TE Vwgh Erkenntnis 2004/9/30 2001/20/0135

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Veröffentlicht am 30.09.2004
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG);
40/01 Verwaltungsverfahren;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

AsylG 1997 §23;
AsylG 1997 §38;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
AVG §1;
B-VG Art129c Abs1;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Giendl und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher, Dr. Berger und Mag. Nedwed als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Trefil, über die Beschwerde des A in G, geboren 1978, vertreten durch Dr. Klaus Kocher, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Sackstraße 36, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 19. Jänner 2001, Zl. 219.209/0-V/13/00, betreffend §§ 7 und 8 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Nigeria, reiste am 28. Februar 2000 in das Bundesgebiet ein und beantragte am 29. Februar 2000 Asyl. Bei seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 5. Juli 2000 gab er als Fluchtgrund an, er sei im November 1999 in "Udi" vom Militär verhaftet worden. In "Udi" habe eine Demonstration stattgefunden, bei der "Personen getötet" worden seien. Dem Beschwerdeführer sei vorgeworfen worden, er sei "auch bei der Gruppe gewesen ... welche bei der Demonstration Polizeibeamte getötet" habe. In Wahrheit habe er an der Demonstration nicht teilgenommen und niemanden getötet. Er sei in eine Militärstation und in weiterer Folge in ein Gefängnis gebracht und geschlagen worden, wodurch die Narben an seinem Rücken, seiner linken Hand und seinem linken Oberschenkel entstanden seien. Schließlich habe ihn sein Onkel befreit.

Das Bundesasylamt wies den Asylantrag mit Bescheid vom 14. September 2000 gemäß § 7 AsylG ab und stellte gemäß § 8 AsylG die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Nigeria fest.

Auf Grund der Berufung des Beschwerdeführers gegen diesen Bescheid unternahm die belangte Behörde zunächst Versuche, die bei der Ersteinvernahme beschriebenen Narben am Körper des Beschwerdeführers medizinisch begutachten zu lassen. Der Beschwerdeführer erschien zu zwei für die Begutachtung angesetzten Terminen jeweils um Stunden verspätet, sodass die Begutachtung (wegen vorheriger Entlassung des Dolmetschers) jeweils nicht stattfinden konnte.

Am 17. Jänner 2001 legte die belangte Behörde einen Aktenvermerk an, der auszugsweise wie folgt lautete:

"Am 17.1.2001 teilt die Informations- und Dokumentationsstelle des UBAS (Frau K.) dem Gefertigten mit, dass die vom Antragsteller im gegenständlichen Akt relevierten Unruhen in Udi im Zeitraum vom 14.11.1999 bis Februar 2000 nicht verifiziert werden konnten; weder im Rahmen einer umfassenden Internetsuche noch in dem (gemeint: der) der erkennenden Behörde zugänglichen umfangreichen und detaillierten Länderdokumentation des UBAS konnte auch nur ein einziger Hinweis auf die vom Antragsteller behaupteten glamourosen Ereignisse im genannten Zeitraum gefunden werden."

In der Berufungsverhandlung am 17. Jänner 2000 gab der Beschwerdeführer an, er sei beruflich damit beschäftigt gewesen, Güter aus Lagos nach "Udi in Bayelsa State" zu bringen und dort zu verkaufen. Vom Verhandlungsleiter wurde ihm vorgehalten, es gebe zwei Orte namens "Udi", deren Lage mit seinen Angaben aber nicht vereinbar sei. Der Beschwerdeführer wiederholte, "Udi" sei im Bayelsa State. Zu den Vorfällen, die er dort erlebt habe, gab er ergänzend an, die "Jugend von Udi" habe einen "Aufstand angezettelt" gehabt. Es sei Polizei hingeschickt worden, um Ruhe zu schaffen. Die Polizisten seien aber alle von den Jugendlichen getötet worden. In der Folge sei Militär angerückt, das "Udi" mit Granaten beschossen habe. Durch diese Angriffe seien viele Häuser zerstört worden. Der Beschwerdeführer sei aus einer anderen Stadt gekommen, um nach dem Geschäft zu sehen, und vom Militär festgenommen worden. Im Falle einer Rückkehr befürchte er, von den Angehörigen der getöteten Polizisten umgebracht oder zum Zweck seiner Hinrichtung festgenommen zu werden, weil er aus dem Gefängnis geflohen sei.

Der Verhandlungsleiter hielt dem Beschwerdeführer zu den behaupteten Ereignissen u.a. Folgendes vor:

"VL: Trotz umfassender Recherchen beim Ubas konnte gänzlich kein Hinweis auf stattgefunden habende Unruhen oder gar einen solch massiven Militäreinsatz gefunden werden, hinzugefügt sei, dass über andere Unruhen in der Delta-Region meist umfassend und detailliert international berichtet wird bzw. einschlägige Quellen berichten. Es erscheint daher gänzlich unglaubwürdig, dass in dem von Ihnen genannten Zeitraum so glamorose Ereignisse in Udi stattgefunden haben. Mit Sicherheit hätte so etwas in den Medien und Berichten Niederschlag gefunden.

BW: Es haben Unruhen in Udi stattgefunden, ich bleibe bei meiner Aussage."

Mit Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides wies die belangte Behörde die Berufung des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG ab. Mit Spruchpunkt II stellte sie gemäß § 8 AsylG die Zulässigkeit seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Nigeria fest.

In der Begründung dieser Entscheidung führte die belangte Behörde - neben Hinweisen darauf, dass ein Ort namens "Udi" in der vom Beschwerdeführer beschriebenen Lage nicht auffindbar gewesen sei - u.a. Folgendes aus:

"Hinsichtlich der vom Antragsteller zentral relevierten Unruhen bzw. Ausschreitungen in Udi in dem von ihm relevierten Zeitraum wird ausgeführt, dass solche Ereignisse seitens der UBAS-Dokumentationsstelle weder in dem (gemeint: den) der erkennenden Behörde vorliegenden Erkenntnisquellen noch auch durch umfassende Internetabfragen bzw. Suchen verifiziert werden konnten.

Hiezu sei festgehalten, dass solche vom Antragsteller relevierten Ereignisse, nämlich massive gewaltsame Unruhen, Tötung einer Vielzahl von Polizeibeamten sowie nachfolgender massiver Militäreinsatz unter 'Bombardierung einer Ortschaft', mit Sicherheit Niederschlag zumindest in internationalen Massenmedien oder der nigerianischen Presse gefunden hätte. Einschlägige Ereignisse dieser Größenordnung können grundsätzlich regelmäßig seitens der Asylbehörden leicht verifiziert werden."

"Zur Abrundung" verwies die belangte Behörde noch auf Widersprüche in den Angaben des Beschwerdeführers.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

Das von der belangten Behörde mit den Verwaltungsakten vorgelegte Dokumentationsmaterial enthält u.a. einen Bericht des deutschen Außenamts vom 14. Juni 2000 über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Nigeria sowie eine "aktuelle Rechtsprechungsübersicht" des deutschen Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom Dezember 2000.

Im Außenamtsbericht findet sich u.a. folgender Textteil:

"Besonders schwer wiegende Folgen hatte der Armee-Einsatz im Bayelsa-State, wo die Armee auf der Suche nach bewaffneten Mördern von 12 Polizisten eine ganze Ortschaft zerstörte."

In der Rechtsprechungsübersicht wird aus einem Urteil des Verwaltungsgerichtes München vom 26. September 2000 u.a. Folgendes wiedergegeben:

"Soweit es bei den Einsätzen der Armee zu Ausschreitungen des Militärs kommt (z.B. Zerstörung einer Ortschaft im Bundesstaat Bayelsa bei der Suche nach bewaffneten Mördern von zwölf Polizisten), handelt es sich ... um schwere Menschenrechtsverletzungen ..."

Wäre die belangte Behörde diesen Hinweisen nachgegangen, so hätte sie feststellen können, dass die zerstörte Stadt im Bayelsa State "Odi" hieß und sich der Beschwerdeführer mit seinen Ausführungen zu "Udi im Baylesa State", wo es zu Ausschreitungen Jugendlicher, zur Ermordung von Polizisten und zur Zerstörung der Stadt beim nachfolgenden Militäreinsatz gekommen sei, eindeutig auf diesen Vorfall bezog, der auch in dem von ihm angegebenen Zeitraum - November 1999 - stattgefunden hatte. Es handelt sich um ein international bekanntes Großereignis genau der von der belangten Behörde in der Bescheidbegründung erwähnten Art. Darüber hinaus ist dem Verwaltungsgerichtshof aus der Beschäftigung mit der zur hg. Zl. 2001/20/0094 protokollierten Beschwerde (deren Behandlung mit Beschluss vom heutigen Tag gemäß § 33a VwGG abgelehnt wurde) bekannt, dass die Zerstörung von Odi (auch in diesem anderen Fall vom Asylwerber selbst als "Udi" bezeichnet) bei der belangten Behörde bereits am 19. Oktober 2000 Gegenstand einer Berufungsverhandlung war, in der umfangreiches Dokumentationsmaterial darüber erörtert wurde.

Der Verwaltungsgerichtshof hat schon wiederholt darauf hingewiesen, dass von der belangten Behörde eine Einbeziehung des realen Hintergrundes der von einem Asylwerber vorgetragenen Fluchtgeschichte in das Ermittlungsverfahren zu erwarten ist und die Behauptungen des Asylwerbers auch am Verhältnis zu der Berichtslage in Bezug auf das Ereignis, von dem er betroffen gewesen sein will, zu messen sind (vgl. in diesem Sinn jeweils zu bestimmten Ereignissen in Nigeria etwa die hg. Erkenntnisse vom 31. Jänner 2002, Zl. 99/20/0372, und vom 12. Dezember 2002, Zl. 2000/20/0134; zu möglichen Negativbefunden in Bezug auf Vorfälle einer bestimmten Art in Nigeria das Erkenntnis vom 15. Mai 2003, Zl. 2002/01/0560, mit dem Hinweis auf das hg. Erkenntnis vom 24. April 2003, Zl. 2000/20/0326; zu Plausibilitätserwägungen der belangten Behörde etwa die Erkenntnisse vom 26. November 2003, Zl. 2000/20/0269 und Zl. 2003/20/0389; vgl. auch die jeweils Ereignisse in Gambia bzw. im Iran betreffenden Erkenntnisse vom 21. September 2004, Zl. 2001/01/0348, und vom heutigen Tag, Zl. 2001/20/0140).

Hinzuzufügen ist, dass diese Aufgabe primär dem Bundesasylamt zukäme. Es kann nicht der "obersten Berufungsbehörde" (Art. 129c Abs. 1 B-VG) allein überlassen bleiben, über die Befragung des Asylwerbers hinaus auch geeignetes Berichtsmaterial in das Verfahren einzuführen. Das Unterbleiben derartiger Ermittlungsschritte beim Bundesasylamt hat zur Folge, dass sich das Verfahren einem eininstanzlichen Verfahren vor der Berufungsbehörde annähert und die belangte Behörde den vom Gesetzgeber mit ihrer Einrichtung bezweckten Qualitätsgewinn für das Asylverfahren nur unter erschwerten Bedingungen gewährleisten kann (vgl. in diesem Sinn bereits die hg. Erkenntnisse vom 21. November 2002, Zl. 2000/20/0020, Zl. 2000/20/0084 und Zl. 2002/20/0315, vom 12. Dezember 2002, Zl. 2000/20/0236, und vom 26. November 2003, Zl. 2000/20/0182).

Im vorliegenden Fall hat die belangte Behörde die Bedeutung der Einbeziehung der Berichtslage für eine sachgerechte Würdigung der Angaben des Asylwerbers zutreffend hervorgehoben, das gemeinte Ereignis (und damit auch den gemeinten Ort) auf Grund zu oberflächlicher Prüfung aber nicht erkannt. Sie hat ihre in einem zentralen Punkt auf die Berichtslage gestützte Beweiswürdigung dadurch mit Unschlüssigkeit belastet und es versäumt, die Behauptungen des Beschwerdeführers (nicht nur über die Lage des Ortes "Udi", sondern auch) über den Hergang der Ereignisse an deren tatsächlichem Verlauf zu messen.

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 30. September 2004

Schlagworte

Instanzenzug

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2004:2001200135.X00

Im RIS seit

29.10.2004
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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