TE AsylGH Erkenntnis 2008/10/10 S10 401793-1/2008

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Veröffentlicht am 10.10.2008
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Spruch

S10 401.793-1/2008/2E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Dr. ROSENAUER als Einzelrichter über die Beschwerde von Herrn M.R., geb. 00.00.1965, StA. Bosnien und Herzegowina, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 30.09.2008, Zahl: 08 06.659 - EAST West, zu Recht erkannt:

 

Die Beschwerde wird gemäß §§ 5, 10 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:

 

1. Verfahrensgang und Sachverhalt:

 

Der Verfahrensgang vor der erstinstanzlichen Behörde ergibt sich aus dem erstinstanzlichen Verwaltungsakt und stellt sich im Wesentlichen wie folgt dar:

 

1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF) ist seinen Angaben zufolge Staatsangehöriger von Bosnien und Herzegowina und gehört der serbischen Volksgruppe an. Er hat am 29.07.2008 beim Bundesasylamt einen Antrag auf internationalen Schutz eingebracht. Die niederschriftliche Befragung vor einem Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Bundespolizeidirektion Salzburg am 24.07.2008 erbrachte im Wesentlichen Folgendes:

 

Dem BF wurde vorgehalten, er sei am 24.07.2008 in die Polizeiinspektion Rathaus gekommen und habe dort angegeben, dass er Leibwächter des Radovan KARADZIC gewesen sei. Die fremdenpolizeiliche Untersuchung habe ergeben, dass gegen ihn wegen diverser strafrechtlicher Verurteilungen ein unbefristetes Aufenthaltsverbot bestehe. Daraufhin sei er festgenommen und in das Polizeianhaltezentrum Salzburg verbracht worden. Weiters sei hervorgekommen, dass er von 20.01.2008 bis 18.04.2008 eine Freiheitsstrafe wegen Verstoßes gegen § 114 Abs. 2 Fremdenpolizeigesetz (Schlepperei gegen Entgelt) abgebüßt habe und am 24.04.2008 seine Rücküberstellung nach Ungarn erfolgt sei.

 

Der BF bestätigte dies und gab an, ein Bekannter habe ihn nach Deutschland fahren sollen, dieser habe ihn jedoch dann nur bis Salzburg gebracht.

 

Der BF gab zu seiner Person an, er sei im Alter von 6 Monaten mit seinen Eltern nach Deutschland gekommen. Von 1985 bis 1991 habe er die Schule in Sarajevo besucht und habe dann am Krieg zuerst in der jugoslawischen, dann in der serbischen Armee als Offizier, Hauptmann und Major teilgenommen. Er sei bis 1995 Kommandant von circa 10.000 Soldaten gewesen. Wegen Kriegsverbrechen sei er ungefähr 1995 in Den Haag angeklagt und freigesprochen worden. Er sei während des Krieges und bis unmittelbar zu dessen Verhaftung Leibwächter von Radovan KARADZIC gewesen.

 

Als ihm vorgehalten wurde, er sei in Österreich während dieser Zeit wegen Schlepperei verurteilt worden, gab er an, er habe andere Leibwächter von Italien nach Österreich bringen wollen.

 

Auf den Vorhalt, er habe sich zum Zeitpunkt der Festnahme von Radovan KARADZIC in Ungarn befunden, gab der BF an, dass dies stimme. Er habe sich von 28.04.2005 bis zu seiner Ankunft in Österreich in Ungarn aufgehalten und habe dort auch einen Asylantrag gestellt. Die ungarischen Behörden hätten ihn an verschiedenen Orten versteckt, weil er von bosnischen Moslems mit dem Tod bedroht worden sei. Auf Frage, wie er diesfalls zu KARADZIC gelangen hätte können, gab der BF an, es sei ihm möglich gewesen, sich frei zu bewegen.

 

Weiters führte der BF aus, er habe immer zwei Pistolen bei sich gehabt, welche er bei der Bundespolizeidirektion Salzburg abgegeben habe.

 

Er wolle nach Deutschland oder in ein anderes Land, jedoch keinesfalls nach Bosnien oder Ungarn.

 

In der Einvernahme am 30.07.2008 vor einem Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes der SPK Salzburg, Polizeianhaltezentrum, gab der BF an:

 

Er sei Ende 1994 von G. mit einem Militärtransporter legal nach Kroatien (damals Jugoslawien) ausgereist. 1995 habe er sich zuerst in Serbien, dann im Kosovo und in Montenegro aufgehalten, bis er 2005 nach Ungarn gelangt sei. 1995 sei er erstmalig in Österreich gewesen. In Deutschland habe er ein Visum erhalten, das von 1971 bis 1986 gültig gewesen sei. 1998 sei über ihn in Österreich ein Aufenthaltsverbot verhängt worden. Er habe 2005 in Ungarn und 2007 in Slowenien Asylanträge gestellt. Er habe sich in Österreich 5 Jahre in Haft befunden und Österreich 2003 verlassen. Er sei damals nach Sarajevo abgeschoben worden. Über Ort, Zeit und die Umstände seiner Einreise in die EU machte er keine Angaben.

 

Zu seinen Fluchtgründen gab der BF ergänzend an, in Bosnien werde noch immer wegen angeblicher Kriegsverbrechen nach ihm gesucht.

 

In Ungarn habe er gegen ihn gerichtete Mordanschläge zu befürchten, während in Slowenien für ihn keine Probleme zu erwarten seien.

 

Am 04.09.2008 fand eine weitere niederschriftliche Einvernahme vor einem Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes des Bundesasylamtes Erstaufnahmestelle West statt. Der BF gab in Anwesenheit eines Dolmetschers für die serbokroatische Sprache und eines Rechtsberaters weiters an:

 

Er habe seinen Asylantrag in Slowenien zurückgezogen. Seine abgelaufene ungarische Aufenthaltsbewilligung könne wahrscheinlich verlängert werden.

 

Zu seiner Fluchtroute brachte der BF ergänzend vor, er sei am 28.04.2005 in Ungarn eingereist. Nach einem auf ihn erfolgten Schussattentat sei er nach Slowenien geflohen. Die ungarischen Behörden hätten ihm Polizeischutz versprochen und dies den slowenischen Behörden mitgeteilt. In Ungarn sei er sodann an verschiedenen Orten untergebracht worden. Nach einem weiteren Schussattentat sei er in einem Spital aufgenommen worden.

 

Zu den ihm durch eine Abschiebung nach Ungarn eventuell drohenden Gefahren gab der BF an, er sei dort drei Mal Ziel von Schussattentaten gewesen. Diese Vorfälle hätten in den Jahren 2005 und 2006 sowie am 00.00.2008 stattgefunden. Außerdem habe man an seinem Auto eine Bombe versteckt. Er habe bei den ungarischen Behörden deswegen auch Anzeige erstattet sowie seinen Anwalt K.G., von dem er jedoch keine genaue Adresse kenne, informiert. Der bosnische Geheimdienst habe durch eine Auskunft seitens der ungarischen Behörden von seinem Aufenthalt in Ungarn erfahren und wolle ihn nun töten, da der Geheimdienst den Freispruch des BF durch das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag nicht akzeptiere. Seitens Ungarn seien außer oftmaligen Verlegungen in verschiedene Unterkünfte keinerlei Maßnahmen zum Schutz des BF vor diesen Bedrohungen getroffen worden.

 

Der BF gab weiters an, er habe in Österreich keine verwandtschaftlichen Beziehungen. Er habe Kontakt zu seinen in Deutschland lebenden Geschwistern sowie zur Mutter seiner Tochter, welche in Ungarn lebe. Mit dieser habe er in Ungarn immer im gemeinsamen Haushalt gelebt. In Österreich habe er einen Bekannten namens L., dessen Telefonnummer er kenne und welcher ihm eine Arbeit als Detektiv in Aussicht gestellt habe. Weiters sei er gut bekannt mit Oberst P., welcher ihm ebenfalls Hilfe und Arbeitsmöglichkeiten zugesagt habe.

 

In einer weiteren niederschriftlichen Einvernahme am 23.09.2008 vor einem Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes des Bundesasylamtes Erstaufnahmestelle West, gab der BF in Anwesenheit eines Dolmetschers für die serbokroatische Sprache und eines Rechtsberaters weiters an:

 

Auf Vorhalt der von den ungarischen Behörden erteilten Auskünfte, wonach in Ungarn nichts über Attentate auf den BF aktenkundig sei, der BF nur wegen eigenmächtigen Verlassens der jeweiligen Unterkünfte verlegt worden sei sowie der BF in Ungarn mehrere Straftaten begangen habe und auch eine 2-jährige Haftstrafe verbüßt habe, gab der BF an, er wisse nicht, wie es zu solchen Aussagen der ungarischen Behörden kommen könne.

 

Auf Vorhalt, der BF habe sich am 00.07.2005 aus der Aufnahmestelle D. entfernt und sei am 00.08.2005 wegen einer Straftat festgenommen worden, gab der BF an, er habe die Aufnahmestelle verlassen, nachdem er kurz nach seiner Aufnahme angeschossen worden sei. Zu dem Schussattentat sei er von der Polizei im Spital genau einvernommen worden. Er habe in D. eine eigene Wohnung gehabt, in welcher er jedoch nicht polizeilich gemeldet gewesen sei.

 

Ein Arzt in Österreich habe festgestellt, dass die Schusswunde des BF nicht älter als zwei Jahre sein könne.

 

1.2. Ein AFIS-Abgleich ergab, dass der BF bereits in Ungarn und Slowenien erkennungsdienstlich behandelt worden war und am 05.04.2005 in Ungarn sowie am 14.06.2007 in Slowenien jeweils einen Asylantrag gestellt hatte. Da die erstinstanzliche Behörde ein Vorgehen nach § 29 Abs. 3 Z 4 AsylG 2005 (in der Folge AsylG) beabsichtigte, wurde dem BF mit Schriftstück vom 01.08.2008, vom BF übernommen am selben Tag, mitgeteilt, dass Konsultationen mit Ungarn gemäß der Verordnung Nr. 343/2003 (EG) des Rates (in der Folge Dublin II VO) geführt würden und somit die 20-Tages-Frist gemäß § 28 Abs. 2 AsylG für Verfahrenszulassungen nicht mehr gelte. Es wurde ihm eine Aktenabschrift ausgehändigt und eine Frist zur Stellungnahme eingeräumt, in der die Rechtsberatung erfolgte. Überdies wurden dem Rechtsberater die relevanten Aktenbestandteile zugänglich gemacht.

 

Dazu gab der BF an, in Ungarn habe er sich von 00.04.2005 bis 00.07.2008 aufgehalten, in Slowenien von 00.06.2007 bis 00.06.2007. Seine Aufenthaltsbewilligung für Ungarn sei am 00.07.2008 abgelaufen, über den Stand des Verfahrens in Slowenien wisse er nichts.

 

1.3. Am 01.08.2008 leitete die Erstbehörde ein Konsultationsverfahren mit Ungarn gemäß der Dublin II VO ein und ersuchte um Wiederaufnahme. Mit Erklärung vom 12.08.2008 (bei der Erstbehörde eingelangt am 13.08.2008) erklärte sich Ungarn ausdrücklich gemäß Art. 18 Abs. 7 and 20 Abs. 1 lit. c der Dublin II VO für zuständig.

 

1.4. Das Bundesasylamt hat mit dem verfahrensgegenständlichen angefochtenen Bescheid vom 30.09.2008, Zahl: 08 06.659 - EAST West, den Antrag auf internationalen Schutz, ohne in die Sache einzutreten, gemäß § 5 Abs. 1 AsylG als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass für die Prüfung des gegenständlichen Antrags auf internationalen Schutz gemäß Art. 20 Abs. 1 lit. c der Dublin II VO Ungarn zuständig sei. Gleichzeitig wurde der BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Ungarn ausgewiesen und gemäß § 10 Abs. 4 AsylG festgestellt, dass die Abschiebung nach Ungarn zulässig sei.

 

Die Erstbehörde traf in diesem Bescheid Feststellungen zur Person des BF, zur Begründung des Dublin-Tatbestandes, zum Privat- und Familienleben des BF und zur Lage im Mitgliedsstaat Ungarn.

 

Festgestellt wurde weiters, dass keine Umstände, die gegen eine Ausweisung und Überstellung des Beschwerdeführers nach Ungarn sprechen, ermittelt werden hätten können.

 

Beweiswürdigend wurde im Bescheid zu den behaupteten Bedrohungen und Attentaten auf den BF in Ungarn ausgeführt, dass das entsprechende Vorbringen des BF nicht plausibel und nicht nachvollziehbar sei. Die Erstbehörde ging daher davon aus, dass der BF in Ungarn keine Bedrohungen zu erwarten habe.

 

Nach Ansicht der Erstbehörde war unter Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen eine Verletzung von Art. 3 und Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (in der Folge EMRK) nicht festzustellen, sodass von der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO kein Gebrauch zu machen wäre.

 

1.6. Gegen diesen Bescheid hat der BF fristgerecht mit Schriftsatz vom 02.10.2008, eingebracht am 02.10.2008 bei der Erstbehörde, Beschwerde erhoben.

 

In der Begründung dazu machte der BF unvollständige Sachverhaltsermittlung geltend und beantragte die Beiziehung eines Arztes. Im Übrigen sei Österreich wegen der dem BF drohenden Verfolgungshandlungen in Ungarn zum Selbsteintritt verpflichtet.

 

1.7. Die gegenständliche Beschwerde samt erstinstanzlichem Verwaltungsakt langte am 06.10.2008 beim Asylgerichtshof ein.

 

2. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

Verfahrensgang und Sachverhalt ergeben sich aus dem vorliegenden Verwaltungsakt.

 

Rechtlich ergibt sich Folgendes:

 

2.1. Mit Datum 01.01.2006 ist das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl in Kraft getreten (AsylG idF BGBl. I Nr. 100/2005, zuletzt geändert mit BGBl. I Nr. 4/2008) und ist auf die ab diesem Zeitpunkt gestellten Anträge auf internationalen Schutz, sohin auch auf den vorliegenden, anzuwenden.

 

Gemäß § 5 Abs. 1 AsylG ist ein nicht gemäß § 4 AsylG erledigter Asylantrag als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder aufgrund der Dublin II VO zur Prüfung des Asylantrages zuständig ist. Mit dem Zurückweisungsbescheid hat die Asylbehörde auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG ist die Zurückweisung eines Antrages nach Maßgabe des § 10 Abs. 3 und Abs. 4 AsylG mit einer Ausweisung zu verbinden.

 

Die Dublin II VO ist eine Verordnung des Gemeinschaftsrechts im Anwendungsbereich der 1. Säule der Europäischen Union (vgl. Art. 63 EGV), die Regelungen über die Zuständigkeit zur Prüfung von Asylanträgen von Drittstaatsangehörigen trifft. Sie gilt also nicht für mögliche Asylanträge von EU-Bürgern, ebensowenig ist sie auf Personen anwendbar, denen bereits der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde. Das Grundprinzip ist, dass Drittstaatsangehörigen das Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Asylverfahren in einem Mitgliedstaat zukommt, jedoch nur in einem Mitgliedstaat, dessen Zuständigkeit sich primär nicht aufgrund des Wunsches des Asylwerbers, sondern aufgrund der in der Verordnung festgesetzten hierarchisch geordneten Zuständigkeitskriterien ergibt.

 

Artikel 16 Abs. 1 lit. c Dublin II VO normiert, dass der Mitgliedstaat, der zur Prüfung des Asylantrags zuständig ist, gehalten ist, einen Antragsteller, der sich während der Prüfung seines Antrags unerlaubt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, nach Maßgabe des Artikels 20 wieder aufzunehmen.

 

Gemäß Artikel 20 Abs. 1 lit. c Dublin II VO wird von der Zuständigkeit des ersuchten Mitgliedsstaates ausgegangen, wenn dieser nicht innerhalb der in Artikel 20 Abs. 1 lit. b Dublin II VO festgesetzten Frist von einem Monat bzw. zwei Wochen bei Vorliegen eines Eurodac-Treffers eine Antwort erteilt.

 

2.1.1. Es ist daher zunächst zu überprüfen, welcher Mitgliedstaat nach den hierarchisch aufgebauten (Art. 5 Abs. 1 Dublin II VO) Kriterien der Art. 6-12 bzw. 14 und 15 Dublin II VO, beziehungsweise dem Auffangtatbestand des Art. 13 Dublin II VO zur inhaltlichen Prüfung zuständig ist.

 

2.1.1.1. Das aufgrund des Vorliegens der Tatbestandsmerkmale des Art. 16 Abs. 1 lit. c der Dublin II VO eingeleitete Aufnahmeersuchen an Ungarn erfolgte innerhalb der Frist von drei Monaten nach Einreichung des Asylantrages durch den BF (Art. 17 Abs. 1 Dublin II VO).

 

Im vorliegenden Fall hat das Bundesasylamt zutreffend festgestellt, dass eine Zuständigkeit Ungarns gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c der Dublin II VO besteht. Ungarn hat nach Ablauf der zweiwöchigen Frist mit Schreiben vom 03.09.2008, eingelangt am 04.03.2008, ausdrücklich der Wiederaufnahme des BF zugestimmt. Die erste Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der getroffenen Unzuständigkeitsentscheidung ist somit gegeben.

 

2.1.2. § 18 Absatz 1 AsylG besagt, dass das Bundesasylamt und der Asylgerichtshof in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken haben, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Beweismittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Beweismittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen. Erforderlichenfalls sind Beweismittel auch von Amts wegen beizuschaffen.

 

Im vorliegenden Fall hat das Bundesasylamt alle notwendigen Beweise erhoben. Die Beiziehung eines Arztes zur Datierung der Schussverletzung ist nicht zielführend, da sich daraus kein Hinweis auf die näheren Umstände ergeben würde, welche zu der Verletzung geführt haben. Hinsichtlich der Vorfälle in Ungarn hat das Bundesasylamt umfangreiche Recherchen bei den ungarischen Behörden und Interpol durchgeführt. Aus den Aussagen des vom BF namhaft gemachten Anwalts in Ungarn waren keine sachdienlichen Hinweise zu erwarten, da dieser kein Augenzeuge der Schussattentate war. Im Übrigen konnte der BF nicht einmal eine Adresse angeben, wo der Anwalt zu erreichen gewesen wäre. Eine erweiterte Pflicht des Bundesasylamts, diesbezüglich amtswegige Ermittlungen anzustellen, besteht daher nicht.

 

2.1.3. Das Bundesasylamt hat ferner von der Möglichkeit der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO keinen Gebrauch gemacht. Es war daher noch zu prüfen, ob von diesem Selbsteintrittsrecht im gegenständlichen Verfahren ausnahmsweise zur Vermeidung einer Verletzung der EMRK zwingend Gebrauch zu machen gewesen wäre.

 

Der VfGH hat mit Erkenntnis vom 17.06.2005, Zahl B 336/05-11, festgehalten, die Mitgliedstaaten hätten kraft Gemeinschaftsrecht nicht nachzuprüfen, ob ein anderer Mitgliedstaat generell sicher sei, da eine entsprechende normative Vergewisserung durch die Verabschiedung der Dublin II VO erfolgt sei, dabei aber gleichzeitig ebenso ausgeführt, dass eine Nachprüfung der grundrechtlichen Auswirkungen einer Überstellung im Einzelfall gemeinschaftsrechtlich zulässig und bejahendenfalls das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO zwingend geboten sei.

 

Die Judikatur des VwGH zu den Determinanten dieser Nachprüfung lehnt sich an die Rechtsprechung des EGMR an und lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben werden soll, genügt nicht, um die Abschiebung des Fremden in diesen Staat als unzulässig erscheinen zu lassen. Wenn keine Gruppenverfolgung oder sonstige amtswegig zu berücksichtigende notorische Umstände grober Menschenrechtsverletzungen in Mitgliedstaaten der EU in Bezug auf Art. 3 EMRK vorliegen (VwGH 27.09.2005, Zl. 2005/01/0313), bedarf es zur Glaubhaftmachung der genannten Bedrohung oder Gefährdung konkreter auf den betreffenden Fremden bezogener Umstände, die gerade in seinem Fall eine solche Bedrohung oder Gefährdung im Fall seiner Abschiebung als wahrscheinlich erscheinen lassen (VwGH 26.11.1999, Zl 96/21/0499, VwGH 09.05.2003, Zl. 98/18/0317; vgl. auch VwGH 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059): "Davon abgesehen liegt es aber beim Asylwerber, besondere Gründe, die für die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes im zuständigen Mitgliedstaat sprechen, vorzubringen und glaubhaft zu machen. Dazu wird es erforderlich sein, dass der Asylwerber ein ausreichend konkretes Vorbringen erstattet, warum die Verbringung in den zuständigen Mitgliedstaat gerade für ihn die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes, insbesondere einer Verletzung von Art. 3 EMRK, nach sich ziehen könnte, und er die Asylbehörden davon überzeugt, dass der behauptete Sachverhalt (zumindest) wahrscheinlich ist." (VwGH 23.01.2007, Zl. 2006/01/0949).

 

Die Vorlage allgemeiner Berichte ersetzt dieses Erfordernis in der Regel nicht (vgl. VwGH 17.02.1998, Zl. 96/18/0379; EGMR Mamatkulov & Askarov v Türkei, Rs 46827, 46951/99, 71-77), eine geringe Anerkennungsquote, eine mögliche Festnahme im Falle einer Überstellung, ebenso eine allfällige Unterschreitung des verfahrensrechtlichen Standards des Art. 13 EMRK sind für sich genommen nicht ausreichend, die Wahrscheinlichkeit einer hier relevanten Menschenrechtsverletzung darzutun. Eine ausdrückliche Übernahmeerklärung des anderen Mitgliedstaates hat in die Abwägung einzufließen (VwGH 31.03.2005, Zl. 2002/20/0582, VwGH 31.05.2005, Zl. 2005/20/0025, VwGH 25.04.2006, Zl. 2006/19/0673), ebenso andere Zusicherungen der europäischen Partnerstaaten Österreichs (zur Bedeutung solcher Sachverhalte Filzwieser/Liebminger, Dublin II VO, K13. zu Art. 19 Dublin II VO).

 

Weiterhin hatte der Asylgerichtshof folgende Umstände zu berücksichtigen:

 

Bei entsprechender Häufung von Fällen, in denen in Folge Ausübung des Selbsteintrittsrechts die gemeinschaftsrechtliche Zuständigkeit nicht effektuiert werden kann, kann eine Gefährdung des "effet utile" Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts entstehen.

 

Zur effektiven Umsetzung des Gemeinschaftsrechts sind alle staatlichen Organe kraft Gemeinschaftsrechts verpflichtet.

 

Der Verordnungsgeber der Dublin II VO, offenbar im Glauben, dass sich alle Mitgliedstaaten untereinander als "sicher" ansehen können, wodurch auch eine Überstellung vom einen in den anderen Mitgliedstaat keine realen Risken von Menschenrechtsverletzungen bewirken könnte (vgl. insbesondere den 2. Erwägungsgrund der Präambel der Dublin II VO), hat keine eindeutigen verfahrens- oder materiellrechtlichen Vorgaben für solche Fälle getroffen, diesbezüglich lässt sich aber aus dem Gebot der menschenrechtskonformen Auslegung des Gemeinschaftsrechts und aus Beachtung der gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgrundrechte ableiten, dass bei ausnahmsweiser Verletzung der EMRK bei Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat eine Überstellung nicht stattfinden darf. Die Beachtung des Effizienzgebots (das etwa eine pauschale Anwendung des Selbsteintrittsrechts oder eine innerstaatliche Verfahrensgestaltung, die Verfahren nach der Dublin II VO umfangreicher gestaltet als materielle Verfahren, verbietet) und die Einhaltung der Gebote der EMRK stehen daher bei richtiger Anwendung nicht in Widerspruch (Filzwieser, migraLex, 1/2007, 18ff, Filzwieser/Liebminger, Dublin II VO, K8-K13. zu Art. 19).

 

Die allfällige Rechtswidrigkeit von Gemeinschaftsrecht kann nur von den zuständigen gemeinschaftsrechtlichen Organen, nicht aber von Organen der Mitgliedstaaten rechtsgültig festgestellt werden. Der EGMR hat jüngst festgestellt, dass der Rechtsschutz des Gemeinschaftsrechts regelmäßig den Anforderungen der EMRK entspricht (30.06.2005, Bosphorus Airlines v Irland, Rs 45036/98).

 

Es bedarf sohin europarechtlich eines im besonderen Maße substantiierten Vorbringens und des Vorliegens besonderer vom Antragsteller bescheinigter außergewöhnlicher Umstände, um die grundsätzliche europarechtlich gebotene Annahme der "Sicherheit" der Partnerstaaten der Europäischen Union als einer Gemeinschaft des Rechts im individuellen Fall erschüttern zu können. Diesem Grundsatz entspricht auch die durch das AsylG 2005 eingeführte gesetzliche Klarstellung des § 5 Abs. 3 AsylG, die Elemente einer Beweislastumkehr enthält. Es trifft zwar ohne Zweifel zu, dass Asylwerber in ihrer besonderen Situation häufig keine Möglichkeit haben, Beweismittel vorzulegen (wobei dem durch das Institut des Rechtsberaters begegnet werden kann), und dies mitzubeachten ist (VwGH, 23.01.2007, Zl. 2006/01/0949), dies kann aber nicht pauschal dazu führen, die vom Gesetzgeber - im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht - vorgenommene Wertung des § 5 Abs. 3 AsylG überhaupt für unbeachtlich zu erklären (dementsprechend in ihrer Undifferenziertheit verfehlt Feßl/Holzschuster, AsylG 2005, 225ff). Eine Rechtsprechung, die in Bezug auf Mitgliedstaaten der EU faktisch höhere Anforderungen entwickelte als jene des EGMR in Bezug auf Drittstaaten, wäre jedenfalls gemeinschaftsrechtswidrig.

 

2.1.3.1. Mögliche Verletzung des Art. 8 EMRK

 

Der BF hat in Österreich nach eigenen Angaben keinerlei verwandtschaftliche Beziehungen. Seine minderjährige Tochter und deren Mutter, mit welcher er nach eigenen Angaben im gemeinsamen Haushalt gelebt hat, leben in Ungarn. Es besteht auch sonst keine Nahebeziehung oder ein Abhängigkeitsverhältnis zu Personen in Österreich.

 

Zu prüfen ist daher, ob eine außergewöhnliche Integration des BF in Österreich einer Rückverbringung nach Ungarn entgegenstehen könnte (vgl. VfGH 26.02.2007, Zl. 1802, 1803/06-11). Der VwGH hat in seinem Erkenntnis 19.11.2003, 2002/21/0181 ausgesprochen, dass die für die Integration wesentliche soziale Komponente durch vom Fremden begangene Straftaten erheblich beeinträchtigt wird. Dies ist bei der gemäß § 62 Abs. 3 in Verbindung mit § 66 Abs.1 und 2 Fremdenpolizeigesetz vorgeschriebenen Interessensabwägung zu berücksichtigen.

 

Dass der BF die deutsche Sprache sehr gut beherrscht und seinen Angaben und Belegen zufolge verschiedene Personen dem BF Arbeitsmöglichkeiten in Österreich zugesagt haben, spricht zwar für die Möglichkeit einer außergewöhnlichen Integration in Österreich. Demgegenüber ist jedoch zu berücksichtigen, dass der BF sowohl in Österreich als auch in Ungarn zu mehreren Freiheitsstrafen u.a. wegen Verstoßes gegen das Suchtmittelgesetz rechtskräftig verurteilt wurde und gegen den BF aufgrund dessen rechtskräftiger Verurteilungen mit Bescheid der BPD Salzburg vom 10.06.1998 bereits ein unbefristetes Aufenthaltsverbot verhängt wurde.

 

Im vorliegenden Fall kann daher nicht gesagt werden, dass das Interesse des BF an seinem Verbleib in Österreich die öffentlichen Interessen überwiegt. Der BF ist daher bei einer Überstellung nach Ungarn in seinem durch Art. 8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nicht verletzt.

 

2.1.3.2. Mögliche Verletzung des Art. 3 EMRK

 

In seiner Beschwerde macht der BF geltend, dass er in Ungarn Gefahr laufe, von Angehörigen des bosnischen Geheimdienstes getötet zu werden. Das diesbezügliche Vorbringen des BF konnte durch die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, insbesondere die Ergebnisse der Anfrage der Staatendokumentation, nicht bestätigt werden. Der BF konnte daher nicht ausreichend substantiiert und glaubhaft darlegen, dass er in Ungarn in der Vergangenheit das Ziel von Mordanschlägen gewesen ist bzw. ihm derartige Gefahren in Ungarn drohen und die ungarischen Behörden nicht im Stande oder nicht willens seien, entsprechenden Schutz gegen Übergriffe des bosnischen Geheimdienstes zu gewähren, und ihm somit auf Grund seiner persönlichen Situation ausnahmsweise durch eine Rückverbringung nach Ungarn entgegen der Regelvermutung des § 5 Abs. 3 AsylG die - über eine bloße Möglichkeit hinausgehende - Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung drohen würde (sog. "real risk").

 

Darüber hinaus verfügt der Asylgerichthof aktuell über kein Amtswissen hinsichtlich solch offenkundiger, besonderer Gründe, die die Annahme rechtfertigen, der BF wäre in Ungarn einer realen Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung ausgesetzt. Im Gegenteil erfolgten die von der Erstbehörde getroffenen Feststellungen auf der Grundlage unbedenklicher und glaubwürdiger Quellen, sodass im Ergebnis eine Überstellung des BF nach Ungarn daher weder eine Verletzung des Art. 3 EMRK noch des Art. 8 EMRK darstellt und somit auch kein Anlass zur Ausübung des Selbsteintrittsrechtes Österreichs nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO besteht.

 

2.1.3.3. Zusammenfassend sieht der Asylgerichtshof im Einklang mit der diesbezüglichen Sichtweise der Erstbehörde und unter Berücksichtigung des Umstandes, dass Ungarn einer Wiederaufnahme des BF ausdrücklich zugestimmt hat, keinen Anlass, Österreich zwingend zur Anwendung des Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO infolge drohender Verletzung von Art. 3 oder Art. 8 EMRK zu verpflichten.

 

2.1.4. Spruchpunkt I der erstinstanzlichen Entscheidung war sohin bei Übernahme der Beweisergebnisse und rechtlichen Würdigung der Erstbehörde mit obiger näherer Begründung zu bestätigen.

 

2.2. Die Erwägungen der Erstbehörde zu Spruchpunkt II waren vollinhaltlich zu übernehmen. Auch im Beschwerdeverfahren sind keine Hinweise hervorgekommen, die eine Aussetzung der Überstellung nach Ungarn in Vollzug der Ausweisung aus Österreich erforderlich erschienen ließen. Diese erweist sich daher bezogen auf den Entscheidungszeitpunkt als zulässig.

 

2.3. Gemäß § 41 Abs. 4 AsylG konnte von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen werden. Eine gesonderte Erwägung bezüglich einer allfälligen Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung konnte angesichts des Spruchinhaltes entfallen.

 

Es war somit spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte
Aufenthaltsverbot, Ausweisung, Interessensabwägung, real risk, soziale Verhältnisse, strafrechtliche Verurteilung
Zuletzt aktualisiert am
26.01.2009
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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