TE AsylGH Erkenntnis 2008/09/24 S10 401537-1/2008

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Veröffentlicht am 24.09.2008
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Spruch

S10 401.537-1/2008/2E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Dr. ROSENAUER als Einzelrichter über die Beschwerde von Frau O.Y., vertreten durch RA Dr. Martin DELLASEGA und RA Dr. Max KAPFERER, geb. 00.00.1953, StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 05.09.2008, Zahl: 08 05.208-EAST Ost, zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde wird gemäß § 41 Abs. 3 AsylG 2005 idF BGBl. I Nr. 100/2005 stattgegeben und der bekämpfte Bescheid behoben.

 

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:

Text

1. Verfahrensgang und Sachverhalt:

 

Der Verfahrensgang vor der erstinstanzlichen Behörde ergibt sich aus dem erstinstanzlichen Verwaltungsakt und stellt sich im Wesentlichen wie folgt dar:

 

1.1. Die Beschwerdeführerin (in der Folge BF) ist laut eigenen glaubwürdigen Angaben Staatsangehörige der russischen Föderation und gehört der tschetschenischen Volksgruppe an. Sie wurde am 15.06.2008 anlässlich einer Grenzkontrolle durch die Grenzpolizeiinspektion Drasenhofen nach ihrer Einreise nach Österreich gemeinsam mit ihrer Tochter und ihrem achtjährigen behinderten Neffen festgenommen, da sie über keine Reisedokumente verfügten, und brachte am 16.06.2008 einen Antrag auf internationalen Schutz ein. Im Zuge der niederschriftlichen Befragung vor einem Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Grenzpolizeiinspektion Großkrut am selben Tag gab sie im Wesentlichen Folgendes an:

 

Sie habe ihren Heimatort Grozny am 11.06.2008 per Zug verlassen und sei legal mit russischem Reisepass ausgereist. Der Reisepass sei von der polnischen Grenzpolizei beschlagnahmt worden (Beschlagnahmequittung vorhanden). Sie sei von Grozny über Moskau und Brest (Weißrussland) am 14.06.2008 nach Lublin (Polen) gereist. Am 15.06.2008 wäre sie von ihrem Sohn und dessen Freund mit dem PKW über Tschechien bei Mikulov/Drasenhofen nach Österreich gebracht worden. Sie wäre gemeinsam mit ihrer Tochter A.L. und ihrem mj. Neffen O.I. (Sohn ihres behinderten Bruders) gereist. Die Mutter ihres Neffen befinde sich in Tschetschenien mit vier weiteren Kindern und pflege dort deren kranken behinderten Mann. Sie leide unter verschiedenen körperlichen Beschwerden, unter anderem unter erhöhtem Blutdruck.

 

Als Fluchtgrund gab sie an, dass die Russen sie nicht in Ruhe leben lassen würden, ihre Kinder würden alle in Österreich leben.

 

1.2. Ein AFIS-Abgleich ergab, dass die BF (wie auch ihre mitgereiste Tochter) bereits am 14.06.2008 in Lublin (Polen) erkennungsdienstlich behandelt worden war. Am 18.06.2008 wurde ein Aufnahmeersuchen gemäß der Verordnung Nr. 343/2003 (EG) des Rates (in der Folge Dublin II VO) an Polen gerichtet. Da die erstinstanzliche Behörde ein Vorgehen nach

 

§ 29 Abs. 3 Z 4 AsylG 2005 (in der Folge AsylG) beabsichtigte, wurde der Asylwerberin mitgeteilt, dass Konsultationen mit Polen gemäß Dublin II VO geführt würden und somit die 20-Tages-Frist gemäß § 28 Abs. 2 AsylG für Verfahrenszulassungen nicht mehr gelte. Diese Mitteilung wurde schriftlich ausgefertigt und der BF am 19.06.2008 ausgefolgt. Mit Erklärung vom 04.07.2008 erklärte sich Polen ausdrücklich gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c der Dublin II VO für zuständig.

 

1.3. Am 30.06.2008 wurde die BF einer Untersuchung gemäß § 10 AsylG durch Frau Dr. I. H., MSc, Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapeutische Medizin, unterzogen. Deren "Gutachtlicher Stellungnahme" zufolge ist der Mann der BF laut ihren Angaben vor 20 Jahren verstorben. In Österreich befänden sich drei Söhne und eine Tochter. Sie habe früher als Erzieherin gearbeitet. Sie und ihre Tochter hätten zuletzt ständig woanders wohnen müssen. Sie habe vor ca. 2 Jahren einen Infarkt gehabt, habe eine Bruchoperation gehabt, habe Diabetes und Bluthochdruck. Sie nähme gegen Herzprobleme und hohen Blutdruck Tabletten und leide unter Kopfschmerzen. Laut Kalkül der medizinischen Sachverständigen lag keine belastungsabhängige krankheitswertige psychische Störung vor.

 

Die am selben Tag durchgeführte Untersuchung der mitgereisten Tochter der BF, A.L., durch dieselbe Sachverständige, ergab laut Kalkül ebenfalls keine belastungsabhängige krankheitswertige psychische Störung. Laut Gutachterin entstand jedoch der Eindruck einer zu ihrer Mutter dependenten Persönlichkeit, eventuell auch kulturell verstärkt, was nach den explorierbaren Sachverhalten nicht als Traumafolge-Störung, sondern als entwicklungs-/persönlichkeitsbedingt einzustufen sei.

 

1.4. Am 11.07.2008 erfolgte eine niederschriftliche Einvernahme, in der die BF im Beisein eines Rechtsberaters und eines Dolmetsch für die russische Sprache im Wesentlichen Folgendes vorbrachte:

 

Sie sei Witwe und hätte mit ihren Kindern vor deren Ausreise nach Österreich im Herkunftsland in gemeinsamem Haushalt gelebt. Sie hätte in Polen niemand, hätte mit ihren Kindern telefonischen Kontakt gehabt und wolle ihren verbleibenden Lebensrest gemeinsam mit ihren Kindern verbringen.

 

1.5. In einer weiteren Einvernahme am 28.08.2008 wurde niederschriftlich festgehalten, dass laut Mitteilung des Bezirksgerichtes Baden dem Sohn der BF, A.R., die Obsorge für ihren mj. Neffen O.I. übertragen worden sei (Beschluss vom 27.08.2008). Die BF gab an, sie werde von ihren Söhnen R. und H. finanziell unterstützt. Sie wohne nach wie vor im Lager Traiskirchen. Von ihren Kindern werde sie regelmäßig besucht.

 

1.6. Das Bundesasylamt hat mit dem verfahrensgegenständlichen angefochtenen Bescheid vom 05.09.2008, Zahl: 08 05.208-EAST Ost, den Antrag auf internationalen Schutz, ohne in die Sache einzutreten, gemäß § 5 Abs. 1 AsylG als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass für die Prüfung des gegenständlichen Antrages auf internationalen Schutz gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c der Dublin II VO Polen zuständig sei. Gleichzeitig wurde die BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen und gemäß § 10 Abs. 4 AsylG festgestellt, dass die Abschiebung nach Polen zulässig sei.

 

Die Erstbehörde traf in diesem Bescheid Feststellungen zur Person der BF, zur Begründung des Dublin-Tatbestandes, zu ihrem Privat- und Familienleben, zum polnischen Asylverfahren im Allgemeinen, zum Tschetschenen-Refoulement sowie zur allgemeinen und medizinischen Versorgung von Asylwerbern in Polen und zur Anerkennungsquote.

 

Die Erstbehörde gelangte zum Schluss, dass weder medizinische noch sonstige Umstände (einschließlich verwandtschaftlicher Anknüpfungspunkte) vorlägen, die einer Überstellung der BF nach Polen entgegenstünden. Zu ihren bereits in Österreich aufhältigen Kindern liege kein Abhängigkeitsverhältnis vor, das unter Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (in der Folge EMRK) zu subsumieren wäre.

 

Einzig zu ihrer volljährigen Tochter liege eine außergewöhnliche Beziehung vor, mit der sie jedoch gemeinsam illegal nach Österreich eingereist sei, und deren Zulassungsverfahren im übrigen gleichzeitig negativ entschieden worden sei, sodass einer gemeinsamen Rückführung nach Polen nichts entgegenstünde.

 

Bezüglich ihres mj. Neffen sei das Obsorgerecht auch auf Wunsch der BF auf ihren Sohn A.R. übertragen worden und liege somit kein schützenswertes Familienverhältnis im Sinne des Art. 8 EMRK vor.

 

Nach Ansicht der Erstbehörde war unter Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen eine Verletzung von Art. 3 und Art. 8 EMRK somit nicht festzustellen, wodurch von der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO kein Gebrauch zu machen war.

 

1.7. Gegen diesen Bescheid hat die BF anwältlich vertreten fristgerecht mit Schriftsatz vom 11.09.2008, eingelangt am 12.09.2008 bei der Erstbehörde, Beschwerde erhoben. Darin wurden Rechtswidrigkeit infolge Mangelhaftigkeit des Verfahrens und Rechtswidrigkeit des Inhalts geltend gemacht, sowie die Zulassung des Asylverfahrens und die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung beantragt. Gleichlautendes wurde für die Tochter der BF, A.L. beantragt. Bezüglich des mj. Neffen der BF, O.I., richtete sich die Beschwerde gegen dessen ihm gewährte Zulassung zum Asylverfahren mit dem Begehren, ihm Asyl zu gewähren.

 

In der Begründung dazu wurde unter anderem Wesentlichen ausgeführt, dass der mj. O.I. seit sechs Jahren bei seiner Tante, der BF, lebe. Die Tante sei die einzige wirkliche Bezugsperson des Buben. Insoweit der angefochtene Bescheid (auf Seite 19) ausführe: "Dass ein besonderes Beziehungsverhältnis oder gar ein Pflege- oder ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, wurde von Ihnen nicht behauptet" (Anmerkung: richtig "dargetan"), und insoweit auf der selben Seite fälschlich ausgeführt sei, dass "keine engen Verwandten im Bundesgebiet" lebten, sei der Bescheid aktenwidrig und daher rechtswidrig.

 

Weiters wurde ausgeführt, dass die BF (wie auch ihre mitgereiste Tochter) auf die Unterstützung ihrer Familie in Österreich angewiesen wäre und an depressiven Erkrankungen leide.

 

In der Beschwerde wurde weiters die Problematik der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Behinderten thematisiert, die zur Qualifizierung einer Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (in der Folge GFK) führen könne, was für den mitgereisten mj. Neffen der BF in dessen Herkunftsstaat zutreffe. Der mj. Neffe der BF dürfe daher nicht von seiner Bezugsperson getrennt werden.

 

Die BF und ihre mitgereiste Tochter seien schwer traumatisiert, depressiv und verzweifelt. Eine Abschiebung nach Slowenien (Anmerkung: richtig Polen) verletze daher ihre Rechte nach Art. 3

EMRK.

 

1.8. Die gegenständliche Beschwerde samt erstinstanzlichem Verwaltungsakt langte am 17.09.2008 beim Asylgerichtshof ein.

 

2. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

Verfahrensgang und Sachverhalt ergeben sich aus dem vorliegenden Verwaltungsakt.

 

Rechtlich ergibt sich Folgendes:

 

2.1. Mit Datum 01.01.2006 ist das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl in Kraft getreten (AsylG idF BGBl. I Nr. 100/2005, zuletzt geändert mit BGBl. I Nr. 4/2008) und ist auf die ab diesem Zeitpunkt gestellten Anträge auf internationalen Schutz, sohin auch auf den vorliegenden, anzuwenden.

 

Gemäß § 5 Abs. 1 AsylG ist ein nicht gemäß § 4 AsylG erledigter Asylantrag als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder aufgrund der Dublin II VO zur Prüfung des Asylantrages zuständig ist. Mit dem Zurückweisungsbescheid hat die Asylbehörde auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG ist die Zurückweisung eines Antrages nach Maßgabe des § 10 Abs. 3 und Abs. 4 AsylG mit einer Ausweisung zu verbinden.

 

Die Dublin II VO ist eine Verordnung des Gemeinschaftsrechts im Anwendungsbereich der 1. Säule der Europäischen Union (vgl. Art. 63 EGV), die Regelungen über die Zuständigkeit zur Prüfung von Asylanträgen von Drittstaatsangehörigen trifft. Sie gilt also nicht für mögliche Asylanträge von EU-Bürgern, ebensowenig ist sie auf Personen anwendbar, denen bereits der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde. Das Grundprinzip ist, dass Drittstaatsangehörigen das Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Asylverfahren in einem Mitgliedstaat zukommt, jedoch nur in einem Mitgliedstaat, dessen Zuständigkeit sich primär nicht aufgrund des Wunsches des Asylwerbers, sondern aufgrund der in der Verordnung festgesetzten hierarchisch geordneten Zuständigkeitskriterien ergibt.

 

2.1.1. Es ist daher zunächst zu überprüfen, welcher Mitgliedstaat nach den hierarchisch aufgebauten (Art. 5 Abs. 1 Dublin II VO) Kriterien der Art. 6-12 bzw. 14 und 15 Dublin II VO, beziehungsweise dem Auffangtatbestand des Art. 13 Dublin II VO zur inhaltlichen Prüfung zuständig ist.

 

2.1.1.1. Das aufgrund des Vorliegens der Tatbestandsmerkmale des Art. 16 Abs. 1 lit. c der Dublin II VO eingeleitete Aufnahmeersuchen an Polen erfolgte innerhalb der Frist von drei Monaten nach Einreichung des Asylantrages durch den Beschwerdeführer (Art. 17 Abs. 1 Dublin II VO).

 

Im vorliegenden Fall hat das Bundesasylamt zutreffend festgestellt, dass eine Zuständigkeit Polens gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c der Dublin II VO besteht. Eine ausdrückliche Zustimmung vom 20.06.2008 zur Aufnahme des BF durch die polnischen Behörden liegt vor. Die erste Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der getroffenen Unzuständigkeitsentscheidung ist somit gegeben.

 

Es sind auch aus der Aktenlage keine Hinweise ersichtlich, wonach die Führung der Konsultationen im gegenständlichen Fall derart fehlerhaft erfolgt wäre, sodass von Willkür im Rechtssinn zu sprechen wäre und die Zuständigkeitserklärung des zuständigen Mitgliedstaates wegen Verletzung der gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgrundsätze aus diesem Grund ausnahmsweise keinen Bestand haben könnte (Filzwieser, Subjektiver Rechtsschutz und Vollziehung der Dublin II VO - Gemeinschaftsrecht und Menschenrechte, migraLex, 1/2007, 22ff; vgl. auch das Gebot der Transparenz im "Dublin-Verfahren", VwGH 23.11.2006,

 

Zl. 2005/20/0444).

 

2.1.2. Das Bundesasylamt hat ferner von der Möglichkeit der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO keinen Gebrauch gemacht. Es war daher noch zu prüfen, ob von diesem Selbsteintrittsrecht im gegenständlichen Verfahren ausnahmsweise zur Vermeidung einer Verletzung der EMRK zwingend Gebrauch zu machen gewesen wäre.

 

Der VfGH hat mit Erkenntnis vom 17.06.2005, Zahl B 336/05-11, festgehalten, die Mitgliedstaaten hätten kraft Gemeinschaftsrecht nicht nachzuprüfen, ob ein anderer Mitgliedstaat generell sicher sei, da eine entsprechende normative Vergewisserung durch die Verabschiedung der Dublin II VO erfolgt sei, dabei aber gleichzeitig ebenso ausgeführt, dass eine Nachprüfung der grundrechtlichen Auswirkungen einer Überstellung im Einzelfall gemeinschaftsrechtlich zulässig und bejahendenfalls das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO zwingend geboten sei.

 

Die Judikatur des VwGH zu den Determinanten dieser Nachprüfung lehnt sich an die Rechtsprechung des EGMR an und lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben werden soll, genügt nicht, um die Abschiebung des Fremden in diesen Staat als unzulässig erscheinen zu lassen. Wenn keine Gruppenverfolgung oder sonstige amtswegig zu berücksichtigende notorische Umstände grober Menschenrechtsverletzungen in Mitgliedstaaten der EU in Bezug auf Art. 3 EMRK vorliegen (VwGH 27.09.2005, Zl. 2005/01/0313), bedarf es zur Glaubhaftmachung der genannten Bedrohung oder Gefährdung konkreter auf den betreffenden Fremden bezogener Umstände, die gerade in seinem Fall eine solche Bedrohung oder Gefährdung im Fall seiner Abschiebung als wahrscheinlich erscheinen lassen (VwGH 26.11.1999, Zl 96/21/0499, VwGH 09.05.2003, Zl. 98/18/0317; vgl. auch VwGH 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059): "Davon abgesehen liegt es aber beim Asylwerber, besondere Gründe, die für die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes im zuständigen Mitgliedstaat sprechen, vorzubringen und glaubhaft zu machen. Dazu wird es erforderlich sein, dass der Asylwerber ein ausreichend konkretes Vorbringen erstattet, warum die Verbringung in den zuständigen Mitgliedstaat gerade für ihn die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes, insbesondere einer Verletzung von Art. 3 EMRK, nach sich ziehen könnte, und er die Asylbehörden davon überzeugt, dass der behauptete Sachverhalt (zumindest) wahrscheinlich ist." (VwGH 23.01.2007, Zl. 2006/01/0949).

 

Die Vorlage allgemeiner Berichte ersetzt dieses Erfordernis in der Regel nicht (vgl. VwGH 17.02.1998, Zl. 96/18/0379; EGMR Mamatkulov & Askarov v Türkei, Rs 46827, 46951/99, 71-77), eine geringe Anerkennungsquote, eine mögliche Festnahme im Falle einer Überstellung, ebenso eine allfällige Unterschreitung des verfahrensrechtlichen Standards des Art. 13 EMRK sind für sich genommen nicht ausreichend, die Wahrscheinlichkeit einer hier relevanten Menschenrechtsverletzung darzutun. Relevant wäre dagegen etwa das Vertreten von mit der GFK unvertretbaren rechtlichen Sonderpositionen in einem Mitgliedstaat oder das Vorliegen einer massiv rechtswidrigen Verfahrensgestaltung im individuellen Fall, wenn der Asylantrag im zuständigen Mitgliedstaat bereits abgewiesen wurde (Art. 16 Abs 1 lit. e Dublin II VO). Eine ausdrückliche Übernahmeerklärung des anderen Mitgliedstaates hat in die Abwägung einzufließen (VwGH 31.03.2005, Zl. 2002/20/0582, VwGH 31.05.2005, Zl. 2005/20/0025, VwGH 25.04.2006, Zl. 2006/19/0673), ebenso andere Zusicherungen der europäischen Partnerstaaten Österreichs (zur Bedeutung solcher Sachverhalte Filzwieser/Liebminger, Dublin II VO, K13. zu Art. 19 Dublin II VO).

 

Weiterhin hatte der Asylgerichtshof folgende Umstände zu berücksichtigen:

 

Bei entsprechender Häufung von Fällen, in denen in Folge Ausübung des Selbsteintrittsrechts die gemeinschaftsrechtliche Zuständigkeit nicht effektuiert werden kann, kann eine Gefährdung des "effet utile" Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts entstehen.

 

Zur effektiven Umsetzung des Gemeinschaftsrechts sind alle staatlichen Organe kraft Gemeinschaftsrechts verpflichtet.

 

Der Verordnungsgeber der Dublin II VO, offenbar im Glauben, dass sich alle Mitgliedstaaten untereinander als "sicher" ansehen können, wodurch auch eine Überstellung vom einen in den anderen Mitgliedstaat keine realen Risken von Menschenrechtsverletzungen bewirken könnte (vgl. insbesondere den 2. Erwägungsgrund der Präambel der Dublin II VO), hat keine eindeutigen verfahrens- oder materiellrechtlichen Vorgaben für solche Fälle getroffen, diesbezüglich lässt sich aber aus dem Gebot der menschenrechtskonformen Auslegung des Gemeinschaftsrechts und aus Beachtung der gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgrundrechte ableiten, dass bei ausnahmsweiser Verletzung der EMRK bei Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat eine Überstellung nicht stattfinden darf. Die Beachtung des Effizienzgebots (das etwa eine pauschale Anwendung des Selbsteintrittsrechts oder eine innerstaatliche Verfahrensgestaltung, die Verfahren nach der Dublin II VO umfangreicher gestaltet als materielle Verfahren, verbietet) und die Einhaltung der Gebote der EMRK stehen daher bei richtiger Anwendung nicht in Widerspruch (Filzwieser, migraLex, 1/2007, 18ff, Filzwieser/Liebminger, Dublin II VO, K8-K13. zu Art. 19).

 

Die allfällige Rechtswidrigkeit von Gemeinschaftsrecht kann nur von den zuständigen gemeinschaftsrechtlichen Organen, nicht aber von Organen der Mitgliedstaaten rechtsgültig festgestellt werden. Der EGMR hat jüngst festgestellt, dass der Rechtsschutz des Gemeinschaftsrechts regelmäßig den Anforderungen der EMRK entspricht (30.06.2005, Bosphorus Airlines v Irland, Rs 45036/98).

 

Es bedarf sohin europarechtlich eines im besonderen Maße substantiierten Vorbringens und des Vorliegens besonderer vom Antragsteller bescheinigter außergewöhnlicher Umstände, um die grundsätzliche europarechtlich gebotene Annahme der "Sicherheit" der Partnerstaaten der Europäischen Union als einer Gemeinschaft des Rechts im individuellen Fall erschüttern zu können. Diesem Grundsatz entspricht auch die durch das AsylG 2005 eingeführte gesetzliche Klarstellung des § 5 Abs. 3 AsylG, die Elemente einer Beweislastumkehr enthält. Es trifft zwar ohne Zweifel zu, dass Asylwerber in ihrer besonderen Situation häufig keine Möglichkeit haben, Beweismittel vorzulegen (wobei dem durch das Institut des Rechtsberaters begegnet werden kann), und dies mitzubeachten ist (VwGH, 23.01.2007, Zl. 2006/01/0949), dies kann aber nicht pauschal dazu führen, die vom Gesetzgeber - im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht - vorgenommene Wertung des § 5 Abs. 3 AsylG überhaupt für unbeachtlich zu erklären (dementsprechend in ihrer Undifferenziertheit verfehlt Feßl/Holzschuster, AsylG 2005, 225ff). Eine Rechtsprechung, die in Bezug auf Mitgliedstaaten der EU faktisch höhere Anforderungen entwickelte als jene des EGMR in Bezug auf Drittstaaten, wäre jedenfalls gemeinschaftsrechtswidrig.

 

Was die Frage der "Beweislast" anbelangt, so ist vorweg klarzustellen, dass bei Vorliegen "offenkundiger" Gründe (zum Begriff der "Offenkundigkeit" vgl. § 45 Abs. 1 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 (AVG) und die dazu ergangene Judikatur, beispielsweise zitiert in Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensgesetze I2 (1998), E 27 zu § 45 AVG) eine Mitwirkung des Asylwerbers zur Widerlegung der in § 5 Abs. 3 AsylG implizit aufgestellten Vermutung nicht erforderlich ist. Davon abgesehen liegt es aber beim Asylwerber, besondere Gründe, die für die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes im zuständigen Mitgliedstaat sprechen, vorzubringen und glaubhaft zu machen. Dazu wird es erforderlich sein, dass der Asylwerber ein ausreichend konkretes Vorbringen erstattet, warum die Verbringung in den zuständigen Mitgliedstaat gerade für ihn die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes, insbesondere einer Verletzung von Art. 3 EMRK, nach sich ziehen könnte, und er die Asylbehörden davon überzeugt, dass der behauptete Sachverhalt (zumindest) wahrscheinlich ist. Es versteht sich von selbst, dass bei der Beurteilung, ob die geforderte "Glaubhaftmachung" gelungen ist, der besonderen Situation von Asylwerbern, die häufig keine Möglichkeit der Beischaffung von entsprechenden Beweisen haben, Rechnung getragen werden muss (in diesem Sinne auch Feßl/Holzschuster, Asylgesetz 2005, 226). Hat der Asylwerber die oben angesprochenen besonderen Gründe glaubhaft gemacht, ist die dem § 5 Abs. 3 AsylG immanente Vermutung der im zuständigen Mitgliedstaat gegebenen Sicherheit vor Verfolgung widerlegt. In diesem Fall sind die Asylbehörden gehalten, allenfalls erforderliche weitere Erhebungen (auch) von Amts wegen durchzuführen, um die (nach der Rechtsprechung des EGMR und der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes erforderliche) Prognose, der Asylwerber werde bei Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat der realen Gefahr ("real risk") einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt sein, erstellen zu können. Diese Ermittlungspflicht ergibt sich aus § 18 AsylG, die insoweit von § 5 Abs. 3 AsylG unberührt bleibt (VwGH 23.01.2007, Zl. 2006/01/0949; vgl. ähnlich auch VwGH 21.03.2007, Zl. 2006/19/0289).

 

2.2. Im konkreten Fall ist eine Interessensabwägung vorzunehmen. Die vielfachen in ihrer Gesamtheit als ernst anzusehenden gesundheitlichen Beschwerden der BF, das Verhältnis der BF als Bezugsperson zu ihrem mj. behinderten Neffen und die außergewöhnlich engen Beziehungen der BF zu ihren in Österreich als Flüchtling anerkannten Söhnen und zu ihrer in Österreich lebenden Tochter, die den Kriterien des Art. 15 Abs. 2 Dublin II VO entsprechen (arg:

wegen schwerer Krankheit auf Unterstützung anderer Personen angewiesen; hier ist ein weiter Familienbegriff zugrundezulegen; Art. 15 Abs. 2 Dublin II VO kann als Kehrseite zu Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO aufgefasst werden; siehe Filzwieser/Liebminger, Dublin II VO K8 zu Art. 3, K11 ff zu Art. 15), legen in einer Gesamtschau mit allgemeinen humanitären Aspekten einen verpflichtenden Selbsteintritt Österreichs nahe, insofern eine dem Art. 7 Dublin II VO gleichzuhaltende Konstellation - wenngleich keine Kernfamilie vorliegt - gegeben ist. Dafür ist es zunächst erforderlich, die näheren Lebensumstände des mj. Neffen der BF und seine Beziehungen zur BF, zum neu bestellten Obsorgeberechtigten und zu sonstigen Familienmitgliedern zu kennen, um sie abwägen und würdigen zu können.

 

Das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der Zuständigkeitsordnung der Dublin II VO könnte demgegenüber in dieser besonderen inividuellen Fallkonstellation hier zurücktreten, zumal es auch sonst (wegen der wahrscheinlichen sachlichen Nähe allfälliger inhaltlicher Verfolgungsbehauptung) naheläge, dass das inhaltliche Asylverfahren der BF dort geführt wird, wo schon jenes ihrer Söhne geführt wurde und nun auch jenes ihres Neffen geführt wird.

 

Dem Akteninhalt ist weiters nicht zu entnehmen, wie die Frage der gesetzlichen Vertretung des mj. Neffen der BF geklärt worden ist. Im Akt findet sich lediglich der Hinweis auf eine vom Bezirksgericht Baden per Beschluss ausgesprochene Übertragung der Obsorge auf den Sohn der BF, A.R.. Sofern davon ausgegangen sein sollte, dass es sich dabei um einen unbegleiteten Minderjährigen gehandelt hätte, wäre seitens der Erstbehörde klar darzustellen gewesen, inwieweit dem nicht die Begleitung durch seine Tante bzw. durch die BF entgegensteht und somit nicht sie als gesetzliche Vertreterin anzusehen gewesen wäre, deren Verfahren gleich zu behandeln gewesen wäre wie jenes ihres Neffen.

 

2.3. Im fortgesetzten Verfahren wird die Erstbehörde ein ergänztes Beweisverfahren durchzuführen haben und dabei zunächst die Frage der gesetzlichen Vertretung des mj. Neffen der BF zu klären haben, sowie dessen Verhältnis zu seiner vorgeblichen Bezugsperson wie auch dessen und ihr Verhältnis zur Tochter der BF zu klären haben; dies umso mehr, als aufgrund der vorliegenden ärztlichen gutächtlichen Stellungnahmen bezüglich der BF und ihrer mitgereisten Tochter eine spezielle Abhängigkeit der Tochter von ihrer Mutter angenommen werden kann. Auch die vielfachen gesundheitlichen Probleme der BF, aber auch die psychischen Probleme der Tochter der BF werden in geeigneter Weise und in der hier erforderlichen gesamthaften Art und Weise festzustellen und zu berücksichtigen sein. In weiterer Folge wird eine Interessensabwägung im Sinne der unter Punkt 2.2. ausgeführten Gesichtspunkte zu erfolgen haben. Für den Fall, dass die BF und ihre Tochter wichtige und notwendige Bezugspersonen für den mj. Neffen der BF, der bereits zum Verfahren zugelassen worden ist, sind, erschiene eine gemeinsame Verfahrensführung schon aus verwaltungsökonomischen Gründen zweckmäßig.

 

2.4. Als maßgebliche Determinante für die Anwendbarkeit des § 41 Abs. 3 AsylG in diesem Zusammenhang ist die Judikatur zum § 66 Abs. 2 AVG heranzuziehen, wobei allerdings kein Ermessen des Asylgerichtshofes besteht.

 

Auch der Asylgerichtshof ist - wenn auch gemäß § 41 Abs. 3 AsylG nicht bei Beschwerden gegen eine zurückweisende Entscheidung und die damit verbundene Ausweisung (in diesem Fall ist statt dessen die fast gleichlautende Bestimmung des § 41 Abs. 3 3. Satz AsylG anzuwenden) - zur Anwendung des § 66 Abs. 2 AVG berechtigt (vgl. dazu VwGH 21.11.2002, 2002/20/0315 und 21.11.2002, 2000/20/0084; ferner VwGH 21.09.2004, Zl. 2001/01/0348). Eine kassatorische Entscheidung darf vom Asylgerichtshof nicht bei jeder Ergänzungsbedürftigkeit des Sachverhaltes, sondern nur dann getroffen werden, wenn der ihr vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint.

 

Im vorliegenden Fall hat das Bundesasylamt, wie dargestellt, keine ordnungsgemäß begründete Entscheidung (vgl. Art. 19 Abs. 2 1. Satz Dublin II VO und Art. 20 Abs. 1 lit. e 2. Satz Dublin II VO) erlassen. Der Asylgerichtshof war auf Basis der Ergebnisse des Verfahrens des Bundesasylamtes praktisch nicht mehr in der Lage, innerhalb der zur Verfügung stehenden kurzen Entscheidungsfristen (§ 37 Abs. 3 AsylG) eine inhaltliche Entscheidung zu treffen. Der angefochtene Bescheid konnte daher unter dem Gesichtspunkt des § 41 Abs. 3 AsylG keinen Bestand mehr haben.

 

Es war somit spruchgemäß zu entscheiden. Eine öffentliche mündliche Verhandlung konnte gemäß § 41 Abs. 4 AsylG entfallen.

Schlagworte
Begründungspflicht, familiäre Situation, Kassation, mangelnde Sachverhaltsfeststellung
Zuletzt aktualisiert am
28.11.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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