RS OGH 2006/11/14 14Os84/06v, 13Os139/06z, 15Os46/07i, 12Os17/08d, 11Os23/06a, 11Os32/08b, 11Os65/08

JUSLINE Rechtssatz

Veröffentlicht am 14.11.2006
beobachten
merken

Norm

MRK Art6 Abs1 II6
MRK Art6 Abs3 lita IV1
MRK Art6 Abs3 litb IV2
StPO §262 A
StPO §281 Abs1 Z8 A

Rechtssatz

Nach der Rechtsprechung des EGMR liegt der Schutzzweck des Art 6 Abs 3 lit a und lit b MRK gerade darin, die Verteidigung des Angeklagten nicht zu behindern. Geleitet von dieser Zielsetzung können nunmehr auch Abweichungen in der rechtlichen Beurteilung des von der Anklage erfassten Sachverhalts als Nichtbeachtung des § 262 StPO aus Z 8 releviert werden. Stets dann, wenn - ungeachtet der Identität von Anklage- und Urteilsfaktum im prozessualen Sinn - der Angeklagte einer gegenüber dem inkriminierten Sachverhalt anderen Tat (auch bloß) im materiellen Sinn schuldig erkannt wird, liegt nach dieser grundrechtskonformen Auslegung der Z 8 des § 281 Abs 1 StPO der Nichtigkeitsgrund vor. Ist mit anderen Worten das Tatbild (die äußere Tatseite) der dem Schuldspruch zugrundeliegenden Tat (§ 260 Abs 1 Z 1 StPO) von jenem des Anklagetenors (§ 207 Abs 2 Z 2 StPO) derart verschieden, dass sich die jeweils angenommenen Tatbilder nicht überdecken, besteht ohne weiteres das Erfordernis einer dem § 262 StPO entsprechenden Belehrung, ohne welche dem Grundrechtsgebot des Art 6 Abs 3 lit a oder lit b MRK nicht entsprochen wird. Geht es aber um Abweichungen geringerer Relevanz, ist es Sache des Beschwerdeführers, im Rechtsmittel das Belehrungserfordernis (wenigstens einigermaßen) plausibel zu machen, um unnötige Rechtsgänge zu vermeiden. Diese ziehen nämlich in aller Regel eine Verschlechterung der zur Verfügung stehenden Beweismittel nach sich und können überdies ein Spannungsverhältnis mit dem gleichfalls beachtlichen Grundrechtsgebot auf Verfahrensbeendigung binnen angemessener Frist (Art 6 Abs 1 erster Satz MRK) bewirken.

Entscheidungstexte

  • 14 Os 84/06v
    Entscheidungstext OGH 14.11.2006 14 Os 84/06v
  • 13 Os 139/06z
    Entscheidungstext OGH 24.01.2007 13 Os 139/06z
    Auch; nur: Geht es um Abweichungen geringerer Relevanz, ist es Sache des Beschwerdeführers, im Rechtsmittel das Belehrungserfordernis (wenigstens einigermaßen) plausibel zu machen, um unnötige Rechtsgänge zu vermeiden. (T1)
    Beisatz: Hier: Annahme einer zusätzlichen unselbständigen Qualifikation. (T2)
  • 15 Os 46/07i
    Entscheidungstext OGH 08.08.2007 15 Os 46/07i
    Vgl; Beisatz: Indem das Erstgericht für die Unterstellung der gegenständlich inkriminierten Tathandlungen unter § 206 Abs 1 StGB erforderliche Feststellungen über die Durchführung von Oralverkehr, sohin einer dem Beischlaf gleichzusetzenden geschlechtlichen Handlung, nicht zu treffen vermochte, jedoch mehrfache Küsse auf den entblößten Penis des Kindes als erwiesen ansah und damit von - mit geringerer Strafe bedrohten - geschlechtlichen Handlungen iSd § 207 Abs 1 StGB ausging, erfolgte der Schuldspruch nicht wegen einer gegenüber der Anklage anderen Tat im materiellen Sinn. (T3)
  • 12 Os 17/08d
    Entscheidungstext OGH 13.03.2008 12 Os 17/08d
    Vgl auch
  • 11 Os 23/06a
    Entscheidungstext OGH 01.04.2008 11 Os 23/06a
  • 11 Os 32/08b
    Entscheidungstext OGH 01.04.2008 11 Os 32/08b
    Auch
  • 11 Os 65/08f
    Entscheidungstext OGH 27.05.2008 11 Os 65/08f
    Auch; Beisatz: Hier: Verurteilung wegen §§ 146, 147 Abs 3 StGB bei Anklage wegen § 153 Abs 1 Abs 2 zweiter Fall StGB. (T4) Beisatz: Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass im Anlassfall eine Voruntersuchung wegen §§ 146, 147 Abs 3 StGB geführt worden war, kann doch Bezugspunkt der Verteidigung in der Hauptverhandlung immer nur der von der Staatsanwaltschaft erhobene Anklagevorwurf (jedoch unter Berücksichtigung einer allfälligen abweichenden rechtlichen Beurteilung eines über die Zulässigkeit der Anklage erkennenden Gerichts) sein. (T5)
  • 14 Os 142/09b
    Entscheidungstext OGH 26.01.2010 14 Os 142/09b
    Auch
  • 14 Os 161/09x
    Entscheidungstext OGH 02.03.2010 14 Os 161/09x
    Auch; Bem: Hier: Verurteilung wegen § 83 Abs 1 und § 105 Abs 1 StGB bei Anklage wegen § 142 Abs 1 StGB. (T6)
  • 13 Os 36/09g
    Entscheidungstext OGH 14.01.2010 13 Os 36/09g
    Auch; Beisatz: Hier: Erneuerungsantrag. (T7)
  • 15 Os 124/10i
    Entscheidungstext OGH 13.10.2010 15 Os 124/10i
    Auch; Beisatz: Hier: Verurteilung wegen § 229 Abs 1 StGB bei Anklage wegen § 302 Abs 1 StGB. (T8)
  • 11 Os 56/10k
    Entscheidungstext OGH 16.11.2010 11 Os 56/10k
    Auch; nur: Nach der Rechtsprechung des EGMR liegt der Schutzzweck des Art 6 Abs 3 lit a und lit b MRK gerade darin, die Verteidigung des Angeklagten nicht zu behindern. Geleitet von dieser Zielsetzung können nunmehr auch Abweichungen in der rechtlichen Beurteilung des von der Anklage erfassten Sachverhalts als Nichtbeachtung des § 262 StPO aus Z 8 releviert werden. (T9)
    Bem: Hier: Änderung der Beteiligungsform. (T10)
  • 14 Os 144/10y
    Entscheidungstext OGH 28.12.2010 14 Os 144/10y
    Vgl
  • 12 Os 162/10f
    Entscheidungstext OGH 29.03.2011 12 Os 162/10f
    nur: Nach der Rechtsprechung des EGMR liegt der Schutzzweck des Art 6 Abs 3 lit a und lit b MRK gerade darin, die Verteidigung des Angeklagten nicht zu behindern. Geleitet von dieser Zielsetzung können nunmehr auch Abweichungen in der rechtlichen Beurteilung des von der Anklage erfassten Sachverhalts als Nichtbeachtung des § 262 StPO aus Z 8 releviert werden. Stets dann, wenn - ungeachtet der Identität von Anklage- und Urteilsfaktum im prozessualen Sinn - der Angeklagte einer gegenüber dem inkriminierten Sachverhalt anderen Tat (auch bloß) im materiellen Sinn schuldig erkannt wird, liegt nach dieser grundrechtskonformen Auslegung der Z 8 des § 281 Abs 1 StPO der Nichtigkeitsgrund vor. Ist mit anderen Worten das Tatbild (die äußere Tatseite) der dem Schuldspruch zugrundeliegenden Tat (§ 260 Abs 1 Z 1 StPO) von jenem des Anklagetenors (§ 207 Abs 2 Z 2 StPO) derart verschieden, dass sich die jeweils angenommenen Tatbilder nicht überdecken, besteht ohne weiteres das Erfordernis einer dem § 262 StPO entsprechenden Belehrung, ohne welche dem Grundrechtsgebot des Art 6 Abs 3 lit a oder lit b MRK nicht entsprochen wird. (T11)
  • 11 Os 74/11h
    Entscheidungstext OGH 30.06.2011 11 Os 74/11h
    Vgl auch; Beisatz: Hier: Keine Anklageüberschreitung bzw Beeinträchtigung von Verteidigungsrechten, wenn der Angeklagte zur Ein- und Ausfuhr von Kokain geständig war (und auch verurteilt wurde), sich die Anklage aber auf Heroin bezogen hat. (T12)
  • 11 Os 110/12d
    Entscheidungstext OGH 09.10.2012 11 Os 110/12d
    Auch; Beisatz: Hier: Abgrenzung zwischen § 142 Abs 1 und § 144 Abs 1 StGB. (T13)
  • 15 Os 81/13w
    Entscheidungstext OGH 21.08.2013 15 Os 81/13w
    Auch
  • 11 Os 128/14d
    Entscheidungstext OGH 25.11.2014 11 Os 128/14d
    Auch
  • 15 Os 52/14g
    Entscheidungstext OGH 14.01.2015 15 Os 52/14g
    Auch; Beisatz: Die in § 281 Abs 1 Z 8 StPO bezeichnete Anhörungspflicht des § 262 StPO bezieht sich auf einen gegenüber dem Anklagevorwurf geänderten rechtlichen Gesichtspunkt des Gerichts darüber, welche strafbare Handlung vorliegt, während den Angeklagten überraschende Feststellungen zu entscheidenden Tatsachen eine Warnpflicht des Gerichts begründen, deren Nichteinhaltung mit Tatsachenrüge nach Z 5a geltend gemacht werden kann. (T14)
  • 12 Os 43/15p
    Entscheidungstext OGH 09.07.2015 12 Os 43/15p
    Auch
  • 14 Os 120/15a
    Entscheidungstext OGH 15.12.2015 14 Os 120/15a
    Auch
  • 11 Os 63/15x
    Entscheidungstext OGH 12.01.2016 11 Os 63/15x
    Auch
  • 14 Os 77/15b
    Entscheidungstext OGH 26.01.2016 14 Os 77/15b
    Auch; Beis wie T5
  • 20 Os 10/16w
    Entscheidungstext OGH 27.01.2017 20 Os 10/16w
    Vgl auch; Beisatz: Der Nichtigkeitsgrund des § 281 Abs 1 Z 8 StPO setzt im gerichtlichen Strafverfahren zumindest voraus, dass sich die Tatbilder (die äußere Tatseite) der dem Schuldspruch zugrunde liegenden Tat und jener des Anklagetenors wesentlich unterscheiden. Diese Bedingung kann als Abgrenzungsmerkmal bei der Prüfung der Frage, ob in grundrechtswidriger Weise Verteidigungsrechte verletzt wurden, nicht unmittelbar auf das Disziplinarverfahren übertragen werden. Das Disziplinarrecht kennt nämlich nur zwei Tatbestände, wobei vor allem die Verletzung des Rechtsgutes von Ehre und Ansehen des Standes kaum eine relevante Eingrenzung der Tat bewirkt. (T15)
  • 14 Os 2/19d
    Entscheidungstext OGH 21.05.2019 14 Os 2/19d
    Auch; Beisatz: Hier: Abweichungen im Hinblick auf das vom Schädigungsvorsatz erfasste Rechtsgut zwischen Anklage? und Urteilstenor. (T16)
  • 12 Os 116/19d
    Entscheidungstext OGH 15.10.2019 12 Os 116/19d
    Vgl
  • 13 Os 34/20d
    Entscheidungstext OGH 07.05.2020 13 Os 34/20d
    Vgl; Beis wie T14
  • 14 Os 110/20p
    Entscheidungstext OGH 18.02.2021 14 Os 110/20p
    Vgl; Beisatz: Hier: Verurteilung als Beitrags? statt als Bestimmungstäter. (T17)
    Beisatz: Die Plausibilität einer anderen Verteidigungsstrategie liegt bei bloß geänderter Beteiligungsform nur dann auf der Hand, wenn sich die Urteilsfeststellungen über die Tathandlungen und der Anklagevorwurf im Tatsächlichen nicht überdecken (so schon 14 Os 151/10b, 11 Os 56/10k). Bei Abweichungen bloß geringerer Relevanz bedarf es auch in einem solchen Fall eines entsprechenden Vorbringens. (T18)
  • 12 Os 147/21s
    Entscheidungstext OGH 24.02.2022 12 Os 147/21s
    Vgl; nur T9; nur T11

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2006:RS0121419

Im RIS seit

14.12.2006

Zuletzt aktualisiert am

11.04.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten