt am 16.04.2008, stimmten die polnischen Behörden der Übernahme des Beschwerdeführers zur Prüfung des Asylantrags gem. Art. 16 Abs. 1 lit. c der Dublin II-VO zu.

 

Der nunmehrige Beschwerdeführer brachte im Verfahren folgenden entscheidungsrelevanten Sachverhalt vor: Zwei Söhnen und einer Tochter des Beschwerdeführers sei bereits 2005 bzw. 2007 internationaler Schutz in Österreich gewährt worden. Der Beschwerdeführer habe sich von 04.09.2007 bis Februar 2008 in der Ukraine aufgehalten. Er habe am 11.09.2007 bei der Österreichischen Botschaft Kiew einen Antrag auf Familienverfahren gestellt, der am 15.10.2007 vom Bundesasylamt, Außenstelle Traiskirchen, wegen mangelnder Zugehörigkeit zur Kernfamilie abgelehnt worden sei. Die Einreise nach Österreich sei ihm daher nicht gewährt worden. Am 02.04.2008 sei er mit dem Zug über Moskau nach Belarus und weiter - illegal - nach Polen gereist, wo er am 04.04.2008 bei Terespol im Zug aufgegriffen worden sei. Er habe gleich am 04.04.2008 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt und sei erkennungsdienstlich behandelt worden. Man habe ihn ins Lager Dembak geschickt, er habe jedoch bei einem Bekannten in Warschau übernachtet und sei am 05.04.2008 mit einem PKW nach Österreich weitergefahren, wo er am 08.04.2008 in Melk angekommen sei.

 

Der Beschwerdeführer brachte in der Einvernahme am 19.05.2008 vor, das er in der Russischen Föderation mit seinen nun in Österreich lebenden Kindern keine familienähnliche Lebensgemeinschaft geführt habe (die in den jeweiligen Asylverfahren angegeben Adressen sind auch nicht ident), er sei jedoch öfters zu Besuch gewesen, habe aber nach ihrer Ausreise nur mehr mit ihnen telefoniert. Über Vorhalt gab er an, dass er an keiner psychischen Störung leide. Er sei nicht wegen der Versorgung in Polen nach Österreich gekommen, er wisse, dass er in Polen versorgt werde, sondern weil er bei seiner Familie sein wolle. Er habe in Polen keine Probleme gehabt. In der Ukraine habe er sich selbst finanziert, mit Medikamenten versorgt und sich auch untersuchen lassen.

 

April 2008 folgte eine Untersuchung im Landesklinikum M., wobei der Arztbericht einen Granatsplitter in der linken Thoraxhälfte bescheinigte. Das CT des Kopfes war negativ, der Beschwerdeführer leide unter Hypertonie, bei einem EKG und bei einer ergometrischen Untersuchung ergaben sich keine Auffälligkeiten. Der Beschwerdeführer leide vor allem unter altersbedingten Beschwerden, insbesondere der Wirbelsäule. Seitens eines Facharztes für Innere Medizin wurde unter Zugrundelegung dieses Arztberichtes am 20.05.2008 ausdrücklich bestätigt, dass aus medizinischer Sicht keine Bedenken gegen eine Überstellung des Beschwerdeführers nach Polen bestünden. Der Beschwerdeführer bedürfe keiner permanenten medizinischen Betreuung und sei in gutem körperlichen Zustand.

 

Eine gutachtliche Stellungnahme eines Facharztes für Neurologie und Psychiatrie gemäß § 30 AsylG bescheinigte aufgrund einer am 14.05.2008 durchgeführten Untersuchung, dass keine belastungsabhängige krankheitswertige psychische Störung vorliege. Eine solche wurde vom Beschwerdeführer auch während des Verfahrens nicht behauptet,

 

2. Das Bundesasylamt hat mit dem angefochtenen Bescheid vom 30.05.2008, zugestellt am 03.06.2008, Zl. 08 03.250-EAST Ost, den Antrag auf internationalen Schutz des Beschwerdeführers ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass für die Prüfung des gegenständlichen Antrages auf internationalen Schutz gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c Verordnung Nr. 343/2003 (EG) des Rates Polen zuständig sei. Gleichzeitig wurde der Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen und gemäß § 10 Abs. 4 AsylG festgestellt, dass die Abschiebung nach Polen zulässig sei.

 

Die Erstbehörde traf in diesem Bescheid detaillierte und aktuelle Feststellungen zum polnischen Asylverfahren, zur Praxis des Non-Refoulement-Schutzes, der Ausweisung, zur Versorgung von Asylwerbern in Polen und zur Sicherheitslage in Polen.

 

Beweiswürdigend wurde hervorgehoben, dass der Antragsteller keine stichhaltigen Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht habe, dass er tatsächliche Gefahr liefe, in Polen Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen wäre oder ihm eine Verletzung der in Art. 3 bzw. Art. 8 EMRK gewährleisteten Rechte drohe.

 

Zur Frage des Gesundheitszustandes des Beschwerdeführers wurde auf die vorliegenden ärztlichen Unterlagen und fachärztlichen Angaben zur Überstellungsfähigkeit verwiesen und die Behandlungsmöglichkeiten in Polen hervorgehoben, welchem keine qualifizierten Einwände entgegen gehalten worden seien.

 

Zur den familiären Bindungen des Beschwerdeführers wurde ausgeführt, dass solche zu in Österreich lebenden Familienmitgliedern zwar bestehen, die Qualität und Intensität der Bindungen jedoch nicht ausreicht, um relevant iSd Art. 8 EMRK zu sein.

 

3. Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht am 16.06.2008 auf dem Faxwege Berufung (nunmehr als Beschwerde anzusehen) erhoben. Darin wird im Wesentlichen behauptet, dass sich eine Verbringung nach Polen verschlechternd auf den Krankheitsverlauf des Beschwerdeführers auswirken würde. Die medizinische Versorgung in Polen sei überdies mangelhaft. Aufgrund seines schlechten Zustandes sei eine neuerliche Trennung von seinen Kindern nicht erträglich, eine gesundheitliche Verschlechterung sei daher vorprogrammiert. Der Beschwerdeführer sei auf die psychische Unterstützung seiner Kinder angewiesen. Bis zu deren Ausreise habe er besonders engen Kontakt gehabt, danach nur mehr telefonisch, aber regelmäßig. Es bestehe ein - nicht näher geschildertes - Abhängigkeitsverhältnis.

 

Die Qualität des polnischen Asylverfahrens wurde pauschal angezweifelt, Flüchtlinge aus Tschetschenien wären in einem ohnehin mangelhaften Asylverfahren noch schlechter gestellt.

 

Die gegenständliche Beschwerde samt erstinstanzlichem Verwaltungsakt langte am 19.07.2008 beim Asylgerichtshof ein.

 

II. Der Asylgerichtshof hat durch den zuständigen Richter über die gegenständliche Beschwerde wie folgt erwogen:

 

1. Verfahrensgang und Sachverhalt ergeben sich aus dem vorliegenden Verwaltungsakt.

 

2. Rechtlich ergibt sich Folgendes:

 

Mit Datum 01.01.2006 ist das neue Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl in Kraft getreten (AsylG idF BGBL. I Nr. 100/2005) und ist somit auf alle ab diesem Zeitpunkt gestellten Anträge auf internationalen Schutz, sohin auch auf den vorliegenden, anzuwenden.

 

Am 01.07.2008 beim unabhängigen Bundesasylsenat anhängige Verfahren sind vom Asylgerichtshof nach Maßgabe des § 75 AsylG 2005 idF BGBl. I Nr. 4/2008 weiterzuführen.

 

Gemäß § 23 AsylGHG sind, soweit sich aus dem Bundes-Verfassungsgesetz - B-VG, BGBl. Nr. 1/1930, dem Asylgesetz 2005 - AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005, und dem Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 - VwGG, BGBl. Nr. 10/1985, in den jeweilig geltenden Fassungen nicht anderes ergibt, auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 - AVG, BGBl. Nr. 51/1991, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.

 

2.1. Gemäß § 5 Abs. 1 AsylG ist ein nicht gemäß § 4 AsylG erledigter Asylantrag als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder aufgrund der Verordnung Nr. 343/2003 (EG) des Rates vom 18.02.2003 zur Prüfung des Asylantrages zuständig ist. Mit dem Zurückweisungsbescheid hat die Asylbehörde auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG ist die Zurückweisung eines Antrages nach Maßgabe der § 10 Abs. 3 und Abs. 4 AsylG mit einer Ausweisung zu verbinden. Die Dublin II VO ist eine Verordnung des Gemeinschaftsrechts im Anwendungsbereich der 1. Säule der Europäischen Union (vgl. Art. 63 EGV), die Regelungen über die Zuständigkeit zur Prüfung von Asylanträgen von Drittstaatsangehörigen trifft. Sie gilt also nicht für mögliche Asylanträge von EU-Bürgern, ebenso wenig ist sie auf Personen anwendbar, denen bereits der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde. Das wesentliche Grundprinzip ist jenes, dass den Drittstaatsangehörigen in einem der Mitgliedstaaten das Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Asylverfahren zukommt, jedoch nur ein Recht auf ein Verfahren in einem Mitgliedstaat, dessen Zuständigkeit sich primär nicht aufgrund des Wunsches des Asylwerbers, sondern aufgrund der in der Verordnung festgesetzten hierarchisch geordneten Zuständigkeitskriterien ergibt.

 

2.1.1. Es ist daher zunächst zu überprüfen, welcher Mitgliedstaat nach den hierarchisch aufgebauten (Art. 5 Abs. 1 Dublin II VO) Kriterien der Art. 6 bis 12 bzw. 14 und Art. 15 Dublin II VO, beziehungsweise nach dem Auffangtatbestand des Art. 13 Dublin II VO zur inhaltlichen Prüfung zuständig ist.

 

2.1.1.1. Im vorliegenden Fall ist dem Bundesasylamt zuzustimmen, dass eine Zuständigkeit der Republik Polen gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin II VO kraft vorangegangener erster Asylantragstellung in der Europäischen Union gemäß Art 13 Dublin II VO besteht. Die erste Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der getroffenen Unzuständigkeitsentscheidung ist somit gegeben und ist diese im Verfahren nicht bestritten worden.

 

Ebenso unbestrittenermaßen ist im Asylverfahren des Beschwerdeführers noch keine Sachentscheidung in Polen gefallen.

 

2.1.1.2. Es sind auch aus der Aktenlage keine Hinweise ersichtlich, wonach die Führung der Konsultationen im gegenständlichen Fall derart fehlerhaft erfolgt wäre, sodass von Willkür im Rechtssinn zu sprechen wäre und die Zuständigkeitserklärung des zuständigen Mitgliedstaates wegen Verletzung der gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgrundsätze aus diesem Grund ausnahmsweise keinen Bestand haben könnte (Filzwieser, Subjektiver Rechtsschutz und Vollziehung der Dublin II VO - Gemeinschaftsrecht und Menschenrechte, migraLex, 1/2007, 22ff; vgl auch das Gebot der Transparenz im "Dublin-Verfahren", VwGH 23.11.2006, Zl. 2005/20/0444). Das Konsultationsverfahren erfolgte mängelfrei.

 

2.1.2. Das Bundesasylamt hat ferner von der Möglichkeit der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO keinen Gebrauch gemacht. Es war daher noch zu prüfen, ob von diesem Selbsteintrittsrecht im gegenständlichen Verfahren ausnahmsweise zur Vermeidung einer Verletzung der EMRK zwingend Gebrauch zu machen gewesen wäre.

 

Der VfGH hat mit Erkenntnis vom 17.06.2005, Zl. B 336/05-11 festgehalten, die Mitgliedstaaten hätten kraft Gemeinschaftsrecht nicht nachzuprüfen, ob ein anderer Mitgliedstaat generell sicher sei, da eine entsprechende normative Vergewisserung durch die Verabschiedung der Dublin II VO erfolgt sei, dabei aber gleichzeitig ebenso ausgeführt, dass eine Nachprüfung der grundrechtlichen Auswirkungen einer Überstellung im Einzelfall gemeinschaftsrechtlich zulässig und bejahendenfalls das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO zwingend geboten sei.

 

Die Judikatur des VwGH zu den Determinanten dieser Nachprüfung lehnt sich an die Rechtsprechung des EGMR an und lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben werden soll, genügt nicht, um die Abschiebung des Fremden in diesen Staat als unzulässig erscheinen zu lassen. Wenn keine Gruppenverfolgung oder sonstige amtswegig zu berücksichtigende notorische Umstände grober Menschenrechtsverletzungen in Mitgliedstaaten der EU in Bezug auf Art. 3 EMRK vorliegen (VwGH 27.09.2005, Zl. 2005/01/0313), bedarf es zur Glaubhaftmachung der genannten Bedrohung oder Gefährdung konkreter auf den betreffenden Fremden bezogener Umstände, die gerade in seinem Fall eine solche Bedrohung oder Gefährdung im Fall seiner Abschiebung als wahrscheinlich erscheinen lassen (VwGH 26.11.1999, Zl. 96/21/0499, VwGH 09.05.2003, Zl. 98/18/0317; vgl auch VwGH 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059): "Davon abgesehen liegt es aber beim Asylwerber, besondere Gründe, die für die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes im zuständigen Mitgliedstaat sprechen, vorzubringen und glaubhaft zu machen. Dazu wird es erforderlich sein, dass der Asylwerber ein ausreichend konkretes Vorbringen erstattet, warum die Verbringung in den zuständigen Mitgliedstaat gerade für ihn die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes, insbesondere einer Verletzung von Art 3 EMRK, nach sich ziehen könnte, und er die Asylbehörden davon überzeugt, dass der behauptete Sachverhalt (zumindest) wahrscheinlich ist." (VwGH 23.01.2007, Zl. 2006/01/0949).

 

Die Vorlage allgemeiner Berichte ersetzt dieses Erfordernis in der Regel nicht (vgl. VwGH 17.02.1998, Zl. 96/18/0379; EGMR Mamatkulov & Askarov v Türkei, Rs 46827, 46951/99, 71-77), eine geringe Anerkennungsquote, eine mögliche Festnahme im Falle einer Überstellung ebenso eine allfällige Unterschreitung des verfahrensrechtlichen Standards des Art. 13 EMRK sind für sich genommen nicht ausreichend, die Wahrscheinlichkeit einer hier relevanten Menschenrechtsverletzung darzutun. Relevant wäre dagegen etwa das Vertreten von mit der GFK unvertretbaren rechtlichen Sonderpositionen in einem Mitgliedstaat oder das Vorliegen einer massiv rechtswidrigen Verfahrensgestaltung im individuellen Fall, wenn der Asylantrag im zuständigen Mitgliedstaat bereits abgewiesen wurde (Art. 16 Abs. 1 lit. e Dublin II VO). Eine ausdrückliche Übernahmeerklärung des anderen Mitgliedstaates hat in die Abwägung einzufließen (VwGH 31.03.2005, Zl. 2002/20/0582, VwGH 31.05.2005, Zl. 2005/20/0025, VwGH 25.04.2006, Zl. 2006/19/0673), ebenso andere Zusicherungen der europäischen Partnerstaaten Österreichs (zur Bedeutung solcher Sachverhalte Filzwieser/ Liebminger, Dublin II VO, K13. zu Art 19 Dublin II VO).

 

Weiterhin hatte der Asylgerichtshof folgende Umstände zu berücksichtigen:

 

Bei entsprechender Häufung von Fällen, in denen in Folge Ausübung des Selbsteintrittsrechts die gemeinschaftsrechtliche Zuständigkeit nicht effektuiert werden kann, kann eine Gefährdung des "effet utile" Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts entstehen.

 

Zur effektiven Umsetzung des Gemeinschaftsrechts sind alle staatlichen Organe kraft Gemeinschaftsrechts verpflichtet.

 

Der Verordnungsgeber der Dublin II VO, offenbar im Glauben, dass sich alle Mitgliedstaaten untereinander als "sicher" ansehen können, wodurch auch eine Überstellung vom einen in den anderen Mitgliedstaat keine realen Risken von Menschenrechtsverletzungen bewirken könnte (vgl. insbesondere den 2. Erwägungsgrund der Präambel der Dublin II VO), hat keine eindeutigen verfahrens- oder materiellrechtlichen Vorgaben für solche Fälle getroffen hat, diesbezüglich lässt sich aber aus dem Gebot der menschenrechtskonformen Auslegung des Gemeinschaftsrechts und aus Beachtung der gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgrundrechte ableiten, dass bei ausnahmsweiser Verletzung der EMRK bei Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat eine Überstellung nicht stattfinden darf. Die Beachtung des Effizienzgebots (das etwa eine pauschale Anwendung des Selbsteintrittsrechts oder eine innerstaatliche Verfahrensgestaltung, die Verfahren nach der Dublin II VO umfangreicher gestaltet als materielle Verfahren verbietet) und die Einhaltung der Gebote der EMRK stehen daher bei richtiger Anwendung nicht in Widerspruch (Filzwieser, migraLex, 1/2007, 18ff, Filzwieser/Liebminger, Dublin II VO, K8-K13. zu Art. 19).

 

Die allfällige Rechtswidrigkeit von Gemeinschaftsrecht kann nur von den zuständigen gemeinschaftsrechtlichen Organen, nicht aber von Organen der Mitgliedstaaten rechtsgültig festgestellt werden. Der EGMR hat festgestellt, dass der Rechtsschutz des Gemeinschafts-rechtes regelmäßig den Anforderungen der EMRK entspricht (30.06.2005, Bosphorus Airlines v Irland, Rs 45036/98).

 

Es bedarf sohin europarechtlich eines im besonderen Maße substantiierten Vorbringens und des Vorliegens besonderer vom Antragsteller bescheinigter außergewöhnlicher Umstände, um die grundsätzliche europarechtlich gebotene Annahme der "Sicherheit" der Partnerstaaten der Europäischen Union als einer Gemeinschaft des Rechts im individuellen Fall erschüttern zu können. Diesem Grundsatz entspricht auch die durch das AsylG 2005 eingeführte gesetzliche Klarstellung des § 5 Abs. 3 AsylG, die Elemente einer Beweislastumkehr enthält. Es trifft zwar ohne Zweifel zu, dass Asylwerber in ihrer besonderen Situation häufig keine Möglichkeit haben, Beweismittel vorzulegen (wobei dem durch das Institut des Rechtsberaters begegnet werden kann), und dies mitzubeachten ist (VwGH, 23.01.2007, Zl. 2006/01/0949), dies kann aber nicht pauschal dazu führen, die vom Gesetzgeber - im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht - vorgenommene Wertung des § 5 Abs. 3 AsylG überhaupt für unbeachtlich zu erklären (dementsprechend in ihrer Undifferenziertheit verfehlt, Feßl/Holzschuster, AsylG 2005, 225ff). Eine Rechtsprechung, die in Bezug auf Mitgliedstaaten der EU faktisch höhere Anforderungen entwickelte, als jene des EGMR in Bezug auf Drittstaaten wäre jedenfalls gemeinschaftsrechtswidrig.

 

2.1.2.1. Mögliche Verletzung des Art. 8 EMRK

 

Nach Angaben des Beschwerdeführers leben keine Angehörigen der Kernfamilie in Österreich. Die Tochter des Beschwerdeführers hält sich bereits seit 2003 im Bundesgebiet auf, die Söhne seit 2004 beziehungsweise seit 2005. Auch bestand vor deren Ausreise im Heimatland kein gemeinsamer Wohnsitz mit dem Beschwerdeführer. Der Beschwerdeführer selbst führt auch aus, dass im Heimatstaat kein gemeinsames Familienleben - mit Ausnahme häufiger Besuche - bestand. Eine finanzielle Abhängigkeit war ebenfalls nicht gegeben und wird auch nicht behauptet. Eine auf besondere Pflegebedürftigkeit gestützte Abhängigkeit des Beschwerdeführer im Heimatland kann aus seinen Ausführungen in den Einvernahmen nicht erkannt werden.

 

Die in der Beschwerde behauptete Pflegebedürftigkeit des Beschwerdeführers wurde bereits von der Erstbehörde in Zweifel gezogen, insbesondere aufgrund der vorliegenden ärztlichen Unterlagen ist vom Vorliegen einer solchen nicht auszugehen. Die bloßen unsubstantiiterten und unbelegten Behauptungen in der Beschwerdeschrift vermögen nicht zu überzeugen. Auch die getrennten Wohnsitze im Heimatland, der lange Aufenthalt des Beschwerdeführers in der Ukraine, wo er sich nach eigenen Angaben selbst versorgt und um Medikamente gekümmert hat, spricht nicht für einen erhöhten Pflegebedarf. Diesbezüglich ist den Ausführungen der Erstbehörde vollinhaltlich zu folgen.

 

Vom Vorliegen eines iSd Art. 8 EMRK relevanten, tatsächlichen und hinreichend intensiven Familienlebens, eines relevantes Abhängigkeitsverhältnisses des Beschwerdeführers zu seinen erwachsenen Kindern in Österreich insbesondere aus gesundheitlichen Gründen, war daher nicht auszugehen.

 

2.1.2.2. Kritik am polnischen Asylwesen

 

Hiezu ist einleitend festzuhalten, dass die seinerzeitige Judikatur zu § 4 AsylG 1997 und vor dem Beitritt zur Europäischen Union am 01.04.2006 nicht mehr unmittelbar relevant ist (zuletzt VwGH 25.04.2006, Zl. 2006/19/0673). Konkretes Vorbringen, das geeignet wäre, anzunehmen, dass Polen in Hinblick auf tschetschenische AsylwerberInnen unzumutbare rechtliche Sonderpositionen vertreten würde, ist nicht erstattet worden. Der bloße Umstand, dass eine Reihe von Asylverfahren negativ endet (wobei in Polen notorischerweise AntragstellerInnen aus Tschetschenien zumindest tolerierten Aufenthalt erhalten) ist mangels Bestehen eines allgemeinen Konsens über eine Gruppenverfolgung von Tschetschenen in Russland (auch in Österreich wird eine solche in der Regel nicht bejaht) und mangels verifizierbarer Angaben über ein Fehlverhalten polnischer Behörden im vorliegenden Fall kein ausreichendes Argument die Regelvermutung des § 5 Abs. 3 AsylG erschüttern zu können.

 

Die aktuellen auf Anfragebeantwortungen der Staatendokumentation beruhenden Feststellungen des Bundesasylamtes zu Polen, die in der erstinstanzlichen Einvernahme vorgehalten wurden, werden diesem Erkenntnis zugrunde gelegt. Hervorzuheben ist insbesondere, dass bei tschetschenischen AntragstellerInnen aus Tschetschenien aus Polen praktisch keine Abschiebungen in die Russische Föderation erfolgen. Aus einer Mitteilung der Österreichischen Botschaft Warschau vom 23.08.2007 geht hervor, dass die jüngsten Änderungen in der polnischen Gesetzeslage für Fremde und Asylwerber insbesondere die Einführung des subsidiären Schutzes entsprechend gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben betreffen sollen. Die Einführung des "subsidiären Schutzstatus" neben Flüchtlingsstatus und "tolerated stay" lässt ebenso keine potentielle Gefährdung tschetschenischer Schutzsuchender erkennen, sodass auf die näheren Details des Inkrafttretens der jeweiligen Regelungen und des genauen Inhalts vorangegangener Gesetzesänderungen hier mangels Entscheidungsrelevanz nicht näher einzugehen war, da jedenfalls keine dieser Gesetzesänderungen Grund zur Annahme gibt, dass Polen nunmehr allgemein oder im Besonderen gegenüber tschetschenischen Schutzsuchenden bedenkliche Sonderpositionen verträte.

 

2.1.2.3. Medizinische Krankheitszustände; Behandlungsmöglichkeiten in Polen

 

Unbestritten ist, dass nach der allgemeinen Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK und Krankheiten, die auch im vorliegenden Fall maßgeblich ist, eine Überstellung nach Polen nicht zulässig wäre, wenn dort wegen fehlender Behandlung sehr schwerer Krankheiten eine existenzbedrohende Situation drohte und diesfalls das Selbsteintrittsrecht der Dublin II VO zwingend auszuüben wäre.

 

In diesem Zusammenhang ist vorerst auf das jüngste diesbezügliche Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes (VfGH vom 06.03.2008, Zl. B 2400/07-9) zu verweisen, welches die aktuelle Rechtsprechung des EGMR zur Frage der Vereinbarkeit der Abschiebung Kranker in einen anderen Staat mit Art. 3 EMRK festhält (D. v. the United Kingdom, EGMR 02.05.1997, Appl. 30.240/96, newsletter 1997,93; Bensaid, EGMR 06.02.2001, Appl. 44.599/98, newsletter 2001,26; Ndangoya, EGMR 22.06.2004, Appl. 17.868/03; Salkic and others, EGMR 29.06.2004, Appl. 7702/04; Ovdienko, EGMR 31.05.2005, Appl. 1383/04; Hukic, EGMR 29.09.2005, Appl. 17.416/05; EGMR Ayegh, 07.11.2006; Appl. 4701/05; EGMR Goncharova & Alekseytsev, 03.05.2007, Appl. 31.246/06).

 

Zusammenfassend führt der VfGH aus, das sich aus den erwähnten Entscheidungen des EGMR ergibt, dass im Allgemeinen kein Fremder ein Recht hat, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet oder selbstmordgefährdet ist. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, solange es grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat bzw. in einem bestimmten Teil des Zielstaates gibt. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung des Art. 3 EMRK. Solche liegen etwa vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben (Fall D. v. the United Kingdom).

 

Aus diesen Judikaturlinien des EGMR ergibt sich jedenfalls der für das vorliegende Beschwerdeverfahren relevante Prüfungsmaßstab.

 

Nach der geltenden Rechtslage ist eine Überstellung dann unzulässig, wenn die Durchführung eine in den Bereich des Art. 3 EMRK reichende Verschlechterung des Krankheitsverlaufs oder der Heilungsmöglichkeiten bewirken würde (siehe Feststellungen des Innenausschusses zu § 30 AsylG); dabei sind die von den Asylbehörden festzustellenden Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat als Hintergrundinformation beachtlich, sodass es sich quasi um eine "erweiterte Prüfung der Transportfähigkeit" handelt.

 

Akut existenzbedrohende Krankheitszustände oder Hinweise einer unzumutbaren Verschlechterung der Krankheitszustände im Falle einer Überstellung nach Polen sind der Aktenlage - wie bereits ausgeführt - nicht zu entnehmen. Auch konnte vom Beschwerdeführer keine Notwendigkeit weitere Erhebungen seitens des Asylgerichthofes belegt werden. Die Überstellungsfähigkeit wurden im erstinstanzlichen Verfahren bereits medizinisch in schlüssiger Form bejaht und ist dem nichts Entscheidendes entgegengesetzt worden. Die Beschwerde enthält keine konkreten Ausführungen, warum und in welcher Weise sich bei einer Überstellung nach Polen der Krankheitszustand des Beschwerdeführers unzumutbar verschlechtern würde. Es sind somit nach Ansicht des Asylgerichtshofes zu dieser Frage weitere Beweisaufnahmen nicht erforderlich.

 

Des Weiteren ist auf die Feststellungen der Erstbehörde zur medizinischen Versorgung in Polen zu verweisen. In diesem Zusammenhang überzeugen die Ausführungen in der Beschwerde nicht, die sich im Wesentlichen auf ein mangelndes Vertrauen in die polnische medizinische Versorgung und eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Beschwerdeführers beziehen. Die Feststellungen des Bundesasylamtes, welche insbesondere auf aktuellen Ermittlungen im Weg des Amtes für Fremdenangelegenheiten Polens und einer Anfrage bei European Council On Refugees And Exiles beruhen, lassen sehr wohl den Schluss zu, dass in Polen eine medizinische Versorgung besteht, die jedenfalls im Lichte der Judikatur des EGMR zu Krankheiten eine existenzbedrohende Gefährdung qualifiziert unwahrscheinlich erscheinen lässt. Der Asylgerichtshof verkennt dabei nicht, dass es in der medizinischen Versorgung in Polen (wie in vielen anderen Staaten) Verbesserungsbedarf gibt, dies tangiert zum einen jedoch nicht per se den Schutzbereich des Art. 3 EMRK, zum anderen ist aufgrund der Feststellungen des Bundesasylamtes davon auszugehen, dass es jedenfalls keine schwerwiegenden Unterschiede zu Österreich gibt (alle Krankheiten grundsätzlich behandelbar); ein außergewöhnlicher komplexer Krankheitszustand, der allfälligerweise im Einzelfall eine andere Beurteilung angezeigt erscheinen ließe, liegt hier jedenfalls nicht vor.

 

2.1.2.4. Zusammenfassend sieht der Asylgerichtshof im Einklang mit der diesbezüglichen Sichtweise der Erstbehörde keinen Anlass, Österreich zwingend zur Anwendung des Art. 3 Abs. 2 VO 343/2003 infolge drohender Verletzung von Art. 3 oder Art. 8 EMRK zu verpflichten.

 

2.1.3. Spruchpunkt I der erstinstanzlichen Entscheidung war sohin bei Übernahme der Beweisergebnisse und rechtlichen Würdigung der Erstbehörde mit obiger näherer Begründung zu bestätigen.

 

2.2. Die Erwägungen der Erstbehörde zu Spruchpunkt II waren vollinhaltlich zu übernehmen. Auch im Beschwerdeverfahren sind keine Hinweise hervorgekommen, die eine Aussetzung der Überstellung nach Polen in Vollzug der Ausweisung aus Österreich erforderlich erschienen ließen. Diese erweist sich daher bezogen auf den Entscheidungszeitpunkt als zulässig.

 

2.3. Gemäß § 41 Abs. 4 AsylG konnte von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen werden.

 

Es war somit spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte
Abhängigkeitsverhältnis, Ausweisung, familiäre Situation, Familienverfahren, gesundheitliche Beeinträchtigung, Intensität, medizinische Versorgung, real risk, Überstellungsrisiko (ab 08.04.2008)
Zuletzt aktualisiert am
20.10.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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