TE Bvwg Beschluss 2021/5/11 W174 2214114-3

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Veröffentlicht am 11.05.2021
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Entscheidungsdatum

11.05.2021

Norm

AVG §38
AVG §68 Abs1
BFA-VG §17
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §17

Spruch


W174 2214114-3/5Z

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Viktoria MUGLI-MASCHEK, als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , alias XXXX , alias XXXX , geb. XXXX , auch XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Verein LegalFocus, dieser vertreten durch RA Mag. Eva VELIBEYOGLU, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.04.2021, Zl. 1114129505/201199932 beschlossen:

A)

Der Beschwerde wird gemäß § 17 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

B)

Das Verfahren über die Beschwerde wird gemäß § 38 AVG in Verbindung mit § 17 VwGVG bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache C-18/20 ausgesetzt.

C)

Die Revision ist gemäß Art. 144 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer – er führt den Namen XXXX – aber auch die Aliasidentitäten XXXX und XXXX sind aktenkundig, geb. XXXX alias XXXX , ist afghanischer Staatsangehöriger und stellte am 09.05.2016 nach illegaler Einreise den ersten Antrag auf internationalen Schutz, welcher mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden Bundesamt) vom 02.01.2019, Zl. 1114129505 - 160652849 hinsichtlich der Zuerkennung von Asyl gemäß § 3 AsylG und hinsichtlich der Zuerkennung von subsidiärem Schutz in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 AsylG abgewiesen wurde. Eine Aufenthaltsberechtigung aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt, gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig ist. Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.

Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 27.12.2019, Zl. W208 2214114-1/11E als unbegründet abgewiesen. Dieses Erkenntnis wurde rechtskräftig, nachdem die mit Schriftsatz vom 07.02.2020 erhoben außerordentliche Revision vom Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 26.02.2020, Ra 2020/18/0059-4 zurückgewiesen wurde.

2. Der am 17.04.2020 gestellte zweite Antrag auf internationalen Schutz wurde vom Bundesamt mit Bescheid vom 17.06.2020, Zl. 1114129505/200344152 hinsichtlich des Status des Asylberechtigten und des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungs-würdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt, gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig ist und gemäß § 55 Abs. 1a FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise besteht. Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z. 6 FPG wurde ein auf die Dauer von 2 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.

Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 10.07.2020, Zl. W250 2214114-2/3E hinsichtlich der Spruchpunkte I., II., III., IV., V. und VI. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen. Hinsichtlich des Spruchpunktes VII. des angefochtenen Bescheides wurde die Beschwerde mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass dieser Spruchpunkt zu lauten hat: "Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG wird gegen Sie ein auf die Dauer von 12 Monaten befristetes Einreiseverbot erlassen."

Der Bescheid des Bundesamtes vom 17.06.2020 wurde hinsichtlich der Spruchpunkte I., II., III., IV., V. nach Abweisung der dagegen erhobenen Beschwerde sowie der mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 10.07.2020, GZ.: W250 2214114-2/3E geänderte Spruchpunkt VII. mangels Erhebung einer Beschwerde an den Verwaltungs- bzw. Verfassungsgerichtshof ebenfalls rechtskräftig.

3. Nachdem der Beschwerdeführer zu einem der Behörde unbekannten Zeitpunkt vor dem 04.08.2020 aus dem österreichischen Bundesgebiet ausgereist und in die Niederlande eingereist war, stellte er am 04.08.2020 in den Niederlanden einen Asylantrag (EDAC-Treffer NL1-2898372169- 20200804T120256 vom 04.08.2020 10:10 Uhr). Der Beschwerdeführer wurde sodann im Zuge eines Dublin-In-Verfahrens, Zl. 200896970 am 30.11.2020 nach der Dublin III VO aus den Niederlanden nach Österreich überstellt und stellte bei seiner Einreise in das österreichische Bundesgebiet über den Flughafen Wien Schwechat am 30.11.2020 den dritten Antrag auf die Gewährung von internationalen Schutz in Österreich.

Im Zuge dieses Verfahrens gab der Beschwerdeführer insbesondere an, er wolle zu seinen „alten“ Fluchtgründe, die er vollinhaltlich aufrecht erhalte zusätzlich angeben, dass in der Zwischenzeit seine Mutter im Mai 2020 und sein Vater vor 2 Monaten gezielt von ihren Feinden umgebracht worden seien. Dafür gebe es Nachweise, das afghanische Fernsehen habe einen Bericht über die Ermordung des Vaters des Beschwerdeführers in Kabul gesendet und der Beschwerdeführer könne diese Sendung vorspielen bzw. zeigen. Auch gebe es einen Beitrag und Informationen in Facebook. Die Feinde hätten Verbindungen zu den Taliban und seien sehr mächtig.

4. Mit Bescheid des Bundesamtes vom 20.04.2021, Zl. 1114129505/201199932 wurde dieser dritte Antrag auf die Gewährung von internationalem Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen.

5. Gegen diese Entscheidung richtet sich die gegenständliche Beschwerde vom 03.05.2021, in welcher begründend auf den geänderten Sachverhalt, insbesondere die Neuerungen im Vergleich zu den beiden zuvor durchgeführten Verfahren, nämlich dass sowohl die Mutter des Beschwerdeführers im Mai 2020 und der Vater des Beschwerdeführers im September 2020 von Feinden der Familie, welche Verbindung zu den Taliban hätten und sehr mächtig seien, gezielt getötet worden seien. Über die Ermordung des Vaters des Beschwerdeführers sei in Beiträgen des renommierten, wichtigen und landesweiten Nachrichtensenders, ToloTV, berichtet worden und auch der Name des Getöteten, XXXX und sein Beruf, Metzger seien genannt worden. Der Beschwerdeführer habe bereits im Zuge seines ersten Asylverfahrens als noch Minderjähriger davon gesprochen, dass sein Vater Metzger sei und in der damals vorgelegten Tazkira des Beschwerdeführers werde der Name seines Vaters mit „ XXXX “ ersichtlich. Die vorgelegte Tazkira sei hinsichtlich Echtheit und inhaltlicher Richtigkeit nicht angezweifelt worden. Der Beschwerdeführer gehöre derselben Familie an und teile persönliche Eigenschaften mit zwei Personen, nämlich seiner Mutter und seinem Vater, die getötet worden seine.

Auch leide der Beschwerdeführer an psychischen Problemen und sei aktuell mit 59 kg Körpergewicht bei einer Körpergröße von 1,80m deutlich untergewichtig. Vor dem Tod seiner Eltern habe der Beschwerdeführer Fußball gespielt und trainiert und noch 70kg gewogen.

Der Beschwerdeführer werde im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund unabänderlicher persönlicher Eigenschaften, insbesondere seiner familiären Herkunft bedroht, diese Drohung finde Deckung in der GFK und der GRC und die Entscheidung des Bundesamtes verletzte den Beschwerdeführer in seinen in Art. 2, 3 und 8 MRK garantierten Rechten.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

Der unter Punkt I. beschriebene Verfahrensgang wird als Sachverhalt festgestellt.

Zum derzeitigen Zeitpunkt kann angesichts der kurzen Entscheidungsfrist insbesondere aufgrund der behaupteten Bedrohung und Verfolgung des Beschwerdeführers infolge seiner Zugehörigkeit zu seiner Familie, in welcher sowohl der Vater als auch die Mutter gezielt von mächtigen und mit den Taliban in Verbindung stehenden Feinden getötet worden seien, nach Durchführung einer Grobprüfung eine Verletzung einzelner durch die EMRK garantierter Rechte bei einer Rückführung des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat nicht mit der in diesem Zusammenhang gebotenen Sicherheit ausgeschlossen werden.

2.       Beweiswürdigung:

Der Verfahrensgang und die Feststellungen ergeben sich aus dem Inhalt der vorgelegten Verfahrensakten des Bundesamtes sowie der vorliegenden Gerichtsakten.

Die mögliche verfahrensrelevante bzw. wesentliche Änderung der entscheidungsrelevanten Situation des Beschwerdeführers ergibt sich in Bezug auf die Tötung seiner Eltern, seine psychischen Probleme und seine körperlichen Verfassung mit deutlichem Untergewicht. Zu berücksichtigen ist zudem die gegenwärtige Situation im Herkunftsstaat aufgrund der Corona Pandemie (vgl. Berichte der Staatendokumentation des Bundesamtes zur Lage betreffend COVID-19 in Afghanistan bzw. weitere internationalen Quellen zu den aktuellen Auswirkungen der Pandemie in Afghanistan, wonach die Städte Kabul, Herat und Mazar e Sharif am stärksten betroffen seien, hunderttausende Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten könnten und über kein Einkommen verfügen), sodass im Falle einer Rückkehr derzeit nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Beschwerdeführer aktuell dort kein Einkommen erwirtschaften könne und auch mit keiner entsprechenden Unterstützung vor Ort gerechnet werden kann.

3.       Rechtliche Beurteilung:

3.1. Zuständigkeit und verfahrensrechtliche Grundlagen:

Gemäß § 6 Bundesverwaltungsgerichtsgesetz (BVwGG), BGBl. I Nr. 10/2013 in der geltenden Fassung entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Da in den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen eine Senatszuständigkeit nicht vorgesehen ist, liegt gegenständlich die Zuständigkeit der nach der geltenden Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichts zuständigen Einzelrichterin vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte ist mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts durch das Verwaltungsgerichtsverfahrens (VwGVG) geregelt. Gemäß § 58 Abs 2 VwGVG idgF bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zweck des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG idgF sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art 130 Abs 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Gemäß § 7 Abs 1 Z 1 des BFA-Verfahrensgesetz - BFA-VG entscheidet über Beschwerden gegen Entscheidungen (Bescheide) des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) das Bundesverwaltungsgericht.

3.2. Zu Spruchpunkt A)

§ 17 BFA-VG lautet:

„Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde

§ 17.
(1) Das Bundesverwaltungsgericht hat der Beschwerde gegen eine Entscheidung, mit der ein Antrag auf internationalen Schutz zurückgewiesen wird und

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1.

diese Zurückweisung mit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme verbunden ist oder

2.

eine durchsetzbare Rückkehrentscheidung bereits besteht

sowie der Beschwerde gegen eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 Abs. 1 Z 2 FPG jeweils binnen einer Woche ab Vorlage der Beschwerde von Amts wegen durch Beschluss die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, wenn anzunehmen ist, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in den Staat, in den die aufenthaltsbeendende Maßnahme lautet, eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK, Art. 8 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. In der Beschwerde gegen den in der Hauptsache ergangenen Bescheid sind die Gründe, auf die sich die Behauptung des Vorliegens einer realen Gefahr oder einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit gemäß Satz 1 stützt, genau zu bezeichnen. § 38 VwGG gilt.

(2) Über eine Beschwerde gegen eine zurückweisende Entscheidung nach Abs. 1 oder gegen eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 Abs. 1 Z 2 FPG hat das Bundesverwaltungsgericht binnen acht Wochen zu entscheiden.

(3) Bei der Entscheidung, ob einer Beschwerde gegen eine Anordnung zur Außerlandesbringung die aufschiebende Wirkung zuerkannt wird, ist auch auf die unionsrechtlichen Grundsätze der Art. 26 Abs. 2 und 27 Abs. 1 der Dublin-Verordnung und die Notwendigkeit der effektiven Umsetzung des Unionsrechtes Bedacht zu nehmen.

(4) Ein Ablauf der Frist nach Abs. 1 steht der Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung nicht entgegen.“

Die Entscheidung über die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung ist nicht als Entscheidung in der Sache selbst zu werten; vielmehr handelt es sich dabei um eine der Sachentscheidung vorgelagerte (einstweilige) Verfügung, die nicht geeignet ist, den Ausgang des Verfahrens vorwegzunehmen. Es ist in diesem Zusammenhang daher lediglich darauf abzustellen, ob es – im Sinne der Grobprüfung – von vornherein ausgeschlossen erscheint, dass die Angaben des Beschwerdeführers als „vertretbare Behauptungen“ zu qualifizieren sind.

Unter Zugrundelegung obiger Ausführungen wird ein reales Risiko einer Verletzung der hier zu berücksichtigenden Konventionsbestimmungen (Art. 3 EMRK) geltend gemacht. Bei einer Grobprüfung dieses Vorbringens kann ohne nähere Prüfung des Sachverhalts – entgegen der Ansicht des Bundesamtes – prima facie nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass bei einer Rückkehr bzw. Abschiebung des Beschwerdeführers das Risiko der Verletzung von Art. 3 EMRK besteht und es sich somit um „vertretbare Behauptungen“ handelt.

Eine Entscheidung über die dem Bundesverwaltungsgericht vorliegende Beschwerde kann im vorliegenden Fall innerhalb der relativ kurzen Frist des § 17 Abs. 1 BFA-VG nicht getroffen werden.

Daher war der Beschwerde gemäß § 17 Abs. 1 BFA VG die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

Eine öffentliche mündliche Verhandlung konnte gemäß §21 Abs 6a BFA-VG entfallen.

3.3. Zu Spruchpunkt B)

3.3.1. § 68 Abs 1 AVG lautet:

„2. Abschnitt: Sonstige Abänderung von Bescheiden

Abänderung und Behebung von Amts wegen

§ 68.
(1) Anbringen von Beteiligten, die außer den Fällen der §§ 69 und 71 die Abänderung eines der Berufung nicht oder nicht mehr unterliegenden Bescheides begehren, sind, wenn die Behörde nicht den Anlaß zu einer Verfügung gemäß den Abs. 2 bis 4 findet, wegen entschiedener Sache zurückzuweisen.“

Diesem ausdrücklichen Begehren auf Abänderung steht ein Ansuchen gleich, das bezweckt, eine Sache erneut inhaltlich zu behandeln, die bereits rechtskräftig entschieden ist (VwGH 30.09.1994, 94/08/0183; 30.05.1995, 93/08/0207; 09.09.1999, 97/21/0913; 07.06.2000, 99/01/0321). „Entschiedene Sache“ iSd § 68 Abs. 1 AVG liegt vor, wenn sich gegenüber der Vorentscheidung weder die Rechtslage noch der wesentliche Sachverhalt geändert hat und sich das neue Parteibegehren im Wesentlichen mit dem früheren deckt (VwGH 09.09.1999, 97/21/0913; 27.09.2000, 98/12/0057; 25.04.2002, 2000/07/0235). Einem zweiten Asylantrag, der sich auf einen vor Beendigung des Verfahrens über den ersten Asylantrag verwirklichten Sachverhalt stützt, steht die Rechtskraft des Vorbescheides bzw. -erkenntnisses entgegen (VwGH 10.06.1998, 96/20/0266). Es kann aber nur eine solche behauptete Änderung des Sachverhaltes die Behörde zu einer neuen Sachentscheidung – nach etwa notwendigen amtswegigen Ermittlungen – berechtigen und verpflichten, der für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen rechtlich Asylrelevanz zukäme; eine andere rechtliche Beurteilung des Antrages darf nicht von vornherein ausgeschlossen sein (vgl. etwa VwGH 04.11.2004, 2002/20/0391, mwN). Sache des vorliegenden Beschwerdeverfahrens im Sinne des § 28 Abs. 2 VwGVG ist somit zunächst die Frage, ob das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zu Recht den neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 68 Abs. 1 AVG zurückgewiesen hat, die Behörde also auf Grundlage des von ihr zu berücksichtigenden Sachverhalts zu Recht davon ausgegangen ist, dass im Vergleich zum rechtskräftig entschiedenen vorangegangenen Verfahren auf internationalen Schutz keine wesentliche Änderung der maßgeblichen Umstände eingetreten ist (vgl. VwGH 10.01.2020, Ra 2019/18/0026 mwN). Bei einer Überprüfung einer gemäß § 68 Abs. 1 AVG bescheidmäßig abgesprochenen Zurückweisung eines Asylantrages hat es lediglich darauf anzukommen, ob sich die Zurückweisung auf ein rechtskräftig abgeschlossenes Verfahren bei gleichbleibender Sach- und Rechtslage stützen durfte. Dabei hat die Prüfung der Zulässigkeit einer Durchbrechung der Rechtskraft auf Grund geänderten Sachverhalts nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ausschließlich anhand jener Gründe zu erfolgen, die von der Partei in erster Instanz zur Begründung ihres Begehrens auf neuerliche Entscheidung geltend gemacht worden sind. Derartige Gründe können im Rechtsmittelverfahren nicht neu geltend gemacht werden (s. zB VwSlg. 5642A; VwGH 23.05.1995, 94/04/0081; zur Frage der Änderung der Rechtslage während des anhängigen Berufungsverfahrens s. VwSlg. 12799 A). Allgemein bekannte Tatsachen sind dagegen jedenfalls auch von Amts wegen zu berücksichtigen (VwGH 29.06.2000, 99/01/0400; 07.06.2000, 99/01/0321). Dem geänderten Sachverhalt muss nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes Entscheidungsrelevanz zukommen (vgl. VwGH 15.12.1992, 91/08/0166; ebenso VwGH 16.12.1992, 92/12/0127; 23.11.1993, 91/04/0205; 26.04.1994, 93/08/0212; 30.01.1995, 94/10/0162). Die Verpflichtung der Behörde zu einer neuen Sachentscheidung wird nur durch eine solche Änderung des Sachverhalts bewirkt, die für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen den Schluss zulässt, dass nunmehr bei Bedachtnahme auf die damals als maßgebend erachteten Erwägungen eine andere Beurteilung jener Umstände, die seinerzeit den Grund für die Abweisung des Parteienbegehrens gebildet haben, nicht von vornherein als ausgeschlossen gelten kann (VwSlg. 7762 A; VwGH 29.11.1983, 83/07/0274; 21.02.1991, 90/09/0162; 10.06.1991, 89/10/0078; 04.08.1992, 88/12/0169; 18.03.1994, 94/12/0034; siehe auch VwSlg. 12.511 A, VwGH 05.05.1960, 1202/58; 03.12.1990, 90/19/0072). Dabei muss die neue Sachentscheidung – obgleich auch diese Möglichkeit besteht – nicht zu einem anderen von der seinerzeitigen Entscheidung abweichenden Ergebnis führen. Die behauptete Sachverhaltsänderung hat zumindest einen „glaubhaften Kern“ aufzuweisen, dem Asylrelevanz zukommt (VwGH 12.10.2016, Ra 2015/18/0221, mwN). Neues Sachverhaltsvorbringen in der Beschwerde gegen den erstinstanzlichen Bescheid nach § 68 AVG ist von der „Sache“ des Beschwerdeverfahrens vor dem Bundesverwaltungsgericht nicht umfasst und daher unbeachtlich (VwGH vom 24.06.2014, Ra 2014/19/0018, mwN). Als Vergleichsbescheid (Vergleichserkenntnis) ist der Bescheid (das Erkenntnis) heranzuziehen, mit dem zuletzt in der Sache entschieden wurde. Bei Vorliegen mehrerer Folgeanträge ist als Vergleichsbescheid (Vergleichserkenntnis) derjenige Bescheid heranzuziehen, mit welchem zuletzt in der Sache entschieden – und nicht etwa nur ein Folgeantrag wegen entschiedener Sache zurückgewiesen – wurde (vgl. VwGH, 15.11.2000, Zl. 2000/01/0184; 16.07.2003, 2000/01/0440). Wird die seinerzeitige Verfolgungsbehauptung aufrechterhalten und bezieht sich der Asylwerber auf sie, so liegt nicht ein wesentlich geänderter Sachverhalt vor, sondern es wird der Sachverhalt bekräftigt (bzw. sein „Fortbestehen und Weiterwirken“ behauptet; vgl. VwGH 20.03.2003, 99/20/0480), über den bereits rechtskräftig abgesprochen worden ist. Mit einem solchen Asylantrag wird daher im Ergebnis die erneute sachliche Behandlung einer bereits rechtskräftig entschiedenen Sache bezweckt (vgl. VwGH 07.06.2000, 99/01/0321). Ein Antrag auf internationalen Schutz ist nicht bloß auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, sondern hilfsweise – für den Fall der Nichtzuerkennung dieses Status – auch auf die Gewährung von subsidiärem Schutz gerichtet. Dies wirkt sich ebenso bei der Prüfung eines Folgeantrages nach dem Asylgesetz 2005 aus: Asylbehörden sind verpflichtet, Sachverhaltsänderungen nicht nur in Bezug auf den Asylstatus, sondern auch auf den subsidiären Schutzstatus zu prüfen (vgl. VfGH 29.06.2011, U 1533/10; VwGH 19.02.2009, 2008/01/0344 mwN).

Der Beschwerdeführer begründet seinen beschwerdegegenständlichen dritten Antrag auf die Gewährung von internationalem Schutz in Österreich mit Umständen, die er weder in seinem ersten noch zweiten, inhaltlich rechtskräftig entschiedenen Asylverfahren vorbrachte. Dieser Sachverhalt, dass die Tötung seiner Mutter im Mai 2020 und seines Vaters im September 2020 von Feinden seiner Familie dazu führe, dass auch er selbst als Angehöriger derselben Familie fürchte dasselbe Schicksal zu erleiden wie seine Eltern, lagen zumindest teilweise, nämlich hinsichtlich der Tötung der Mutter des Beschwerdeführers im Mai 2020 bereits vor Eintritt der Rechtskraft des das zweite Asylverfahren inhaltlich abschließende Erkenntnisses des BVwG vom 10.07.2020, Zl. W250 2214114-2/3E vor.

Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Beschluss vom 18.12.2019, Ra 2019/14/0006, folgende Frage der Auslegung von Unionsrecht dem EuGH, dort aktenkundig unter C-18/20-1, vorgelegt:

„1. Erfassen die in Art. 40 Abs. 2 und Abs. 3 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Neufassung), im Weiteren: Verfahrensrichtlinie, enthaltenen Wendungen ‚neue Elemente oder Erkenntnisse‘, die ‚zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind‘, auch solche Umstände, die bereits vor rechtskräftigem Abschluss des früheren Asylverfahrens vorhanden waren?

Falls Frage 1. bejaht wird:

2. Ist es in jenem Fall, in dem neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im früheren Verfahren ohne Verschulden des Fremden nicht geltend gemacht werden konnten, ausreichend, dass es einem Asylwerber ermöglicht wird, die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen früheren Verfahrens verlangen zu können?

3. Darf die Behörde, wenn den Asylwerber ein Verschulden daran trifft, dass er das Vorbringen zu den neu geltend gemachten Gründen nicht bereits im früheren Asylverfahren erstattet hat, die inhaltliche Prüfung eines Folgeantrages infolge einer nationalen Norm, die einen im Verwaltungsverfahren allgemein geltenden Grundsatz festlegt, ablehnen, obwohl der Mitgliedstaat mangels Erlassung von Sondernormen die Vorschriften des Art. 40 Abs. 2 und Abs. 3 Verfahrensrichtlinie nicht ordnungsgemäß umgesetzt und infolge dessen auch nicht ausdrücklich von der in Art. 40 Abs. 4 Verfahrensrichtlinie eingeräumten Möglichkeit, eine Ausnahme von der inhaltlichen Prüfung des Folgeantrages vorsehen zu dürfen, Gebrauch gemacht hat?“

Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Zurückweisung des nunmehrigen Antrags auf internationalen Schutz des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten sowie der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten wegen entschiedener Sache ist die Beantwortung der vom Verwaltungsgerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union vorgelegten Fragen relevant.

3.3.2. § 38 AVG lautet:

„§ 38. Sofern die Gesetze nicht anderes bestimmen, ist die Behörde berechtigt, im Ermittlungsverfahren auftauchende Vorfragen, die als Hauptfragen von anderen Verwaltungsbehörden oder von den Gerichten zu entscheiden wären, nach der über die maßgebenden Verhältnisse gewonnenen eigenen Anschauung zu beurteilen und diese Beurteilung ihrem Bescheid zugrunde zu legen. Sie kann aber auch das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Vorfrage aussetzen, wenn die Vorfrage schon den Gegenstand eines anhängigen Verfahrens bei der zuständigen Verwaltungsbehörde bzw. beim zuständigen Gericht bildet oder ein solches Verfahren gleichzeitig anhängig gemacht wird.“

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind Verwaltungsbehörden als auch der Gerichtshof selbst berechtigt, ein Verfahren gemäß § 38 letzter Satz AVG auszusetzen, wenn die betreffende Frage auf Grund eines Vorabentscheidungsersuchens – etwa des VwGH – in einem gleich gelagerten Fall bereits beim EuGH anhängig ist [vgl. Hengstschläger/Leeb, AVG § 38 Rz. 18 (Stand 01.07.2005, rdb.at) sowie die dort zitierte Rechtsprechung]. Gleiches gilt gemäß § 17 VwGVG für die Verwaltungsgerichte (s. VwGH 20.05.2015, Ra 2015/10/0023).

Die im zuvor zitierten, vom Verwaltungsgerichtshof im genannten Vorabentscheidungsersuchen gestellten Fragen sind für die Beurteilung der im gegenständlichen Beschwerdeverfahren als Vorfrage zu lösende Rechtsfrage, wie die vom Beschwerdeführer nunmehr im dritten Asylverfahren erstmals vorgebrachten, aber zum Teil bereits vor rechtskräftigem Abschluss des zweiten Asylverfahrens vorhandenen Umstände gemäß § 68 Abs 1 AVG im Zusammenhang mit Art. 40 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Verfahrensrichtlinie-Neufassung) zu beurteilen sind präjudiziell.

Aus Gründen der Verfahrensökonomie ist es daher gemäß § 38 AVG zweckmäßig, das gegenständliche Beschwerdeverfahren bis zur Entscheidung des EUGH im oben dargestellten Vorabentscheidungsersuchen auszusetzen.

3.4. Zu Spruchpunkt C)

Gemäß § 25a Abs 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art 133 Abs 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG im vorliegenden Fall nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung. Zudem ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

aufschiebende Wirkung Aussetzung entschiedene Sache EuGH Folgeantrag glaubhafter Kern Vorabentscheidungsverfahren Vorfrage

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W174.2214114.3.00

Im RIS seit

07.10.2021

Zuletzt aktualisiert am

07.10.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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