TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/15 W150 2246169-1

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Veröffentlicht am 15.09.2021
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Entscheidungsdatum

15.09.2021

Norm

BFA-VG §22a Abs1
BFA-VG §22a Abs4
B-VG Art133 Abs4
FPG §76
FPG §76 Abs2 Z3
FPG §77
VwG-AufwErsV §1
VwGVG §35
VwGVG §35 Abs1

Spruch


W150 2246169-1/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. KLEIN als Einzelrichter über die Beschwerde von Herrn XXXX , geb. XXXX 1994, StA. RUSSISCHE FÖDERATION, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen Gesellschaft mit beschränkter Haftung, FN 525828b, gegen den Bescheid des BFA, Regionaldirektion Tirol (BFA-T) vom 29.08.2021, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

I. Der Beschwerde wird gemäß § 22a Abs. 1 BFA-VG iVm §§ 76 und 77 FPG stattgegeben und der angefochtene Bescheid aufgehoben.

Gleichzeitig wird die Anhaltung des Beschwerdeführers in Schubhaft vom 29.08.2021 bis 15.09.2021 für rechtswidrig erklärt und festgestellt, dass die Voraussetzungen zur weiteren Anhaltung in Schubhaft nicht vorliegen.

II. Gemäß § 35 VwGVG iVm § 1 VwG-Aufwandersatzverordnung, BGBl. II Nr. 517/2013 idgF, hat der Bund (Bundesminister für Inneres) dem Beschwerdeführer zu Handen seines ausgewiesenen Vertreters Aufwendungen in Höhe von € 1689,60 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

III. Der Antrag des Bundesamtes auf Aufwandersatz wird gemäß § 35 Abs. 1 VwGVG abgewiesen.

B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden auch: „BF“), ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation, reiste am 28.08.2021 gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin über Italien mit der Eisenbahn in das Bundesgebiet ein, sie stiegen in Innsbruck aus, meldeten sich bei einer Polizeidienststelle, wo sie beide Asyl beantragten und der Erstbefragung unterzogen wurden.

1.2. Mit Mandatsbescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden auch: „BFA“ oder „belangte Behörde“) vom 29.08.2021, Zl. XXXX , wurde über den BF die Schubhaft gemäß Art. 28 Abs. 1 und 2 Dublin-Verordnung iVm § 76 Abs. 2 Z 3 FPG iVm § 57 Abs. 1 AVG zum Zwecke der Sicherung des Überstellungsverfahrens angeordnet. Das BFA begründete seine Entscheidung im Wesentlichen damit, dass der BF in Europa bereits mehrfach (in Finnland, Schweden, Frankreich und Österreich) Asylanträge gestellt habe, denen sie sich bislang entzogen hätte. Sie unterliege einem Verfahren nach der Dublin-Verordnung. Es liege Fluchtgefahr vor. Es sei offensichtlich, dass sie nicht gewillt sei, sich den europäischen Asylbestimmungen zu unterwerfen. Es sei davon auszugehen, dass sie auch in Österreich nicht an einem ordentlichen Verfahren mitwirken werde.

1.3. Am 30.08.2021 leitete das BFA ein Konsultationsverfahren mit Finnland ein. Bereits am selben Tag stimmte Finnland einer Überstellung zu.

1.4. Am 08.09.2021 brachte der BF im Wege seiner rechtsfreundlichen Vertreterin Beschwerde gegen den oben genannten gegenständlichen Bescheid ein. Diese wurde im Wesentlichen und soweit verfahrensrelevant damit begründet, dass das BFA das das Vorliegen der Fluchtgefahr und warum ein gelinderes Mittel nicht in Frage komme nicht nachvollziehbar begründet habe. Darüber hinaus sei die Anhaltung in Schubhaft nicht verhältnismäßig, da noch keine Entscheidung zur Außerlandesbringung getroffen worden sei und die Schubhaft somit noch länger dauern werde. Es wären im Fall des BF das gelindere Mittel, wie etwa die Anordnung zur Wohnsitznahme, möglich, da sie Anspruch auf Grundversorgung habe. Kostenzuspruch, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung sowie der Ausspruch, dass die Anordnung von Schubhaft und die Anhaltung in Schubhaft in rechtswidriger Weise erfolgte und der Ausspruch, dass im Rahmen einer „Habeas Corpus Prüfung“ die Voraussetzungen zur weiteren Anhaltung des BF nicht vorliegen wurden beantragt.

1.5. das BFA legte daraufhin am 09.09.2021 dem Bundesverwaltungsgericht die Akten vor und erstattete eine Stellungnahme, in der im Wesentlichen auf die Ausführungen im Mandatsbescheid verwiesen wurde und darauf hingewiesen wurde, dass der BF über keinen feststellbaren beruflichen und keine familiären oder substanziellen sozialen Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet verfüge, sie daher im Falle einer Entlassung aus der Schubhaft Untertauchen oder unkontrolliert, unrechtmäßig in einen anderen Mitgliedsstaat der europäischen Union ausreisen werde.

1.6. Am 14.09.2021 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung mit dem BF und seiner Lebensgefährtin unter Beiziehung eines gerichtlich beeideten Dolmetschers für die Russische Sprache und unter Anwesenheit der rechtsfreundlichen Vertreterin des BF sowie eines Vertreters der belangten Behörde durchgeführt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid des BFA, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der Einsichtnahme in die bezughabenden Verwaltungsakten, in das Zentrale Melderegister, Fremdeninformationssystem, Strafregister und Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird der Verfahrensgang zur Feststellung erhoben.

1.2. Der BF ist Staatsangehörige der Russischen Föderation, ihre Identität steht fest. Sie besitzt nicht die österreichische Staatsbürgerschaft und ist somit Fremde im Sinne des § 2 Abs. 4 Z 1 FPG.

Der BF ist der Lebensgefährte der XXXX , geb. XXXX 1995, StA. RUSSISCHE FÖDERATION, derzeit in Wien in Schubhaft.

Abgesehen von seiner Lebensgefährtin verfügt der BF in Österreich über keine familiären Anknüpfungspunkte und ist auch sozial nicht verankert.

Über die Asylanträge des BF und seiner Lebensgefährtin wurde noch nicht entschieden.

Der BF spricht Russisch als Muttersprache.

Der BF ist haft- und prozessfähig.

Der BF ist mittellos.

Der BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Es liegt im derzeitigen Stadium des Verfahrens keine Fluchtgefahr vor.

2. Beweiswürdigung:

Der oben angeführte Verfahrensgang und die Feststellungen ergeben sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakten des Bundesamtes und der vorliegenden Gerichtsakten des Bundesverwaltungsgerichtes sowie aus der Einsicht in die Anhaltedatei-Vollzugsverwaltung und das zentrale Melderegister. Die Feststellung der Identität ergibt sich aus den bei den finnischen Behörden aufliegenden Lichtbildausweisen, gegenteiliges kam aus den bisher durchgeführten Ermittlungen des BFA nicht hervor. Die Feststellung der strafrechtlichen Unbescholtenheit des BF ergibt sich aus einer aktuellen Abfrage des Strafregisters der Republik Österreich. Die Feststellungen zum Gesundheitszustand des BF ergeben sich aus ihren durchaus glaubwürdigen eigenen Angaben und einem rezenten amtsärztlichen Gutachten. Die Feststellung, dass sie in Lebensgemeinschaft mit dem oben unter Punkt 1.2. genannten Asylwerber lebt ergab sich aus den diesbezüglich glaubhaften Angeben der beiden im Zuge der durchgeführten öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und es wurde dem auch seitens der belangten Behörde nicht widersprochen.

Die Feststellung bezüglich des Nichtvorliegens der Fluchtgefahr ergibt sich aus der im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht genau erörterten Vorgeschichte und Beweggründen der durch den BF gewählten Reisewege. Mag auch der subjektive Eindruck, den der BF bezüglich der Chancen auf Asylgewährung und der mit dem Verfahren verbundenen Umstände objektiv nicht zutreffen, so konnte jedoch der BF glaubhaft darlegen, dass sie in Österreich die Fortführung ihres Asylverfahrens gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin abzuwarten gewillt ist. Gleichwohl ist Sicherungsbedarf für den Fall eines für sie ungünstigen Verlaufes des Verfahrens anzunehmen.

3. Rechtliche Beurteilung:

Gemäß Artikel 130 Abs. 1 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) erkennen die Verwaltungsgerichte über Beschwerden

1. gegen den Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit;

2. gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt wegen Rechtswidrigkeit;

3. wegen Verletzung der Entscheidungspflicht durch eine Verwaltungsbehörde;

4. gegen Weisungen gemäß Art. 81a Abs. 4.

Gemäß § 9 Abs. 2 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Entscheidungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.

§ 7 Abs. 1 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), lautet:

(1) Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet über

1. Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes,

2. Beschwerden gegen Bescheide der Vertretungsbehörden gemäß dem 11. Hauptstück des FPG,

3. Beschwerden gegen Maßnahmen unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt gemäß dem 1. Hauptstück des 2. Teiles des BFA-VG und gemäß dem 7. und 8. Hauptstück des FPG,

4. Beschwerden wegen Verletzung der Entscheidungspflicht des Bundesamtes und

5. Beschwerden gegen Bescheide des Bundesministers für Inneres in Verfahren gemäß §§ 3 Abs. 2 Z 1 bis 6 und 4 Abs. 1 Z 1 und 2

Gemäß § 7 Abs. 2 BFA-VG hat das Bundesverwaltungsgericht jedenfalls in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der Verwaltungsgerichtshof einer Revision oder der Verfassungsgerichtshof einer Beschwerde gegen ein Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes gemäß Abs. 1 stattgegeben hat.

Für das gegenständliche Verfahren ist sohin das Bundesverwaltungsgericht zuständig.

Gemäß § 6 des Bundesverwaltungsgerichtsgesetzes (BVwGG), BGBl. I Nr. 10/2013, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Da in den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen eine Senatszuständigkeit nicht vorgesehen ist, obliegt in der gegenständlichen Rechtssache die Entscheidung dem nach der jeweils geltenden Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zuständigen Einzelrichter.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I Nr 33/2013 idgF, geregelt. Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft. Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung (BAO), BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes (AgrVG), BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 (DVG), BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Zu A)

3.1. Zu Spruchpunkt I. (Schubhaft):

3.1.1. § 22a des BFA-Verfahrensgesetzes (BFA-VG) lautet auszugsweise wie folgt:

㤠22a. (1) Der Fremde hat das Recht, das Bundesverwaltungsgericht mit der Behauptung der Rechtswidrigkeit des Schubhaftbescheides, der Festnahme oder der Anhaltung anzurufen, wenn

1. er nach diesem Bundesgesetz festgenommen worden ist,

2. er unter Berufung auf dieses Bundesgesetz angehalten wird oder wurde, oder

3. gegen ihn Schubhaft gemäß dem 8. Hauptstück des FPG angeordnet wurde.

(1a) Für Beschwerden gemäß Abs. 1 gelten die für Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG anwendbaren Bestimmungen des VwGVG mit der Maßgabe, dass belangte Behörde jene Behörde ist, die den angefochtenen Schubhaftbescheid erlassen hat oder der die Festnahme oder die Anhaltung zuzurechnen ist.

(2) Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes über die Fortsetzung der Schubhaft hat binnen einer Woche zu ergehen, es sei denn, die Anhaltung des Fremden hätte vorher geendet. Hat das Bundesverwaltungsgericht dem Beschwerdeführer gemäß § 13 Abs. 3 AVG aufgetragen, innerhalb bestimmter Frist einen Mangel der Beschwerde zu beheben, wird der Lauf der Entscheidungsfrist bis zur Behebung des Mangels oder bis zum fruchtlosen Ablauf der Frist gehemmt.“

§22a BFA-VG bildet sohin im gegenständlichen Fall die formelle Grundlage.

Materielle Rechtsgrundlage:

Gemäß § 76 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) können Fremde festgenommen und angehalten werden (Schubhaft) sofern der Zweck der Schubhaft nicht durch ein gelinderes Mittel (§ 77) erreicht werden kann. Gemäß Abs. 2 Z 1 leg cit. aF darf die Schubhaft nur dann angeordnet werden, wenn dies zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme, zur Sicherung des Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme oder der Abschiebung notwendig ist und sofern jeweils Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist. Gemäß Abs. 3 leg cit. liegt eine Fluchtgefahr im Sinne des Abs. 2 Z 1 unter anderem vor, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich der Fremde dem Verfahren oder der Abschiebung entziehen wird oder dass der Fremde die Abschiebung wesentlich erschweren wird. Dabei ist unter anderem insbesondere zu berücksichtigen, ob der Fremde an dem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme mitwirkt oder die Rückkehr oder Abschiebung umgeht oder behindert (Z 1); ob eine durchsetzbare aufenthaltsbeendenden Maßnahme besteht oder der Fremde sich dem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme oder über einen Antrag auf internationalen Schutz bereits entzogen hat (Z 3); ob der faktische Abschiebeschutz bei einem Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23 AsylG 2005) aufgehoben wurde oder dieser dem Fremden nicht zukommt (Z 4); ob gegen den Fremden zum Zeitpunkt der Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme bestand, insbesondere, wenn er sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Schubhaft befand oder aufgrund § 34 Abs. 3 Z 1 bis 3 BFA-VG angehalten wurde (Z 5); der Grad der sozialen Verankerung in Österreich, insbesondere das Bestehen familiärer Beziehungen, das Ausüben einer legalen Erwerbstätigkeit beziehungsweise das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel sowie die Existenz eines gesicherten Wohnsitzes (Z 9).

Hinsichtlich der Anwendung eines gelinderen Mittels ist § 77 FPG maßgeblich:

„§ 77. (1) Das Bundesamt hat bei Vorliegen der in § 76 genannten Gründe gelindere Mittel anzuordnen, wenn es Grund zur Annahme hat, dass der Zweck der Schubhaft durch Anwendung des gelinderen Mittels erreicht werden kann. […]

(2) Voraussetzung für die Anordnung gelinderer Mittel ist, dass der Fremde seiner erkennungsdienstlichen Behandlung zustimmt, es sei denn, diese wäre bereits aus dem Grunde des § 24 Abs. 1 Z 4 BFA-VG von Amts wegen erfolgt.

(3) Gelindere Mittel sind insbesondere die Anordnung,

1. in vom Bundesamt bestimmten Räumen Unterkunft zu nehmen,

2. sich in periodischen Abständen bei einer Dienststelle einer Landespolizeidirektion zu melden oder

3. eine angemessene finanzielle Sicherheit beim Bundesamt zu hinterlegen. […]

(5) Die Anwendung eines gelinderen Mittels steht der für die Durchsetzung der Abschiebung erforderlichen Ausübung von Befehls- und Zwangsgewalt nicht entgegen. Soweit dies zur Abwicklung dieser Maßnahmen erforderlich ist, kann den Betroffenen aufgetragen werden, sich für insgesamt 72 Stunden nicht übersteigende Zeiträume an bestimmten Orten aufzuhalten. […]“

§ 80. (1) Das Bundesamt ist verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass die Schubhaft so kurz wie möglich dauert. Die Schubhaft darf so lange aufrechterhalten werden, bis der Grund für ihre Anordnung weggefallen ist oder ihr Ziel nicht mehr erreicht werden kann.

3.1.2. Zur Judikatur:

Die Anhaltung in Schubhaft ist nach Maßgabe der grundrechtlichen Garantien des Art. 2 Abs. 1 Z 7 PersFrBVG und des Art. 5 Abs. 1 lit. f EMRK nur dann zulässig, wenn der Anordnung der Schubhaft ein konkreter Sicherungsbedarf zugrunde liegt und die Schubhaft unter Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls verhältnismäßig ist. Dabei sind das öffentliche Interesse an der Sicherung der Aufenthaltsbeendigung und das Interesse des Betroffenen an der Schonung seiner persönlichen Freiheit abzuwägen. Kann der Sicherungszweck auf eine andere, die Rechte des Betroffenen schonendere Weise, wie etwa durch die Anordnung eines gelinderen Mittels nach § 77 FPG, erreicht werden (§ 76 Abs. 1 FPG), ist die Anordnung der Schubhaft nicht zulässig (VfGH 03.10.2012, VfSlg. 19.675/2012; VwGH 22.01.2009, Zl. 2008/21/0647; 30.08.2007, Zl. 2007/21/0043).

Ein Sicherungsbedarf ist in der Regel dann gegeben, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich der Fremde dem Verfahren oder der Abschiebung entziehen oder diese zumindest wesentlich erschweren werde (§ 76 Abs. 3 FPG). Es ist allerdings nicht erforderlich, dass ein Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme bereits eingeleitet worden ist (VwGH 28.06.2002, Zl. 2002/02/0138).

Die fehlende Ausreisewilligkeit des Fremden, d.h. das bloße Unterbleiben der Ausreise, obwohl keine Berechtigung zum Aufenthalt besteht, vermag für sich genommen die Verhängung der Schubhaft nicht zu rechtfertigen. Vielmehr muss der – aktuelle – Sicherungsbedarf in weiteren Umständen begründet sein, etwa in mangelnder sozialer Verankerung in Österreich. Dafür kommt insbesondere das Fehlen ausreichender familiärer, sozialer oder beruflicher Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet in Betracht, was die Befürchtung, es bestehe das Risiko des Untertauchens eines Fremden, rechtfertigen kann. Abgesehen von der damit angesprochenen Integration des Fremden in Österreich ist bei der Prüfung des Sicherungsbedarfes auch sein bisheriges Verhalten in Betracht zu ziehen, wobei frühere Delinquenz das Gewicht des öffentlichen Interesses an einer baldigen Durchsetzung einer Abschiebung maßgeblich vergrößern kann (VwGH 21.12.2010, Zl. 2007/21/0498; weiters VwGH 08.09.2005, Zl. 2005/21/0301; 23.09.2010, Zl. 2009/21/0280).

Schubhaft darf stets nur "ultima ratio" sein (vgl. VwGH 02.08.2013, Zl. 2013/21/0054; VwGH 11.06.2013, Zl. 2012/21/0114, VwGH 24.02.2011, Zl. 2010/21/0502; VwGH 17.03.2009, Zl. 2007/21/0542; VwGH 30.08.2007, 2007/21/0043). Daraus leitete der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 19.05.2011, Zl. 2008/21/0527, unter Hervorhebung der in § 80 Abs. 1 FPG 2005 ausdrücklich festgehaltenen behördliche Verpflichtung, darauf hinzuwirken, dass die Schubhaft so kurz wie möglich dauert, insbesondere auch ab, „dass die Behörde schon von vornherein angehalten ist, im Fall der beabsichtigten Abschiebung eines Fremden ihre Vorgangsweise nach Möglichkeit so einzurichten, dass Schubhaft überhaupt unterbleiben kann. Unterlässt sie das, so erweist sich die Schubhaft als unverhältnismäßig“ (VwGH vom 19.05.2011, Zl. 2008/21/0527). Bereits im Erkenntnis des VwGH vom 27.01.2011, Zl. 2008/21/0595, wurde dazu klargestellt, dass der Schubhaft nicht der Charakter einer Straf- oder Beugehaft zu kommt, „weshalb ohne besondere Anhaltspunkte für eine absehbare Änderung der Einstellung des Fremden die Haft nicht allein im Hinblick darauf aufrechterhalten werden darf, diese ’Einstellungsänderung’ durch Haftdauer zu erwirken. (Hier: Der Fremde hatte, nachdem er nach zwei Monaten nicht aus der Schubhaft entlassen worden war, seine vorgetäuschte Mitwirkungsbereitschaft aufgegeben und zu erkennen gegeben, dass er nicht in den Kamerun zurückkehren wolle und auch nicht an einer Identitätsfestellung mitwirken werde. Die mangelnde Kooperation des Fremden gipfelte schließlich in der Verweigerung jeglicher Angaben. Die belangte Behörde hat in Folge bis zu einem neuerlichen Einvernahmeversuch zugewartet ohne zwischenzeitig auf Basis der vorhandenen Daten zwecks Erstellung eines Heimreisezertifikates an die Botschaft von Kamerun heranzutreten oder sonst erkennbare Schritte in Richtung Bewerkstelligung einer Abschiebung zu setzen. In diesem Verhalten der belangten Behörde ist eine unangemessene Verzögerung zu erblicken).“ (VwGH vom 27.01.2011, Zl. 2008/21/0595; vgl. dazu etwa auch VwGH 19.04.2012, 2009/21/0047).

„Die Entscheidung über die Anwendung gelinderer Mittel iSd § 77 Abs 1 FrPolG 2005 ist eine Ermessensentscheidung. Auch die Anwendung gelinderer Mittel setzt das Vorliegen eines Sicherungsbedürfnisses voraus. Fehlt ein Sicherungsbedarf, dann darf weder Schubhaft noch ein gelinderes Mittel verhängt werden. Insoweit besteht kein Ermessensspielraum. Der Behörde kommt aber auch dann kein Ermessen zu, wenn der Sicherungsbedarf im Verhältnis zum Eingriff in die persönliche Freiheit nicht groß genug ist, um die Verhängung von Schubhaft zu rechtfertigen. Das ergibt sich schon daraus, dass Schubhaft immer ultima ratio sein muss (Hinweis E 17.03.2009, 2007/21/0542; E 30.08.2007, 2007/21/0043). Mit anderen Worten: Kann das zu sichernde Ziel auch durch die Anwendung gelinderer Mittel erreicht werden, dann wäre es rechtswidrig, Schubhaft zu verhängen; in diesem Fall hat die Behörde lediglich die Anordnung des gelinderen Mittels vorzunehmen (Hinweis E 28.05.2008, 2007/21/0246). Der Ermessenspielraum besteht also für die Behörde nur insoweit, als trotz eines die Schubhaft rechtfertigenden Sicherungsbedarfs davon Abstand genommen und bloß ein gelinderes Mittel angeordnet werden kann. Diesbezüglich liegt eine Rechtswidrigkeit nur dann vor, wenn die eingeräumten Grenzen des Ermessens überschritten wurden, also nicht vom Ermessen im Sinne des Gesetzes Gebrauch gemacht wurde“ (VwGH 11.06.2013, Zl. 2012/21/0114, vgl. auch VwGH vom 02.08.2013, Zl. 2013/21/0008).

„Je mehr das Erfordernis, die Effektivität der Abschiebung zu sichern, auf der Hand liegt, umso weniger bedarf es einer Begründung für die Nichtanwendung gelinderer Mittel. Das diesbezügliche Begründungserfordernis wird dagegen größer sein, wenn die Anordnung gelinderer Mittel naheliegt. Das wurde in der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes insbesondere beim Vorliegen von gegen ein Untertauchen sprechenden Umständen, wie familiäre Bindungen oder Krankheit, angenommen (vgl. etwa das Erkenntnis vom 22.05.2007, Zl. 006/21/0052, und daran anknüpfend das Erkenntnis vom 29.04.2008, Zl. 2008/21/0085; siehe auch die Erkenntnisse vom 28.02.2008, Zl. 2007/21/0512, und Zl. 2007/21/0391) und wird weiters auch regelmäßig bei Bestehen eines festen Wohnsitzes oder ausreichender beruflicher Bindungen zu unterstellen sein. Mit bestimmten gelinderen Mitteln wird man sich insbesondere dann auseinander zu setzen haben, wenn deren Anordnung vom Fremden konkret ins Treffen geführt wird“ (VwGH 02.08.2013, Zl. 2013/21/0008).

Dem Gesichtspunkt einer "sozialen Verankerung in Österreich" kommt im Zusammenhang mit der Verhängung der Schubhaft wesentliche Bedeutung zu. Dabei kommt es u.a. entscheidend auf das Bestehen familiärer Beziehungen, das Ausüben einer legalen Erwerbstätigkeit oder auf die Existenz eines gesicherten Wohnsitzes an (VwGH vom 30. August 2011, 2008/21/0107). Je länger somit der Fremde bereits in Österreich ist und je stärker er hier sozial verwurzelt ist, desto stärker müssen auch die Hinweise und Indizien für eine vorliegende Fluchtgefahr sein. Dabei ist zu beachten, dass Mittellosigkeit und fehlende soziale Integration in Bezug auf (noch nicht lange aufhältige) Asylwerber, die Anspruch auf Grundversorgung haben, allein noch keine tragfähigen Argumente für das Bestehen eines Sicherungsbedarfs sind (VwGH vom 28. Mai 2008, 2007/21/0233).

3.1.3. Der BF hat in Österreich keine Familienangehörigen und kein soziales Netz, abgesehen von ihrem ebenfalls in Schubhaft befindlichen Lebensgefährten. Sie ist mittellos, verfügt über keinerlei Vermögenswerte hat aber als Asylwerberin Anspruch auf Grundversorgung.

Andererseits hat sich der BF in Österreich bislang nicht verborgen gehalten, sondern selbst Kontant zur fremdenpolizeilich zuständigen Behörde aufgesucht und einen Asylantrag gestellt. Davor war sie in Italien eigenen bislang unbestrittenen Angaben nach obdachlos.

Grundsätzlich erschien daher die Anordnung des gelinderen Mittels angezeigt. Das Bundesamt hat keine konkreten Ausführungen dazu erstattet, warum das gelindere Mittel im gegenständlichen Fall nicht ausreichte, sondern sich nur allgemein auf das bis jetzt gezeigte persönliche Verhalten, nämlich eines gewissermaßen „Asyltourismus“ und der damit verbundenen Unglaubwürdigkeit der Person des BF bezogen, den Themenkreis ihres durch Art. 8 EMRK geschützten Familienlebens in Bezug auf seiner Lebensgefährtin dabei nicht berücksichtigt.

Somit war die für die Verhängung der Schubhaft erforderliche "ultima ratio-Situation" nicht gegeben.

Gleichwohl verkennt das Bundeverwaltungsgericht nicht, dass bezüglich des BF Sicherungsbedarf in Hinblick auf einen möglichen für sie unerwünschten Ausgang ihres Verfahrens besteht, doch wären diesbezüglich gelindere Mittel anzuwenden.

War der Schubhaftbescheid rechtswidrig, so muss das auch für die gesamte Zeit der auf ihn gestützten Anhaltung gelten (VwGH 11.06.2013, 2012/21/0014; 19.03.2013, 2011/21/025; 28.08.2012, 2010/21/0388).

Somit war auch die Zeit der Anhaltung des BF in Schubhaft vom 29.08.2021 bis dato für rechtswidrig zu erklären.

3.2. Zu den Spruchpunkten II. und III. (Verfahrenskosten):

Der BF begehrte den Ersatz seiner Aufwendungen entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen. Da der BF vollständig obsiegte, steht ihr nach den angeführten Bestimmungen dem Grunde nach der Ersatz seiner Aufwendungen zu. Die Höhe der zugesprochenen Verfahrenskosten stützt sich auf die im Spruch des Erkenntnisses genannten gesetzlichen Bestimmungen.

Hinsichtlich der begehrten Eingabengebühr ist zu bemerken, dass das BFA-VG für seinen, das verwaltungsgerichtliche Verfahren betreffenden Anwendungsbereich keine ausdrückliche Regelung vorsieht, ob oder inwieweit im Rahmen der kostenlosen Rechtsberatung nach § 52 BFA-VG auch eine Befreiung von allfälligen zu entrichtenden Gerichtsgebühren oder anderen bundesgesetzlich geregelten staatlichen Gebühren (§ 64 Abs. 1 Z 1 lit. a ZPO) möglich ist. Für Beschwerdeverfahren gemäß § 22a BFA-VG sind die Bestimmungen des VwGVG über Maßnahmenbeschwerden nach Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG sinngemäß anzuwenden. Zwar ist dort in § 35 die Eingabengebühr nicht explizit angeführt, doch ist auf das Erkenntnis des VwGH vom 28.05.2020, Ra 2019/21/0336 zu verweisen, demgemäß die Eingabengebühr nach wie vor als ersatzfähig anzusehen ist, zumal es sich dabei letztlich iSd § 35 Abs. 4 Z 1 VwGVG 2014 auch nur um besondere "Barauslagen, für die der Beschwerdeführer aufzukommen hat" - und die nicht mehr in Form von Stempelmarken, auf die § 79a Abs. 4 Z 1 AVG erkennbar Bezug genommen hatte, zu entrichten sind - handelt.

In logischer Konsequenz war daher das Kostenbegehren des Bundesamtes als unterlegener Partei (im Sinne des § 35 Abs. 3 VwGVG) auf der Grundlage des § 35 Abs. 1 VwGVG zu verwerfen.

Es war somit spruchgemäß zu entscheiden.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

Aufwandersatz Rechtswidrigkeit Schubhaft Schubhaftbeschwerde

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W150.2246169.1.00

Im RIS seit

09.11.2021

Zuletzt aktualisiert am

09.11.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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