TE Vfgh Erkenntnis 1991/2/27 G135/90, G136/90, G137/90, G138/90, G139/90, G140/90, G141/90, G207/90,

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.02.1991
beobachten
merken

Index

27 Rechtspflege
27/01 Rechtsanwälte

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
MRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
RAO §16 Abs2 idF BGBl Nr 570/1973
RAO §16 Abs3
RAO §46

Leitsatz

Feststellung der Gleichheitswidrigkeit des §16 Abs2 RAO wegen unterschiedlicher Belastung von Rechtsanwälten als Verfahrenshelfer; keine vernachlässigbaren Härtefälle; keine Gleichheitskonformität durch die Bestellung mehrerer Rechtsanwälte als Verfahrenshelfer; allfälliger Widerspruch zu fair trial und Standespflichten bei arbeitsteiliger Ausübung der Pflichtverteidigung durch mehrere Verfahrenshelfer; keine Bedenken gegen eine Pauschalvergütung im Rahmen der Verfahrenshilfe

Spruch

§16 Abs2 der Rechtsanwaltsordnung vom 6. Juli 1868, RGBl. Nr. 96 idF BGBl. Nr. 570/1973, war verfassungswidrig.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruches im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1. Beim Verfassungsgerichtshof sind zu B1286/89, B1569/89, B50/90, B94/90, B288/90, B349/90, B602/90, B692/90 und B978/90 Beschwerden von Rechtsanwälten anhängig, die sich jeweils gegen den Bescheid des Ausschusses der für sie zuständigen Rechtsanwaltskammer richten, mit dem der von ihnen erhobenen Vorstellung gegen ihre Bestellung zum Verfahrenshelfer nach §45 Abs1 RAO durch die hiefür zuständige Abteilung des Ausschusses keine Folge gegeben wurde.

1.2. Bei der Beratung über diese Beschwerden sind im Verfassungsgerichtshof jeweils Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit des §16 Abs2 der Rechtsanwaltsordnung vom 6. Juli 1868, RGBl. Nr. 96 idF BGBl. Nr. 570/1973 (im folgenden: RAO), entstanden, sodaß in allen genannten Verfahren die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der zitierten Gesetzesstelle von Amts wegen beschlossen wurde. Die Verfahren sind zu G135-141/90, G207/90 und G208/90 protokolliert.

2. §16 RAO - die in Prüfung gezogene Regelung ist hervorgehoben - hat folgenden Wortlaut:

"§16

(1) Der Rechtsanwalt ist jederzeit berechtigt, sich eine bestimmte Belohnung zu bedingen; er ist jedoch nicht berechtigt, eine ihm anvertraute Streitsache ganz oder teilweise an sich zu lösen.

(2) Der nach §45 bestellte Rechtsanwalt hat die Vertretung oder Verteidigung der Partei nach Maßgabe des Bestellungsbescheides zu übernehmen und mit der gleichen Sorgfalt wie ein frei gewählter Rechtsanwalt zu besorgen. Er hat an die von ihm vertretene oder verteidigte Partei, vorbehaltlich weitergehender verfahrensrechtlicher Vorschriften, nur so weit einen Entlohnungsanspruch, als ihr der unterlegene Gegner Kosten ersetzt.

(3) Für die Leistungen, für die die nach §45 bestellten Rechtsanwälte zufolge verfahrensrechtlilcher Vorschriften sonst keinen Entlohnungsanspruch hätten, haben die in der Liste einer österreichischen Rechtsanwaltskammer eingetragenen Rechtsanwälte an diese Rechtsanwaltskammer einen Anspruch darauf, daß sie jedem von ihnen aus dem ihr zugewiesenen Betrag der Pauschalvergütung einen gleichen Anteil auf seinen Beitrag zur Alters-, Berufsunfähigkeits- und Hinterbliebenenversorgung anrechnet."

Der in §16 Abs2 RAO zitierte §45 sowie der unter derselben Überschrift "Bestellung von Rechtsanwälten, besonders zur Verfahrenshilfe" stehende §46 leg.cit. haben - auszugsweise wiedergegeben - folgenden Wortlaut:

"§45

(1) Hat das Gericht die Beigebung eines Rechtsanwalts beschlossen und schließt die Bewilligung der Verfahrenshilfe eine solche Beigebung ein, so hat die Partei Anspruch auf die Bestellung eines Rechtsanwalts durch die Rechtsanwaltskammer.

(2) ...

(3) ...

(4) Kann der bestellte Rechtsanwalt die Vertretung oder Verteidigung aus einem der im §10 Abs1 erster Satz zweiter Halbsatz oder zweiter Satz angeführten Gründe oder wegen Befangenheit nicht übernehmen oder weiterführen, so ist er auf seinen Antrag, auf Antrag der Partei oder von Amts wegen zu entheben und ein anderer Rechtsanwalt zu bestellen. Im Fall des Todes des bestellten Rechtsanwalts oder des Verlustes seiner Berechtigung zur Ausübung der Rechtsanwaltschaft ist von Amts wegen ein anderer Rechtsanwalt zu bestellen.

(5) ...

§46

(1) Die Ausschüsse der Rechtsanwaltskammern haben bei der Bestellung nach festen Regeln vorzugehen; diese haben eine möglichst gleichmäßige Heranziehung und Belastung der der betreffenden Kammer angehörenden Rechtsanwälte unter besonderer Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse zu gewährleisten. Diese Regeln sind in den Geschäftsordnungen der Ausschüsse festzulegen.

(2) Die Geschäftsordnungen können jedoch allgemeine Gesichtspunkte festlegen, nach denen Rechtsanwälte aus wichtigen Gründen von der Heranziehung ganz oder teilweise befreit sind. Als wichtige Gründe sind besonders die Ausübung einer mit erheblichem Zeitaufwand verbundenen Tätigkeit im Dienst der Rechtsanwaltschaft oder persönliche Umstände anzusehen, die die Heranziehung als besondere Härte erscheinen ließen."

Der in §45 Abs4 RAO bezogene §10 Abs1 hat folgenen Wortlaut:

"§10

(1) Der Rechtsanwalt ist nicht verpflichtet, die Vertretung einer Partei zu übernehmen, und kann dieselbe ohne Angabe der Gründe ablehnen; allein er ist verpflichtet, die Vertretung oder auch nur die Erteilung eines Rates abzulehnen, wenn er die Gegenpartei in derselben oder in einer damit zusammenhängenden Sache vertreten hat oder in solchen Angelegenheiten früher als Richter oder als Staatsanwalt tätig war. Ebenso darf er nicht beiden Teilen in dem nämlichen Rechtsstreit dienen oder Rat erteilen."

3. Der Verfassungsgerichtshof legte zu den Verfahrensvoraussetzungen und den Bedenken in den Einleitungsbeschlüssen Folgendes dar:

"... Der Verfassungsgerichtshof geht davon aus, daß die in Prüfung gezogene Regelung des §16 Abs2 RAO von der belangten Behörde bei Erlassung des angefochtenen Bescheides angewendet wurde. Sie scheint nämlich zunächst die materielle Rechtsgrundlage dafür zu sein, daß der Beschwerdeführer verpflichtet ist, die Vertretung (Verteidigung) der im Bestellungsbescheid genannten Partei zu übernehmen; gleichzeitig scheint sie aber auch - da sich keine Bestimmung in der RAO findet, die einen Rechtsanwalt berechtigen würde, die Übernahme der Vertretung einer Partei, der er aufgrund des Bestellungsbescheides beigegeben wurde, wegen übermäßiger Belastung abzulehnen, oder ihn berechtigen würde, bei Eintritt eines solchen Falles die Vertretung abzugeben - die materielle Rechtsgrundlage des angefochtenen Bescheides für die Abweisung der Vorstellung des Beschwerdeführers gegen den Bestellungsbescheid zu sein.

... §16 Abs2 RAO, der einen zum Verfahrenshelfer bestellten Rechtsanwalt zur Übernahme der Vertretung verpflichten dürfte, scheint (auch) dafür maßgeblich zu sein, daß diesem gegenüber der von ihm vertretenen (verteidigten) Partei ein Honorierungsanspruch nicht zusteht; gemäß §47 RAO wird das vom Bund für die erbrachten Verfahrenshilfeleistungen entrichtete Entgelt in Form einer Pauschalvergütung an den Österreichischen Rechtsanwaltskammertag geleistet und von diesem an die einzelnen Rechtsanwaltskammern - verhältnismäßig nach der Anzahl ihrer am vorangegangenen 31. Dezember in die Liste der Rechtsanwälte eingetragenen Mitglieder - verteilt, die ihrerseits verpflichtet sind, den so erhaltenen Betrag für Versorgungsansprüche ihrer Kammermitglieder zu verwenden (§48 RAO).

Der Verfassungsgerichtshof hat - jedenfalls aus der Sicht des vorliegenden Beschwerdefalles - gegen ein (derartiges) Pauschalvergütungssystem keine grundsätzlichen Bedenken (so schon VfSlg. 6945/1972, S. 1312); kommt doch den Rechtsanwälten damit mittelbar für die von ihnen erbrachten Leistungen als Verfahrenshelfer eine Honorierung in Form von Eigenersparnis zu. Würde die Finanzierung der Versorgungsleistungen nicht zum Teil aus der Pauschalvergütung erfolgen, so hätte nämlich jeder einzelne Rechtsanwalt einen entsprechend höheren Beitrag für künftige Versorgungsansprüche laufend zu entrichten.

Auch §46 Abs1 RAO scheint, soweit damit den Ausschüssen der Rechtsanwaltskammern aufgetragen wird, bei der Bestellung von Anwälten zu Verfahrenshelfern nach festen Regeln vorzugehen, um dabei eine möglichst gleichmäßige Heranziehung und Belastung unter besonderer Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse zu gewährleisten, an sich ebenfalls nicht bedenklich.

Gleichheitsbedenken treten jedoch unter dem Aspekt auf, daß Verfahrenshelfer auch für Verfahren zu bestellen sind, die eine weit überdurchschnittliche Belastung der bestellten Rechtsanwälte bewirken, sodaß ungeachtet der Anordnungen des §46 Abs1 RAO unzumutbare Belastungen eintreten können. Dabei scheint es sich nicht um vernachlässigbare Härtefälle zu handeln, sondern um Auswirkungen, die dem System an sich innewohnen. Auch wenn im Falle der Bestellung eines Rechtsanwaltes für ein monatelanges Verfahren eine neuerliche Heranziehung zur Verfahrenshilfe allenfalls erst nach Jahren zulässig wäre, kann eine solche Vertretungsverpflichtung zu Belastungen führen, die sich für Anwälte existenzgefährdend auswirken können.

Andererseits dürfte Art6 MRK einem Vorgehen der Ausschüsse der Rechtsanwaltskammern entgegenstehen, das darin münden würde, bei Verfahren von langer Dauer - zur Entlastung des bestellten Verfahrenshelfers - nach einer bestimmten Anzahl von Verhandlungstagen eine Umbestellung vorzunehmen oder gleichzeitig eine größere Anzahl an Verfahrenshelfern für zeitlich abgegrenzte Abschnitte eines Verfahrens zu bestellen; dies deshalb, weil bei einer derartigen Vorgangsweise der für eine angemessene Verteidigung gebotene Überblick des einzelnen Rechtsanwaltes nicht mehr gewährleistet und die durch Art6 MRK geforderte wirksame Verteidigung (siehe auch EuGMR Urteil vom 13.5.1980 im Fall Artico und VfSlg. 9535/1982) in Frage gestellt sein dürfte.

Dies scheint dazu zu führen, daß in einzelnen, aber doch wiederkehrenden Fällen eine weit überdurchschnittliche und aus der Sicht einer freiberuflichen Tätigkeit von Rechtsanwälten unzumutbare Belastung entsteht. Der Verfassungsgerichtshof hegt daher das Bedenken, daß die in Prüfung gezogene Bestimmung, die für das aufgezeigte Ergebnis maßgeblich sein dürfte, mit dem Gleichheitsgebot nicht vereinbar ist."

4. Die Bundesregierung hat in den Gesetzesprüfungsverfahren den Antrag gestellt, der Verfassungsgerichtshof wolle §16 Abs2 RAO idF BGBl. Nr. 570/1973 nicht als verfassungswidrig aufheben.

In ihrer Äußerung verweist die Bundesregierung zunächst darauf, daß es sich bei der Verpflichtung der Rechtsanwälte zur Vertretung im Rahmen der Verfahrenshilfe um eine grundsätzlich alle Rechtsanwälte in gleicher Weise treffende Standespflicht handle, die auf der Besonderheit des Rechtsanwaltsberufes (Vertretungsmonopol) und auf den besonderen Bedingungen der Entlohnung für das Tätigwerden im Rahmen der Verfahrenshilfe (sicheres Einkommen, dessen Einbringung keine weiteren Schritte erfordere) beruhe, wobei das System der Pauschalvergütung, das die Altersversorgung der Rechtsanwälte sicherstelle, dem entschiedenen Wunsch der Vertreter der Rechtsanwaltschaft Rechnung trage. Sodann führt die Bundesregierung zu den verfassungsrechtlichen Bedenken im wesentlichen aus:

    "... Zur Gleichmäßigkeit der Heranziehung der Rechtsanwälte zu

der im §16 Abs2 RAO begründeten Verpflichtung zur Vertretung im

Rahmen der Verfahrenshilfe ist auf §46 Abs1 RAO zu verweisen,

wonach 'die Ausschüsse der Rechtsanwaltskammer ... bei der

Bestellung nach festen Regeln vorzugehen' haben; 'diese haben eine möglichst gleichmäßige Heranziehung und Belastung der der betreffenden Kammer angehörenden Rechtsanwälte unter besonderer Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse zu gewährleisten. Diese Regeln sind in den Geschäftsordnungen der Ausschüsse festzulegen'.

§46 Abs2 RAO sieht eine Befreiungsmöglichkeit von dieser Heranziehung insofern vor, als 'die Geschäftsordnungen ... jedoch allgemeine Gesichtspunkte festlegen' können, nach 'denen Rechtsanwälte aus wichtigen Gründen von der Heranziehung ganz oder teilweise befreit sind. Als wichtige Gründe sind besonders die Ausübung einer mit erheblichem Zeitaufwand verbundenen Tätigkeit im Dienst der Rechtsanwaltschaft oder persönliche Umstände anzusehen, die die Heranziehung als besondere Härte erscheinen ließen'.

Hiezu ist weiters zu bemerken, daß nach den in den vorliegenden Gesetzesprüfungsverfahren in Betracht kommenden Bestimmungen der Geschäftsordnungen der Rechtsanwaltskammer für Wien und der Rechtsanwaltskammer für Oberösterreich (§45 Abs3 bzw. §30 Abs3) für den Fall besonders umfangreicher Vertretungen Vorsorge getroffen ist, indem im wesentlichen übereinstimmend festgelegt wurde, daß besonders umfangreiche Vertretungen, insbesondere Hauptverhandlungen von mindestens dreitägiger Dauer in Strafsachen, mehrfach anzurechnen sind und daß in solchen Fällen auch mehrere Rechtsanwälte zur gemeinsamen Vertretung bestellt werden können.

...

In Einzelfällen - nicht zuletzt auch abhängig von der Größe der Rechtsanwaltskanzlei eines zur Tätigkeit im Rahmen der Verfahrenshilfe verpflichteten Rechtsanwaltes - wird diese Belastung auch aus der Sicht der Bundesregierung ein 'überdurchschnittliches Ausmaß' im Sinne der ...

Einleitungsbeschlüsse des Verfassungsgerichtshofes annehmen können.

Diese Fälle werden aber ... relativ selten sein. In diesem Fall wird ein Belastungsausgleich nur durch die Bestellung mehrerer Verfahrenshelfer zu erreichen sein.

Die Bundesregierung nimmt in diesem Zusammenhang an, daß eine 'wirksame Vertretung' im Sinne des Art6 Abs3 litc MRK für zeitlich abgegrenzte Abschnitte eines Verfahrens durch mehrere Rechtsanwälte im Rahmen der Verfahrenshilfe möglich ist. Die Bestellung zur gemeinsamen Vertretung - wie dies die in Rede stehenden Geschäftsordnungen der erwähnten Rechtsanwaltskammern vorsehen - läßt nach Auffassung der Bundesregierung die Organisation einer arbeitsteiligen Vorgangsweise durch die Verfahrenshilfe leistenden Rechtsanwälte zu, die sowohl den Überblick aller gemeinsam bestellten Rechtsanwälte über den Fortgang des Verfahrens wie auch die Konzentration eines einzelnen Rechtsanwalts auf einen ganz bestimmten Arbeitsbereich im Rahmen der Vertretung ermöglicht."

Abschließend verweist die Bundesregierung darauf, daß mit Bundesgesetz vom 28. Juni 1990, BGBl. Nr. 474/1990, §16 RAO novelliert wurde; neben Ergänzungen der Abs2 und 3 sei dem §16 RAO ein neuer Abs4 angefügt worden, demzufolge in Verfahren, in denen der zur Verfahrenshilfe bestellte Rechtsanwalt mehr als zehn Verhandlungstage oder insgesamt mehr als 50 Verhandlungsstunden tätig wird, er außer seinem Anspruch auf Anrechnung seiner Tätigkeit auf seinen Beitrag zur Alters-, Berufsunfähigkeits- und Hinterbliebenenversorgung auch einen Anspruch an seine Rechtsanwaltskammer auf eine angemessene Vergütung hat.

5. §16 RAO idF des Bundesgesetzes vom 28. Juni 1990, BGBl. Nr. 474/1990, hat folgenden Wortlaut (die Änderungen gegenüber §16 RAO idF BGBl. Nr. 570/1973 sind hervorgehoben):

"§16

(1) Der Rechtsanwalt ist jederzeit berechtigt, sich eine bestimmte Belohnung zu bedingen; er ist jedoch nicht berechtigt, eine ihm anvertraute Streitsache ganz oder teilweise an sich zu lösen.

(2) Der nach den §§45 oder 45a bestellte Rechtsanwalt hat die Vertretung oder Verteidigung der Partei nach Maßgabe des Bestellungsbescheides zu übernehmen und mit der gleichen Sorgfalt wie ein frei gewählter Rechtsanwalt zu besorgen. Er hat an die von ihm vertretene oder verteidigte Partei, vorbehaltlich weitergehender verfahrensrechtlicher Vorschriften, nur so weit einen Entlohnungsanspruch, als ihr der unterlegene Gegner Kosten ersetzt.

(3) Für die Leistungen, für die die nach den §§45 oder 45a bestellten Rechtsanwälte zufolge verfahrensrechtlicher Vorschriften sonst keinen Entlohnungsanspruch hätten, haben die in der Liste einer österreichischen Rechtsanwaltskammer eingetragenen Rechtsanwälte an diese Rechtsanwaltskammer einen Anspruch darauf, daß sie jedem von ihnen aus dem ihr zugewiesenen Betrag der Pauschalvergütung einen gleichen Anteil auf seinen Beitrag zur Alters-, Berufsunfähigkeits- und Hinterbliebenenversorgung anrechnet, soweit nicht ein Anspruch auf Vergütung nach Abs4 besteht.

(4) In Verfahren, in denen der nach den §§45 oder 45a bestellte Rechtsanwalt mehr als zehn Verhandlungstage oder insgesamt mehr als 50 Verhandlungsstunden tätig wird, hat er unter den Voraussetzungen des Abs3 für alle darüber hinausgehenden Leistungen an die Rechtsanwaltskammer Anspruch auf eine angemessene Vergütung. Auf diese Vergütung ist dem Rechtsanwalt auf sein Verlangen von der Rechtsanwaltskammer ein angemessener Vorschuß zu gewähren. Über die Höhe der Vergütung sowie über die Gewährung des Vorschusses und über dessen Höhe entscheidet der Ausschuß."

Das Bundesgesetz, mit dem diese Änderungen verfügt wurden, trat am 1. Jänner 1991 in Kraft.

6. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

6.1. Zu den Prozeßvoraussetzungen:

Die Bundesregierung ist den Ausführungen des Verfassungsgerichtshofes zur Präjudizialität des §16 Abs2 RAO idF BGBl. Nr. 570/1973 nicht entgegengetreten. Da auch sonst nichts hervorgekommen ist, was gegen die Präjudizialität der in Prüfung gezogenen Regelung spräche, und die weiteren Prozeßvoraussetzungen ebenfalls vorliegen (im Verfahren G135/90 genügt es, zur Zulässigkeit der Beschwerde im Anlaßverfahren B288/90 auf das hg. Erkenntnis vom 25. Februar 1991, B628/90, zu verweisen), sind die Gesetzesprüfungsverfahren zulässig.

6.2. In der Sache selbst:

Der Verfassungsgerichtshof bleibt bei seiner schon in den Einleitungsbeschlüssen geäußerten Auffassung, daß gegen eine Pauschalvergütung der im Rahmen der Verfahrenshilfe erbrachten Leistungen, durch die nicht die Leistung des einzelnen, sondern die der Rechtsanwaltschaft in ihrer Gesamtheit abgegolten wird und die daher jedem Rechtsanwalt - gleichgültig, ob und in welchem Umfang er Verfahrenshilfe geleistet hat - zugute kommt, keine grundsätzlichen Bedenken bestehen (vgl. schon VfSlg. 6945/1972, S. 1312).

Der Verfassungsgerichtshof hat jedoch in den Einleitungsbeschlüssen das Bedenken geäußert, daß die durch Verfahrenshilfen bedingten Belastungen so unterschiedlich sein können, daß eine undifferenzierte Anwendung eines derartigen Pauschalvergütungssystems zur Gleichheitswidrigkeit führt.

Diese Bedenken treffen zu:

6.2.1. Die den Rechtsanwälten gemäß §16 Abs2 RAO obliegende Verpflichtung, im Falle ihrer Bestellung zum Verfahrenshelfer die Vertretung oder Verteidigung einer mittellosen Partei zu übernehmen, besteht auch dann, wenn zufolge besonderer Umstände (zB Komplexität des Verfahrensgegenstandes) Prozesse und Strafverfahren eine weit über dem Durchschnitt liegende Dauer erreichen, und wenn eine sorgfältige Vertretung oder Verteidigung einen ungewöhnlich hohen Arbeitsaufwand erfordert.

Solche Fälle besonders umfangreicher und arbeitsintensiver Vertretungen und Strafverteidigungen, die Verfahrenshelfer wochen- und auch monatelang in Anspruch nehmen, stellen - selbst unter Berücksichtigung des Umstandes, daß sie eher selten vorkommen - keine Härtefälle dar, die aus der Sicht des Gleichheitsgrundsatzes vernachlässigbar wären (vgl. zB VfSlg. 7012/1973, 8352/1978, 8806/1980).

Die Beigebung eines Verfahrenshelfers dient Interessen der Rechtspflege; bei komplizierten und langdauernden Verfahren besteht ein besonderes Interesse der Rechtspflege daran, daß auch Parteien, die nicht über die Mittel zur Bezahlung eines Beistandes oder Verteidigers verfügen, ein solcher beigegeben wird. Es ist dem Verfahrenshilfesystem somit immanent, daß Rechtsanwälte als Verfahrenshelfer insbesondere auch in solchen Fällen mit einer Vertretung oder Verteidigung betraut werden, die einen überdurchschnittlich hohen Arbeitsaufwand für sie nach sich ziehen.

6.2.2. Aus der in Prüfung gezogenen Regelung ergibt sich nun, daß Verfahrenshelfer die Vertretung oder Verteidigung der Partei nach Maßgabe des Bestellungsbescheides zu übernehmen haben, ohne daß ihnen gegenüber dieser Partei ein Entlohnungsanspruch zusteht, und zwar auch für den Fall, daß die Bestellung ein wochen- oder monatelanges Einschreiten erfordert. Es bedarf keiner näheren Begründung, daß die Verpflichtung zur Übernahme einer Verfahrenshilfe in Prozessen von überdurchschnittlich langer Dauer an sich eine große Belastung für den Anwalt darstellt; dies gilt im besonderen aber dann, wenn Rechtsanwälte erst relativ kurz in die Liste eingetragen sind und (oder) ihren Beruf nicht in einer Kanzleigemeinschaft ausüben. Die Belastungen durch die Bestellung zum Verfahrenshelfer im Rahmen eines Pauschalvergütungssystems, das zudem auch in solchen Fällen kein Recht auf Ablehnung oder Enthebung vorsieht, können sich in wochen- oder monatelangen Verfahren existenzbedrohend auswirken.

6.2.3. Die Bundesregierung meint nun, daß durch §46 RAO und die in seiner Durchführung ergangenen Bestimmungen der Geschäftsordnungen der Rechtsanwaltskammern dem Gleichheitsgebot in hinreichender Weise Rechnung getragen wird; einerseits weil sie eine Mehrfachanrechnung von Verfahrenshilfeleistungen auf die turnusmäßigen Verpflichtungen und in besonderen Fällen die gleichzeitige Betrauung mehrerer Rechtsanwälte mit der Vertretung oder Verteidigung vorsehen, andererseits weil aufgrund dieser Bestimmungen aus wichtigen Gründen und im Hinblick auf persönliche Umstände eine Befreiung von der Verfahrenshilfe erfolgen kann.

Der Verfassungsgerichtshof kann sich dieser Auffassung jedoch aus folgenden Gründen nicht anschließen:

6.2.3.1. Zunächst ist darauf zu verweisen, daß §46 Abs2 RAO lediglich eine allgemeine, von den Umständen eines konkreten Falles unabhängige Befreiung von der Erbringung von Verfahrenshilfetätigkeiten aus wichtigen Gründen vorsieht, bei deren Vorliegen eine Bestellung erst gar nicht erfolgt. Rechtsanwälte, auf die ein Befreiungstatbestand nicht zutrifft, sind demgegenüber gemäß §46 Abs1 RAO nach festen Regeln, die sich in den Geschäftsordnungen finden, als Verfahrenshelfer zu bestellen, wodurch eine gleichmäßige Heranziehung und Belastung gewährleistet werden soll. Einen Anspruch darauf, von einer bereits erfolgten Bestellung enthoben zu werden, hat ein Rechtsanwalt nur bei Vorliegen der in §45 Abs4 RAO genannten Gründe.

6.2.3.2. Der Bundesregierung kann auch nicht gefolgt werden, wenn sie meint, dem Gleichheitsgebot werde in solchen Fällen dadurch Rechnung getragen, daß bei Verfahrenshilfen von überlanger Dauer entweder mehrere Rechtsanwälte gleichzeitig zum Verfahrenshelfer bestellt werden können, sodaß sie bei entsprechender Arbeitsteilung nicht überdurchschnittlich belastet würden, oder aber daß die Bestellung für einzelne Verfahrensabschnitte erfolgen könne, wodurch ebenfalls überdurchschnittliche Belastungen vermieden würden.

Die Bundesregierung übersieht hiebei, daß eine solche Vorgangsweise mit den Verpflichtungen, die einem Rechtsanwalt in Vertretung einer Partei obliegen, dann jedenfalls nicht vereinbar ist, wenn dadurch die Wahrung der Interessen des Mandanten und damit die Effektivität der Vertretung beeinträchtigt sein kann; dies ergibt sich aus den allgemeinen Berufspflichten eines Rechtsanwaltes, für bestellte Strafverteidiger darüber hinaus auch aus Art6 MRK.

Der Verfassungsgerichtshof ruft hiezu in Erinnerung, daß die MRK nicht dazu bestimmt ist, theoretische oder illusorische Rechte zu garantieren, sondern vielmehr Rechte gewährt, die konkret sind und Wirksamkeit entfalten. Dies gilt insbesondere für Rechte der Verteidigung im Hinblick auf die herausragende Stellung, die das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren in einer demokratischen Gesellschaft einnimmt, dem jene Rechte entstammen (vgl. Airey-Urteil vom 9.10.1979, EuGRZ 1979, S. 626 ff.; Artico-Urteil vom 13.5.1980, EuGRZ 1980, S. 662 ff.). Zu den Ausführungen der Bundesregierung ist weiters darauf zu verweisen, daß auch die in Prüfung gezogene Bestimmung ausdrücklich anordnet, daß Verfahrenshelfer verpflichtet sind, die Vertretung oder Verteidigung der Partei "mit der gleichen Sorgfalt wie ein frei gewählter Rechtsanwalt zu besorgen". Die Bestellung mehrerer Rechtsanwälte als Verfahrenshelfer erlaubt es diesen somit nicht, die Vertretung oder Verteidigung nur deshalb arbeitsteilig auszuüben, weil ihnen für Leistungen als Verfahrenshelfer kein Anspruch auf individuelle Honorierung zusteht; ein derartiges Vorgehen würde die als Verfahrenshelfer einschreitenden Rechtsanwälte mit ihren Standespflichten in Konflikt bringen und ihre disziplinäre Verantwortung auslösen.

6.3. Die in den Einleitungsbeschlüssen dargelegten Bedenken treffen somit zu, die geprüfte Gesetzesvorschrift verstößt gegen das auch den Gesetzgeber bindende Gleichheitsgebot.

7. Mit dem am 1. Jänner 1991 in Kraft getretenen Bundesgesetz vom 28. Juni 1990, BGBl. Nr. 474/1990, wurde §16 Abs2 RAO geändert. Dadurch trat diese Bestimmung idF BGBl. Nr. 570/1973 außer Kraft. Der Verfassungsgerichtshof hatte sich daher gemäß Art140 Abs4 B-VG auf den Ausspruch zu beschränken, daß die in Prüfung gezogene Bestimmung verfassungswidrig war.

8. Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Die Verpflichtung des Bundeskanzlers zur Kundmachung der getroffenen Feststellung stützt sich auf Art140 Abs5 B-VG.

Dies konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

Schlagworte

Rechtsanwälte Pflichtverteidigung, Pflichtverteidigung, fair trial

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1991:G135.1990

Dokumentnummer

JFT_10089773_90G00135_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten