TE OGH 2021/11/16 10ObS165/21v

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Veröffentlicht am 16.11.2021
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und ADir. Gabriele Svirak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei H*****, vertreten durch Celar Senoner Weber-Wilfer Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen vorzeitiger Alterspension bei langer Versicherungsdauer, infolge außerordentlichen Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 25. August 2021, GZ 9 Rs 59/21v-19, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

[1]       Der am 5. 7. 1957 geborene Kläger war von 1. 8. 1974 bis 31. 7. 2019 bei der beklagten Pensionsversicherungsanstalt angestellt und hat zumindest 540 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit erworben.

[2]       Am 10. 4. 2019 stellte er den Antrag auf Zuerkennung der vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer nach Vollendung des 62. Lebensjahres mit 1. 8. 2019.

[3]       Mit Bescheid vom 27. 4. 2020 anerkannte die Beklagte den Anspruch des Klägers auf vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer ab 1. 8. 2019 und sprach aus, dass die monatliche Pension 3.343,51 EUR brutto zuzüglich Höherversicherung und ab 1. 1. 2020 monatlich 3.403,70 EUR brutto zuzüglich Höherversicherung beträgt.

[4]       In seiner Klage bringt der Kläger vor, die Beklagte habe zu Unrecht pro Kalendermonat der früheren Inanspruchnahme vor dem frühestmöglichen Stichtag der Alterspension 0,35 % von der zustehenden Pensionsleistung abgezogen. § 236 Abs 4b ASVG, der eine Abschlagsfreiheit von Pensionsleistungen für den Fall des Erwerbs von 540 Beitragsmonaten der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit vorsehe, sei mit 1. 1. 2020 in Kraft getreten. Infolge dieser – zwischen Antragstellung und Bescheiderlassung erfolgten – Rechtsänderung zum Vorteil des Versicherten wäre von einer „Stichtagsverschiebung“ (dem Auslösen eines neuen Stichtags zum 1. 1. 2020) und einer abschlagsfreien Pensionsberechnung zu diesem neuen Stichtag auszugehen gewesen.

[5]       Die Beklagte wendete im Wesentlichen ein, die Erfüllung der Wartezeit, der Eintritt des Versicherungsfalls sowie die allgemeinen und die besonderen Anspruchsvoraussetzungen seien zum Stichtag nach der zu diesem Tag geltenden Rechtslage zu prüfen gewesen, weshalb die Berechnung der Pensionsleistung mit den entsprechenden Abschlägen vorzunehmen gewesen sei.

[6]       Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

[7]       Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und lies die Revision nicht zu.

Rechtliche Beurteilung

[8]       Die außerordentliche Revision des Klägers ist wegen Fehlens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO unzulässig.

[9]       1.1 Die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer ist eine Pflichtleistung der Pensionsversicherung gemäß § 222 Abs 1 Z 1 ASVG (idF vor dem Budgetbegleitgesetz 2003, BGBl I 2003/71) aus dem Versicherungsfall des Alters.

[10]     1.2 Der Versicherungsfall des Alters gilt mit dem Erreichen eines bestimmten Anfallsalters für die Pension als eingetreten (RIS-Justiz RS0111060).

[11]     1.3 Beim Versicherungsfall handelt es sich um eine primäre Leistungsvoraussetzung der Pensionsversicherung (RS0110083).

[12]     1.4 Im Fall des Klägers trat der Versicherungsfall des Alters, der seinen Anspruch auf vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer begründete, unstrittig mit Erreichung des 62. Lebensjahres im Juli 2019 ein (§§ 253b iVm 607 Abs 10 und 12, 617 Abs 13 ASVG).

[13]     2.1 Gemäß § 223 Abs 2 ASVG hat die Feststellung, ob der Versicherungsfall eingetreten ist, ausschließlich zu dem durch die Antragstellung ausgelösten Stichtag zu erfolgen (RS0111054).

[14]     2.2 § 223 Abs 2 ASVG wurde mit der 55. Novelle zum ASVG (BGBl I 1998/138) mit Wirkung ab 1. 9. 1996 vom Gesetzgeber authentisch dahin interpretiert, dass der Stichtag für die Beurteilung sowohl der primären als auch der sekundären Anspruchsvoraussetzungen maßgeblich ist (RS0110084 [T1]). Dazu gehört auch die Beurteilung, in welchem Ausmaß eine Leistung gebührt, also auch die Entscheidung über die Pensionshöhe (10 ObS 26/10m SSV-NF 24/20).

[15]     3. Der Versicherungsfall des Alters kann nach allen Systemen nur einmal eintreten. Er wird durch die Entscheidung eines Sozialversicherungsträgers über die Gewährung der (vorzeitigen) Alterspension nicht nur für den Bereich dieses Sozialversicherungsgesetzes, sondern auch für den Bereich der anderen Sozialversicherungsgesetze konsumiert (RS0107674).

[16]           4. Mit dieser Rechtslage stimmt die Rechtsansicht der Vorinstanzen überein, der Versicherungsfall des Alters sei im vorliegenden Fall aufgrund des Antrags des Klägers vom 10. 4. 2019 auf Zuerkennung einer vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer mit der Vollendung des 62. Lebensjahres eingetreten. Zu dem daraus resultierenden Stichtag 1. 8. 2019 wurde über den Anspruch des Klägers dem Grunde und der Höhe nach entschieden. Infolge der vorzeitigen Inanspruchnahme wurde die Pension unter Berücksichtigung der gesetzlichen Abschläge zuerkannt.

[17]           5.1 Mit 1. 1. 2020 trat der mit dem PAG 2020, BGBl I 2019/98, geschaffene § 236 Abs 4b ASVG in Kraft (§ 727 Abs 1 Z 1 ASVG idF BGBl I 2019/98), mit dem die Abschlagsfreiheit bei der vorzeitigen Alterspension wegen langer Versicherungsdauer wieder eingeführt wurde. Hat die versicherte Person mindestens 540 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit erworben, ist eine Verminderung der Leistung nach dem ASVG und nach dem APG unzulässig.

[18]     5.2 § 236 Abs 4b ASVG tritt mit Ablauf des 31. 12. 2021 wieder außer Kraft (§ 745 Abs 2 ASVG). Auf Personen, die die Anspruchsvoraussetzungen nach § 236 Abs 4b ASVG spätestens mit 31. 12. 2021 erfüllen, bleibt diese Bestimmung aber weiter anwendbar (§ 745 Abs 4 ASVG).

[19]           6. Nach der seit der Berufungsentscheidung mittlerweile zu § 236 Abs 4b ASVG ergangenen Rechtsprechung ergänzt diese Regelung die für die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer vorhandenen Wartezeitregelungen (§ 607 Abs 10 und 12 ASVG) und stellt eine Vorschrift für die Berechnung einer solchen Pension dar. Da § 236 Abs 4b ASVG sowohl nach dem Wortlaut nach als auch nach der systematischen Stellung keine Regelung über die Neubemessung einer schon zu einem Stichtag vor dem Inkrafttreten dieser Bestimmung rechtskräftig zuerkannten Pension ist, ist sie nur auf die Berechnung von Alterspensionen anwendbar, deren Stichtag ab dem Inkrafttreten dieser Bestimmung, also am 1. 1. 2020 oder später liegt (10 ObS 101/21g Pkt 7.2 f).

[20]           7.1 Diese Voraussetzung liegt beim Revisionswerber nicht vor.

[21]           7.2 Zu der vom Revisionswerber gewünschten „Stichtagsverschiebung“ hat bereits das Berufungsgericht die ständige Rechtsprechung wiedergegeben, nach der eine während des Verfahrens eintretende Änderung des Gesundheitszustands, eine Gesetzesänderung oder eine sonstige Änderung der Anspruchsvoraussetzungen bei der Entscheidung grundsätzlich zu berücksichtigen ist. Durch diese Änderung – sofern sie für den erhobenen Anspruch von Bedeutung ist – wird ein neuer Stichtag ausgelöst; die Anspruchsvoraussetzungen sind zu diesem neuen Stichtag zu prüfen (RS0085973 [T2]).

[22]           7.3 Haben sich durch § 236 Abs 4b ASVG nicht die Anspruchsvoraussetzungen für eine vorzeitige Alterspension aufgrund langer Versicherungsdauer geändert, sondern handelt es sich um eine Regelung, die die Pensionsbemessung (die Höhe der Pension) betrifft, ist die Ermittlung der Höhe der gebührenden Leistung gemäß § 223 Abs 2 ASVG allein ausgehend von der Rechtslage am Stichtag vorzunehmen (RS0110084). Davon weicht die Entscheidung des Berufungsgerichts nicht ab.

[23]     8. Da der Kläger keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO aufzeigt, ist seine außerordentliche Revision als unzulässig zurückzuweisen.

Textnummer

E133517

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:010OBS00165.21V.1116.000

Im RIS seit

17.01.2022

Zuletzt aktualisiert am

17.01.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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