TE Vwgh Erkenntnis 2003/11/26 2003/20/0389

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Veröffentlicht am 26.11.2003
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Index

40/01 Verwaltungsverfahren;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/01 Flüchtlinge;

Norm

AsylG 1997 §7;
AVG §58 Abs2;
AVG §60;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Steiner und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher, Dr. Grünstäudl und Dr. Berger als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Trefil, über die Beschwerde des S in W, geboren 1963, vertreten durch DDDr. Dieter G. Kindel, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Rosenbursenstraße 4, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 20. Mai 2003, Zl. 230.992/0- IX/27/02, betreffend §§ 7 und 8 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Georgien, reiste am 31. Oktober 2001 in das Bundesgebiet ein und beantragte am selben Tag Asyl. Bei seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 19. Februar 2002 und am 7. August 2002 gab er als Fluchtgrund an, er sei seit 1995 LKW-Unternehmer in Kutaisi gewesen. Im August 2000 habe er einen Transport nach Achmeta durchgeführt. Auf der Rückfahrt sei er von Polizisten angehalten worden, die zunächst den Transport einer nicht näher bezeichneten Ladung von ihm verlangt hätten. Der Beschwerdeführer habe dies abgelehnt, weil er befürchtet habe, die Polizisten versuchten ihm Drogen zu unterschieben. Stattdessen habe er auf Wunsch der Polizisten und bis Gurdzani auch mit deren Begleitschutz eine Gruppe von Tschetschenen nach Tiflis gebracht. In Tiflis sei er jedoch von der dortigen Polizei festgenommen, u.a. unter dem Vorwurf, ein "Zwiadist" (Anhänger des früheren Präsidenten Gamsachurdia) zu sein und deshalb Tschetschenen zu transportieren, einen Monat lang festgehalten und in der Haft gefoltert worden. Kurz nach seiner Freilassung und Rückkehr nach Kutaisi sei die dortige Polizei mit Geldforderungen an ihn herangetreten. Nach dem Verkauf des LKW seien er und seine Ehegattin im Mai 2001 von maskierten Polizisten überfallen und um den Verkaufserlös gebracht worden. Nach einer weiteren Geldforderung der Polizei habe der Beschwerdeführer das Land verlassen, zumal eine örtliche Menschenrechtsorganisation nicht in der Lage gewesen sei, ihm zu helfen. Der Beschwerdeführer, der früher Chauffeur eines Politikers gewesen sei, habe schon 1995 Probleme mit der Polizei gehabt. Damals habe er seinen Arbeitsplatz verloren und man habe versucht, von ihm den Aufenthaltsort seines Vorgesetzten zu erfahren. Bei der Verhaftung im August 2000 sei ihm das wieder vorgehalten worden.

In der Berufung gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 13. August 2002, mit dem sein Asylantrag gemäß § 7 AsylG abgewiesen und gemäß § 8 AsylG die Zulässigkeit seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Georgien festgestellt wurde, wiederholte der Beschwerdeführer zusammengefasst sein erstinstanzliches Vorbringen.

Die belangte Behörde führte am 20. Mai 2003 eine mündliche Berufungsverhandlung durch, in der sie den Beschwerdeführer nochmals einvernahm.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung gemäß §§ 7 und 8 AsylG ab. Sie gründete beide Spruchpunkte dieser Entscheidung - abgesehen davon, dass der Beschwerdeführer Georgier orthodoxer Konfession sei und aus Kutaisi stamme - in sachverhaltsmäßiger Hinsicht nur auf den Satz, es könne "nicht festgestellt werden, dass der Berufungswerber Georgien aus den von ihm angegebenen Gründen verlassen hat".

Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

1. Die erstinstanzliche Entscheidung über den Asylantrag des Beschwerdeführers stützte sich auf Feststellungen des Bundesasylamtes über die "Erreichung eines im allgemeinen adäquaten Menschenrechtsstandards" in Georgien, die "Reform des georgischen Gerichtswesens", Mitteilungen georgischer Ministerien betreffend die Ahndung von Polizisten begangener Vergehen und andere Anzeichen für "Fortschritte auf dem Gebiet der Menschenrechte in Georgien". Diese Feststellungen erläuterte das Bundesasylamt - ohne Zuordnung im Einzelnen - als Ergebnis einer "Gesamtschau" zusammenfassend aufgezählter Berichte aus dem Zeitraum August 1998 bis April 2002. Erwähnt wurde in dieser Aufzählung u.a. ein Hintergrundpapier des UNHCR vom Oktober 1999, in dem es allerdings heißt, es mangle an der praktischen Durchsetzung der neuen Gesetze und Verordnungen und in Bezug auf die weitverbreiteten, routinemäßigen Misshandlungen im Polizeigewahrsam herrsche nach wie vor ein Zustand der Straffreiheit. Durch welche gegenteiligen Ausführungen in anderen Teilen des herangezogenen Materials dies widerlegt oder überholt gewesen sei, lässt sich dem erstinstanzlichen Bescheid nicht entnehmen.

Schon in der Aufzählung von Entscheidungsgrundlagen unberücksichtigt blieb etwa ein Georgien betreffender Länderkurzbericht von amnesty international vom Mai 2001, wonach Vorwürfen gegen die Polizei "meist nicht nachdrücklich und unvoreingenommen" nachgegangen werde, oder eine Lageanalyse der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 5. März 2002, in der es heißt, es gebe Klagen über die "zunehmende Brutalität der Sicherheitskräfte" gegenüber lokalen Menschenrechtsgruppen, zu den meisten Menschenrechtsverletzungen komme es in den Polizeistationen, Polizisten versuchten durch Folterung ihrer Opfer u.a. Geld zu erpressen und das Geschäft der Verkehrspolizei mit der Erpressung von Verkehrsteilnehmern blühe, weil "die Polizei unter dem Schutz der Legitimation als offizielle Institution praktisch Straffreiheit" genieße. Unberücksichtigt blieben weiters die schon damals im Internet zugänglichen Berichte über die behauptete Beteiligung der Polizei an der Organisation von Entführungen, Rauschgift- und Waffenhandel und die international bekannt gewordenen Reaktionen georgischer Behörden auf die Veröffentlichungen mit versteckter Kamera aufgenommener Vorgänge dieser Art in einem lokalen Fernsehsender.

Auf der Grundlage der Feststellungen über "die Fortschritte auf dem Gebiet der Menschenrechte in Georgien" hielt das Bundesasylamt dem Beschwerdeführer entgegen, der von ihm "geschilderte Sachverhalt" stehe "im krassen Widerspruch zu den von der erkennenden Behörde getroffenen Feststellungen und zu den allgemeinen Erfahrungen und Erkenntnissen über Ihr Heimatland, Georgien, und konnte dieser von der erkennenden Behörde auch nicht plausibel nachempfunden werden".

2. Die belangte Behörde hat es nicht als notwendig erachtet, sich mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers auf dieser Ebene - nämlich in Gegenüberstellung mit der Berichtslage betreffend Verhaltensweisen der Polizei in seinem Herkunftsstaat - auseinander zu setzen. Sie hat ihrerseits keinerlei Berichtsmaterial herangezogen, keine Feststellungen über die Lage in Georgien getroffen und auch - wie die Beschwerde zutreffend hervorhebt - darauf verzichtet, die diesbezüglichen Feststellungen des Bundesasylamtes (oder andere Teile aus der Begründung des erstinstanzlichen Bescheides) zu übernehmen.

Der angefochtene Bescheid enthält auch keine ganzheitliche Würdigung des individuellen Vorbringens des Beschwerdeführers unter den Gesichtspunkten der Konsistenz der Angaben, der persönlichen Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers und der objektiven Wahrscheinlichkeit des Behaupteten, wobei Letzteres freilich ohne Auseinandersetzung mit der Berichtslage auch nicht ausreichend möglich gewesen wäre. Stattdessen wird die Entscheidung darauf gestützt, dass das Vorbringen in drei bestimmten Einzelpunkten nicht gleich geblieben und in zwei weiteren Punkten nicht plausibel sei.

Bei den gerügten "Widersprüchen" handelt es sich um Abweichungen zwischen den Angaben des Beschwerdeführers bei seinen erstinstanzlichen Einvernahmen am "2.11.2001" (richtig: 19. Februar 2002) und 7. August 2002 einerseits und in der Berufungsverhandlung am 20. Mai 2003 andererseits. Der erste Punkt betrifft die Höhe der behaupteten (restlichen) Geldforderung der Polizisten in Kutaisi, wobei die belangte Behörde das Vorbringen allerdings verkürzt wiedergibt und auch nicht darauf eingeht, dass in der Verhandlung ein falscher Vorhalt gemacht wurde (angebliche Behauptung einer Gesamtforderung von USD 5.500 vor dem Bundesasylamt; vgl. dagegen Seite 33 des erstinstanzlichen Aktes). Der zweite "Widerspruch" - bei dem behaupteten Überfall auf den Beschwerdeführer und dessen Ehegattin hätten die Polizisten das Geld auf nicht näher beschriebene Weise "gefunden" bzw. die Ehegattin des Beschwerdeführerin habe es ihnen "übergeben" - ist mangels Befragung zu dieser Abweichung, die in der Berufungsverhandlung offenbar noch nicht auffiel, für sich genommen nicht maßgeblich. Der dritte Punkt betrifft unterschiedliche Angaben zu der Zeit, die zwischen der Rückkehr des Beschwerdeführers nach Kutaisi und seiner ersten Festnahme durch die dortige Polizei vergangen sein soll. Hier gab der Beschwerdeführer bei Vorhalt in der Berufungsverhandlung unter Hinweis auf die behauptete Vielzahl der Besuche der Polizisten an, er könne nicht mehr sagen, ob der erste davon zwei Tage oder zwei Wochen nach seiner Rückkehr im September 2000 stattgefunden habe. Auf diese Rechtfertigung und den mittlerweile verstrichenen Zeitraum von fast drei Jahren geht die belangte Behörde nicht ein.

Die nur mehr "der Vollständigkeit halber" hinzugefügten Plausibilitätsargumente betreffen zunächst das behauptete Verhalten der Ehegattin des Beschwerdeführers, die bei dem behaupteten Überfall im Mai 2001 trotz vorgerückter Schwangerschaft einem der Täter eine Maske heruntergerissen haben soll, sodass dieser erkannt worden sei. Warum ausgerechnet dieses Detail des behaupteten Geschehens nicht "plausibel" sei, ist mangels Offenlegung einer Lebenserfahrung oder eines sonstigen Faktenwissens, auf der bzw. dem diese Einschätzung beruht, nicht nachvollziehbar. Das zweite Plausibilitätsargument betrifft die Frage der belangten Behörde, warum der Beschwerdeführer die von ihm nur unfreiwillig beförderten Personen nicht sogleich zum Aussteigen veranlasst habe, als er das Begleitfahrzeug der Polizei nicht mehr hinter sich gesehen habe. Warum die Antwort des Beschwerdeführers, er habe dies aus Mitleid mit den zu befördernden Personen unterlassen, nicht "plausibel" sei, wird von der belangten Behörde gleichfalls nicht näher erläutert.

Schließlich werden in der Begründung des angefochtenen Bescheides noch die in der Verhandlung ergänzten - aber insoweit nicht unmittelbar fluchtbegründenden - Angaben des Beschwerdeführers über Kontakte zu Anhängern des früheren Präsidenten Gamsachurdia als unglaubwürdige Steigerung gewürdigt, wobei aber nicht berücksichtigt wird, dass sich die diesbezüglich noch weniger detaillierten Angaben vor dem Bundesasylamt auf die Zeit vor 1995 bezogen, sodass ungeachtet der behaupteten Vorwürfe der Polizei in Tiflis im August 2000, der Beschwerdeführer sei "Zwiadist" und befördere deshalb tschetschenische Flüchtlinge, für das Bundesasylamt kein Anlass dazu bestand, den Beschwerdeführer diese Kontakte im Einzelnen darstellen zu lassen. Dass sich die behaupteten Vorwürfe auf seine frühere Tätigkeit als Chauffeur eines bestimmten, wenngleich in erster Instanz noch nicht namentlich genannten Politikers bezogen, gab der Beschwerdeführer schon vor dem Bundesasylamt an.

3. Insgesamt ergibt sich somit das Bild, dass die belangte Behörde ihre Beweiswürdigung auf isolierte Überlegungen gestützt hat, die zwar zumindest zum Teil nicht ungeeignet erscheinen, zur Lösung beizutragen, für sich allein und ohne Bedachtnahme auf den Gesamtkontext des Vorbringens, ohne Beurteilung der persönlichen Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers und ohne Auseinandersetzung mit der aktuellen Berichtslage betreffend Vorfälle der behaupteten Art in Georgien aber nicht ausreichen, um die Entscheidung nachvollziehbar zu begründen.

Da nicht auszuschließen ist, dass die Zugrundelegung der Angaben des Beschwerdeführers zu einem anderen Bescheid geführt hätte, war der angefochtene Bescheid im Hinblick auf die dargestellten Begründungsmängel gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003. Das Mehrbegehren findet in diesen Vorschriften mit Rücksicht auf die gewährte Verfahrenshilfe keine Deckung.

Wien, am 26. November 2003

Schlagworte

Begründungspflicht und Verfahren vor dem VwGH Begründungsmangel als wesentlicher Verfahrensmangel

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2003:2003200389.X00

Im RIS seit

31.12.2003
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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